ZWEI
November 1975
Die Übertragung der Londoner Show im Radio hat Mike Appel sicherheitshalber abgesagt – wer weiß, wie sich das Konzert angesichts der miesen Laune seines Schützlings entwickelt. Die Bänder laufen am 18. November im Hammersmith Odeon trotzdem mit: vom behutsam vorgetragenen Intro zu Thunder Road, mit dem Pianist Roy Bittan den Abend eröffnet, bis zum Schlussakkord von Quarter to Three, mit dem der Auftritt gut zwei Stunden später ausgelassen endet. Ein Filmteam ist ebenfalls dabei; auf 16 Millimeter wird das erste Konzert von Bruce Springsteen und der E Street Band außerhalb der Vereinigten Staaten festgehalten.
In letzter Zeit lässt Mike immer öfter Konzerte mitschneiden. Er denkt schon daran, was nach Born to Run kommen wird. Wie man den Schwung der Platte, die sich hervorragend verkauft, mitnehmen kann. Für den geschäftstüchtigen Manager ist die Antwort klar: Das nächste Album muss aus Liveaufnahmen bestehen. Ein Konzertalbum könnte schon zu Weihnachten fertig sein. So könnte Bruce gleich „nachlegen“ und die große Aufmerksamkeit nutzen, die Born to Run gebracht hat. Er könnte die Kasse füllen. Und sich damit Zeit verschaffen, um ohne Stress das nächste Studioalbum aufzunehmen. Bruce ist bei der Plattenfirma nicht nur verschuldet, sondern auch im Rückstand, was die Produktion seiner LPs angeht. Laut den Verträgen sollte sein viertes Album längst eingespielt sein.
Außerdem: Ist es nicht eine von Bruce’ großen Sorgen, dass die packende Atmosphäre der Konzerte auf den Platten nicht rüberkommt? Dass sich die Genialität der E Street Band in den sterilen Studios nicht so entfaltet wie vor Publikum?
Bei Columbia muss Mike seine Idee eines Livealbums nicht zweimal erklären: Kommerziell gesehen ist es im Moment weniger wichtig, was Bruce nachlegt, sondern hauptsächlich wann.
Bruce fühlt sich in die Enge getrieben. Er winkt ab. Ein Livealbum ist nichts für einen wie ihn, der gerade den Durchbruch geschafft hat. Es kommt zu knapp nach Born to Run, zu früh in seiner Karriere. Er steht noch am Anfang. Rasch rausgeschossene Livealben sind seiner Meinung nach etwas für alte Säcke, die nicht wissen, ob sie jemals wieder eine vernünftige Platte aufnehmen werden und noch schnell ihre Pension aufbessern wollen, solange sie noch jemand singen hören will.
Bruce ist in diesen Tagen verloren. Er ist überwältigt vom plötzlichen Erfolg, hauptsächlich aber beängstigt davon. Jahrelang hat er auf den Durchbruch hingearbeitet. Hat alles in Born to Run gesteckt, im Wissen, dass dies sein letzter Versuch für die große Karriere sein könnte. Zwei Fehlversuche darf man sich in der Musikindustrie leisten, aber spätestens das dritte Album muss sich verkaufen.
Jetzt, da es geklappt hat, weiß er nicht, wie er damit umgehen soll. Darauf, was passieren wird, wenn es gelingt, hat er sich nicht vorbereitet. Bruce war lange darauf fokussiert, den Gipfel zu erklimmen. Oben angekommen, merkt er, dass er Höhenangst hat.
Er hat Glück, dass er nicht allein auf Tour ist. Bruce sucht Halt, er braucht Freunde, Gespräche, Bestärkung. All das findet er bei der Band. Gitarrist Steve Van Zandt kennt er, seit er 18 ist. Stundenlang haben sie die Musik ihrer Idole gehört, nächtelang davon geträumt, selbst den Durchbruch zu schaffen. Mit Organist Danny Federici und Bassist Garry Tallent steht er seit Jahren gemeinsam in den verschiedensten Formationen auf der Bühne. Und an Saxofonist Clarence Clemons, einen großen, bulligen Schwarzen mit der Statur eines American-Football-Spielers, lehnt er sich nicht nur auf dem Plattencover von Born to Run an. Seine Freundin Karen schafft es, ihn abzulenken, wenn sie ihn begleitet. Doch über seine Ängste, über den inneren Druck spricht er auch mit ihr nur selten.
Bruce braucht in dieser Zeit, in der alles so schnell geht, Menschen, die ihm Vertrautheit vermitteln. Die ihm, so wie Steve, Danny und Clarence, zwischendurch auf die Schulter klopfen und sagen: „Hey, genieß es! Keiner weiß, wie lange es anhält – aber wir wissen zu gut, wie hart wir dafür gearbeitet haben.“
Weniger hilfreich sind jene Menschen, die ihn unter Druck setzen. Die an ihm zerren. Die ihm die Luft nehmen. Die an das Mehr denken, das jetzt möglich scheint: Mehr Platten. Mehr Publikum. Vor allem: Mehr Geld.
Bruce’ Bauchgefühl ist, die Bremse zu ziehen. Die Notbremse, wenn es sein muss. Erst mal schauen, wie sich die Dinge entwickeln. Sich ganz sicher sein, bevor man sich zu etwas verpflichtet. Abwarten, wie sich dieser Ruhm in ein paar Monaten anfühlt und welche Lieder daraus werden. Die Livemitschnitte, die Mike ihm vorspielen will, hört er sich nicht einmal an. So hört er auch nicht, dass das Publikum im Londoner Hammersmith Odeon deutlich positiver reagiert hat, als er das auf der Bühne empfunden hat.
Die Entscheidung über das Livealbum ist am Ende recht simpel: Bruce will nicht, also gibt es keines. Doch die Meinungsverschiedenheit offenbart den tiefen Graben, der sich zwischen Bruce und Mike auftut: Sie haben immer ein klares gemeinsames Ziel vor Augen gehabt – bis jetzt. Jahrelang haben sie alles investiert – Zeit, Geld, Ideen, Energie –, damit Bruce den Durchbruch schafft. Was danach kommen sollte, darüber haben sie nie gesprochen. Für den Weg nach oben waren sie ein gutes Team. Ob es jetzt, beinahe an der Spitze, noch einen gemeinsamen Weg gibt, muss sich erst zeigen. Denn Mike Appel kann vor allem eines: Türen eintreten. Und die stehen inzwischen für Bruce ohnehin alle offen.
November 1971
Bruce Springsteen und Mike Appel lernen einander im Herbst 1971 in New York kennen. Von Beginn an ist offensichtlich, dass sie einander perfekt ergänzen.
Bruce, Anfang 20, hat großes Talent und viele Lieder in sich. Aber er hat keine Ahnung vom Musikbusiness.
Mike, Ende 20, weiß, wie die Plattenindustrie funktioniert. Er hat große Pläne, eine gesunde Prise Größenwahn, um an sie zu glauben, und genug Selbstbewusstsein, um sie ordentlich zu verkaufen. Was ihm fehlt, ist ein Musiker mit Talent, das sich zu Hits machen und vermarkten lässt.
Beiden gemeinsam ist der unbedingte Wille, etwas aus ihrem Leben zu machen. Mit vollem Einsatz, ganz oder gar nicht; aber lieber ganz.
Mike ist schon ein paar Jahre in der Branche tätig. Er hat es selbst als Musiker versucht, jedoch mit mäßigem Erfolg: Mit seiner Band The Balloon Farm schafft er es in den späten 1960er-Jahren ein einziges Mal in die Top 40, bevor die Plattenfirma sie fallen lässt, ehe sie noch ihr Debütalbum fertigstellen können. Danach hat er in einer Art Hitfabrik angeheuert. Er schreibt jetzt Werbe-Jingles – unter anderem für Kaugummi, Taschentücher und Limonade – sowie Songs, die von mehr oder weniger bekannten Künstlern mehr oder weniger erfolgreich in die Welt getragen werden. Es ist ein solider Job mit regelmäßigem Einkommen, 250 Dollar pro Woche. Aber eben auch ohne aufregende Aufstiegschancen, und ziemlich sicher ohne die Perspektive auf den Riesenerfolg.
Jetzt, im Herbst 1971, ist Mike auf der Suche nach Talent. Ewig Werbemelodien zu komponieren ist keine erstrebenswerte Aussicht für ihn. Er will die große Karriere – und das große Geld. Um das zu erreichen, braucht er einen Künstler, für den er Songs schreiben, Platten produzieren und den er zum Star machen kann.
Für eine erfolglose Band, die Mike produziert, arbeitet der Tontechniker Carl West, von allen Tinker genannt. Eines Tages ruft Tinker Mike an: Er habe gehört, dass er auf der Suche nach Talent sei. Stimme das? Er kenne da jemanden, der ziemlich vielversprechend sei. Ein junger Mann namens Bruce Springsteen.
Tinker kennt ihn gut. Eine Zeit lang war er Mentor und Manager von Bruce und seiner Band: Sie arbeiteten und probten und schliefen sogar in Tinkers Surfboard-Fabrik in New Jersey. Gemeinsam fuhren sie zu den Auftritten die Küste rauf und runter. Es lief ganz gut, bis der Punkt kam, an dem Bruce es ernsthaft versuchen wollte, seine Chance suchte, aber Tinker nicht mehr so recht daran glaubte.
Er reicht ihn nun weiter. An Mike Appel.
Am 4. November 1971 fährt Bruce mit Tinker nach New York und spielt Mike in dessen Büro zwei Songs auf dem Klavier vor. Das Treffen läuft anders als erwartet: Es funkt nicht auf Anhieb. Mike ist nicht überzeugt. Bruce soll wiederkommen, wenn er besseres Material habe. Bruce ist es zwar nicht gewohnt, dass seine Songs nicht gut aufgenommen werden, doch er lässt sich nicht entmutigen. Ein paar Monate später kommt er wieder. Diesmal haben die Songs Biss. Und Mike beißt an.
Ziemlich schnell wird den beiden klar, dass der jeweils andere genau das hat, was ihm fehlt. Mike erkennt Bruce’ Talent. Er ist sogar sofort bereit, dafür seinen Job in der Hitfabrik und sein...