2 Opfer und Täter
Die Frage des Bösen kann man auf zwei ganz verschiedenen Wegen angehen. Einer besteht darin, dass man das Bild des Bösen versteht: Man beschäftigt sich mit der Vorstellung und Darstellung des Bösen – wie es sich also im Verständnis der Menschen präsentiert. Oder aber man beschreitet den zweiten Weg und klärt die Ursachen von Verhaltensweisen, die als böse eingestuft werden.
Da die Realität des Bösen manchmal durch das Bild geformt und verändert wird, ist es sinnvoll, zunächst das Bild zu betrachten. In diesem und im nächsten Kapitel wird der Versuch unternommen, das Bild von der Realität zu unterscheiden und ein grundlegendes Verständnis für das Bild aufzubauen. Zunächst geht es um die unterschiedlichen Perspektiven von Opfern und Tätern. Wenn wir den Täter verstehen wollen, ist es notwendig, die Grenzen der Perspektive des Opfers zu erkennen und uns außerhalb dieser Grenzen zu stellen. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil die herkömmliche Betrachtungsweise für das Böse von der Perspektive des Opfers ausgeht. In Kapitel 3 wird dann das Bild des Bösen erörtert, um dann in Kapitel 4 erstmals die Ursachen des Bösen betrachten.
Wie ich im ersten Kapitel bereits erläutert habe, existiert das Böse vorwiegend im Auge des Betrachters, und zwar insbesondere im Auge des Opfers. Die meisten Menschen halten ihre eigenen Taten nicht für böse, selbst wenn sie von anderen als äußerst böse eingestuft werden. Aber wenn niemand absichtlich etwas Böses tut, warum geschehen dann so viele böse Dinge? In diesem Kapitel wird es darum gehen, wie Menschen, die Böses tun, darüber denken, und welche Empfindungen sie dabei haben. Wenn sie ihr Tun nicht als böse betrachten, wofür halten sie es dann?
Mörder in Schwarz
Das zwingendste und nachhaltigste Bild des Bösen im 20. Jahrhundert bieten die Nationalsozialisten. Sie traten als Prototyp des Bösen an die Stelle des rothäutigen Satans mit seinem buschigen Schwanz. Schwarz gekleidete Männer mit Lederstiefeln und einem Totenkopfabzeichen, die systematisch Millionen unschuldiger, unbewaffneter Bürger ermorden: Kann es etwas Böseres geben? Entsprechend kann man die Frage stellen: Betrachteten sie das, was sie taten, selbst als böse?
Die Antwort scheint nein zu sein. Vielleicht sollte es ein eingeschränktes Nein sein, denn viele von ihnen hatten ernsthafte Zweifel und Bedenken, und manche wandten sich nachdrücklich gegen die Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes und bezeichneten sie als moralisch falsch. Aber die Menschen, die das Böse sahen oder vermuteten, waren nicht diejenigen, die am stärksten involviert waren; viele von ihnen zogen sich am Ende sogar von der aktiven Beteiligung an den Morden zurück. Diejenigen, die die schlimmsten Taten verübten, hielten ihr Handeln nicht für böse; im besten Fall hatten sie mit Zweifeln und widersprüchlichen Pflichtgefühlen zu kämpfen. Wie also sahen die Nationalsozialisten selbst ihre Aktionen?
Nationalsozialistische Idealisten
Erstens scheinen die Nationalsozialisten geglaubt zu haben, dass sie die Welt besser machen. Sie waren Idealisten und Utopisten. Es ist zwar paradox zu denken, dass viele, die besonders böse Taten begingen, von sich selbst dachten, dass sie Gutes tun. Und doch war es so.
Die Nationalsozialisten ließen sich von einer starken utopischen Vision leiten: Sie wollten die vollkommene Gesellschaft aufbauen. Um ein überbevölkertes Land in eine ländliche Demokratie im Sinne Jeffersons zu verwandeln (so ihre spezielle Vorstellung von der vollkommenen Gesellschaft), brauchten sie mehr Land. Geeignete Gebiete sahen sie im Osten. Aber leider (in ihren Augen) war dieses Land bereits von den Polen besiedelt. Diese Menschen standen ihnen im Weg, und daraus ergab sich logischerweise der Plan, sie irgendwie wegzuschaffen. Konzentrationslager waren ursprünglich nicht dafür gedacht, Menschen umzubringen, sondern sie umzusiedeln. Die systematischen Morde begannen erst, nachdem sich die Umsiedlungen als nicht praktikabel erwiesen hatten.1 Ursprünglich sah der Plan nur vor, bestimmte Menschen aus dem Weg zu schaffen, um so den Beginn der vollkommenen Gesellschaft zu ermöglichen.
Die Nationalsozialisten dachten sogar, in ihren Bemühungen, auf Grundlage der modernen Wissenschaft eine ideale Gesellschaft zu schaffen, hinter anderen Nationen zurückzustehen.2 So verwiesen sie etwa auf die Vereinigten Staaten, wo man die Zwangssterilisation praktizierte und über Euthanasie diskutierte, und die Indianer, die begehrenswertes Land besiedelten, in Reservate abschob. Es war aber nicht so, dass sie gesagt hätten: «Wenn die Amerikaner so etwas machen, dann dürfen wir das auch, selbst wenn es schlecht zu sein scheint.» Sie benutzten das amerikanische Beispiel vielmehr dazu, um widerwillige Deutsche davon zu überzeugen, dass ihr Land im großen Aufmarsch des historischen und wissenschaftlichen Fortschritts hinterherhinkte, in etwa nach dem Motto: «Seht mal, die Amerikaner haben moderne Ideen angewandt, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Wenn wir das nicht auch machen, werden wir abgehängt. Deshalb müssen wir uns an die vorderste Front des historischen und wissenschaftlichen Fortschritts setzen. Wir müssen es genauso gut wie die Amerikaner machen oder sogar noch besser.» Höchstwahrscheinlich und nicht ganz ohne Grund3 glaubten die Deutschen, sie seien klüger als die Amerikaner und könnten diesen Vorteil deshalb nutzen, um sie zu übertreffen. Sie wollten die vollkommene Gesellschaft aufbauen, aber die Amerikaner waren ihnen darin offenbar voraus.
Viele Deutsche mögen Ressentiments und Antipathien gegen die Juden empfunden haben, aber das waren nicht die wichtigsten Faktoren. Wie Zygmunt Bauman in seinem wichtigen Buch über den Holocaust deutlich gemacht hat, hätten die Nationalsozialisten Jahrhunderte gebraucht, um die Vernichtung der Juden umzusetzen, wenn sie sich darauf beschränkt hätten, normale deutsche Bürger so wütend auf die Juden zu machen, dass sie sie töteten.4 Verbrechen aus Leidenschaft anzustacheln, ist eine ineffiziente und unzuverlässige Methode für einen Völkermord. Der Genozid in Ruanda während der 1990er Jahre, der das System der Nationalsozialisten in seiner Effizienz des Tötens in mehrfacher Hinsicht übertraf, scheint in einem bewussten Schweigen der Emotionen stattgefunden zu haben.5 Leidenschaft stört offenbar nur.
Nach Baumans Ansicht war die Mentalität, die den Holocaust lenkte, vielmehr die eines Gärtners. Dieser züchtet Blumen und andere Pflanzen nach einem bestimmten Plan und will so einen schönen, angenehmen Ort schaffen. Damit diese Vision verwirklicht wird, muss das Unkraut entfernt werden. Manche Gärtner hassen das Unkraut vielleicht, andere sehen darin nur eine Unannehmlichkeit. Am Ende jedoch spielt es keine Rolle, welche Gefühle der Gärtner hat: Beide Gruppen von Gärtnern vernichten letztlich das Unkraut. Von Bedeutung ist nur, dass der geplante Garten nur dann vollkommen sein wird, wenn man das Unkraut loswird. Die Visionen der Nationalsozialisten erforderten die Beseitigung von Juden, Slawen, Zigeunern und anderen, die im Weg standen und die angestrebte Vollkommenheit der Gesellschaft vermeintlich beeinträchtigten. All diese Menschen zu töten, wie das Unkraut im Garten auszumerzen, reduzierte sich unter diesem Gesichtspunkt auf eine recht unangenehme Aufgabe, die man aber erledigen musste, um das geplante herrliche Ergebnis zu erreichen – ein Ergebnis, das für alle gut wäre. Oder zumindest für alle, die den Nationalsozialisten wichtig waren.
Früheres Unrecht korrigieren
Viele Nationalsozialisten glaubten, dass sie mit ihren Taten einen Ausgleich für früheres Unrecht und Ungerechtigkeiten schaffen würden: Sie waren schlecht behandelt worden, und jetzt brachten sie die Sache in Ordnung. Bei vielen herrschte die Überzeugung, ihr Land habe eine Führungsposition in Europa verdient, stattdessen habe man es respektlos behandelt; sie argwöhnten, die anderen Mächte hätten sich gegen Deutschland zusammengeschlossen und es hinters Licht geführt, damit es den Ersten Weltkrieg verlor, und dann habe man es mit dem empörenden Versailler Vertrag und anderen Nachkriegsabkommen vollständig ausgebeutet, gedemütigt, kastriert und geplündert. Zu sehen, wie ihr einstmals so stolzes, mächtiges Land militärisch, wirtschaftlich und politisch zu einem hoffnungslosen Fall geworden war, widersprach dem gesunden Menschenverstand der Deutschen. Die Juden, so glaubten viele von ihnen, hatten die Kriegsanstrengungen untergraben und waren dem Land in den Rücken gefallen, und die feindlichen alliierten Mächte, die auf dem Schlachtfeld nicht gewinnen konnten, hatten Deutschland betrogen und dann ausgebeutet.
Objektiv betrachtet stecken in diesen Klagen ein paar Körnchen Wahrheit. Der Versailler Vertrag war unfair, man hatte die Deutschen darin nicht gut behandelt. Doch für den tatsächlichen Lauf der Ereignisse war vor allem die Wahrnehmung der Deutschen das Entscheidende. Angesichts der Realitäten auf dem Schlachtfeld und der schmeichelhaften Verzerrungen der offiziellen Propaganda hatten die Deutschen geglaubt, sie hätten sich im Ersten Weltkrieg hervorragend geschlagen. Sie hatten den Krieg im Osten gewonnen und die Russen (die sich zu für Deutschland höchst günstigen Bedingungen ergeben hatten) entscheidend geschlagen. Im Westen hatten sie ein Patt erreicht, ihre Soldaten und Generäle standen auf Augenhöhe mit dem Rest der zivilisierten Welt. Es war fast, als hätte sich das Wunder Friedrichs des Großen wiederholt.6 Unvermittelt mussten die Deutschen dann erfahren, dass sie den Großen Krieg verloren...