1 Was im Umgang mit Kindern zählt
Lehrer*innen denken bei ihrer täglichen Arbeit nicht über Grundlagenforschung nach. Und selbst wenn sie es täten, könnten sie daraus nicht einfach Antworten auf tägliche Herausforderungen ableiten. Die pädagogische Praxis hat ihre eigene Geschichte, ihre eigene Tradition und ihre Anflüge von Trägheit, die in Kombination mit der Persönlichkeit und den Werten des einzelnen Lehrers, der einzelnen Lehrerin das professionelle Verhalten beeinflussen.
Seit der Nachkriegszeit werden laufend neue Anforderungen an pädagogisches Denken und Handeln gestellt. Dies betrifft insbesondere folgende Bereiche:
Demokratische und humanistische Werte
Lernpsychologie
Pädagogische Psychologie
Kinder- und Jugendkultur
Moderne Säuglings- und Bindungsforschung
Wissen um systemische Zusammenhänge.
Diese Faktoren stellen sinnvolle, aber auch herausfordernde Anforderungen an Schule und an das Unterrichten. Sie stellen auch die herkömmliche Erwachsenen-Kind-Beziehung infrage.
Kinder ändern ihr Verhalten schneller als Erwachsene. Das war schon immer so, aber die heutige Zeit ist vielleicht stärker durch einen Zuwachs an Wissen und gesellschaftlichen Veränderungen geprägt als jede andere historische Ära.
Es ist lange her, dass die Schule die Macht hatte, familiäre Werte zu bestimmen. Im Hinblick auf die Beziehungsqualität zwischen Erwachsenen und Kindern haben Familien eine Vorreiterrolle, während Schulen meist eine defensive Position einnehmen. Kinder sind heute nicht anders als in früheren Generationen. Der Unterschied liegt in unserem Wissen über die Natur von Kindern und damit unser aller Natur – unabhängig vom Alter.
Aus unserer Perspektive gibt es nur wenige erziehungsrelevante Faktoren, auf die wir uns derzeit konzentrieren müssen. Die meisten Aspekte, die von den Medien und in der Politik rege diskutiert werden, sind nicht viel mehr als heiße Luft.
Entscheidend sind folgende Faktoren:
Pädagogik baut nicht mehr auf Gehorsam auf, aber es gibt eine große Unsicherheit bezüglich erfolgreicher Alternativen.
Kinder protestieren offen dagegen, als Objekt gesehen zu werden.
Ein erhöhtes Wohlbefinden und ein höheres Entwicklungspotenzial in Subjekt-Subjekt-Beziehungen.
Die nachlassende Tendenz, Kindern die Schuld an schwierigen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern zu geben.
Der Identitätsverlust der Schule als Inhaberin des Wissensmonopols.
Die Pluralität unserer Gesellschaft.1
Ein gravierender Unterschied zu früheren Generationen ist, dass Kinder mit einem Selbstverständnis durch die Welt gehen, das ihnen früher fremd war. Sie drücken ihre Meinungen und Gefühle aus. Sie stellen Fragen, argumentieren und erwarten, dass man sie ernst nimmt. Was wir aber vor allem erreicht haben, ist, dass Kinder weitgehend ohne Angst vor Erwachsenen aufwachsen; allerdings häufig auch ohne Orientierungshilfe und ohne emotionale Verbundenheit mit Erwachsenen.
Gleichzeitig herrscht auf Erwachsenenebene viel Ratlosigkeit. Ein Versuch, damit umzugehen, sind das Kategorisieren und das Diagnostizieren von Kindern. Man beschäftigt sich intensiv mit der Frage, warum es mit Kindern so schwierig ist (und es ist häufig schwierig!), sucht aber selten herauszufinden, wie eine fruchtbare und befriedigende Zusammenarbeit mit genau diesen Kindern gelingen kann.
Auch Kinder sind verunsichert und verwirrt, wenn Erwachsene, die die Führung haben, nicht genau wissen, was sie mit ihrer Führungsrolle anfangen sollen, und sich überwiegend reaktiv verhalten. Viele dieser täglichen Konflikte werden nach wie vor als Machtkämpfe gesehen – eine Interpretation, die zu der Idee führt, dass Kinder zum Beispiel tyrannisieren oder die Sieger des Machtkampfes seien (weil »alles nach ihrer Pfeife tanzt«). In Wahrheit verlieren beide Seiten, wenn die Beziehung destruktiv ist, wie Christina Rucinski und ihre Kollegen sehr eindrucksvoll an über 500 Schülern und Schülerinnen der 3.–5. Klassenstufe dargestellt haben.2
Insgesamt erleben wir in der Schule häufig eine defensive Haltung, wenn es um die Lösung aktueller Probleme geht. Restriktionen, Regeln, Anti-Kampagnen (Kampagnen gegen Mobbing, gegen Essstörungen …) und weitere Methoden, die das Verhalten von Kindern steuern sollen, sind Versuche, die Dinge zum Besseren zu verändern.
Kinder und ihr Verhalten zu verändern ist jedoch so ziemlich der einzige Weg, der garantiert nicht funktioniert.
Wir kennen viele Situationen, in denen das Verhalten von Kindern (und Erwachsenen) destruktiv, selbstzerstörerisch und sozial absolut nicht annehmbar ist. Wir wissen, dass es viele Situationen gibt, die für alle sehr schädlich sind und denen man ein Ende setzen muss. Aber wir sind sehr überzeugt, dass Regeln, Verbote und Strafen mit dem Ziel der Verhaltenssteuerung kein wirksamer und vor allem kein nachhaltig sinnvoller Weg sind. Alle diese Ansätze machen Kinder zu Objekten der Manipulation und Machtausübung von Erwachsenen. Außerdem sind sie defensive Strategien, also Gegenreaktionen auf das Verhalten der Kinder. In keiner Beziehung erreicht man mit defensiven Strategien konstruktive Ergebnisse.
Wenn Erwachsene in der Defensive sind …
... verlieren sie den Zugang zu den eigenen Führungsqualitäten.
... verlieren sie den Überblick/Weitblick für die Situation.
... reduziert sich die Interaktion auf einen zermürbenden Machtkampf.
... werden Kinder unsicher und verlieren das Vertrauen in die Führungsqualitäten der Erwachsenen.
... verlieren sowohl Kinder als auch Erwachsene den Glauben an sich selbst.
Im pädagogischen Alltag sind die jeweiligen Lehrer*innen häufig auf sich allein gestellt; mit einer defensiven Haltung und Ratlosigkeit versuchen sie, einen Umgang zu finden. Er oder sie soll zeitgleich didaktische und fachliche Aspekte berücksichtigen, während neue strukturelle Anforderungen gestellt werden (z. B. Teamarbeit). Aber: Die Individualisierung eines kollektiven Problems ist nie hilfreich, weil sie den einzelnen Lehrer, die einzelne Lehrerin als »unfähig«, »schwierig« oder »nicht belastbar« hinstellt. Doch es ist auch eine Realität, dass der Einzelne einen neuen Wert und persönliche Umgangsformen damit ein neues Gewicht bekommen haben. Jeder Einzelne ist gefordert, seine persönliche Autorität aufzubauen.
BIRTHE
Birthe, eine sehr erfahrene und leidenschaftliche Dänischlehrerin, unterrichtet seit Langem wieder einmal eine 1. Klasse. Sie weiß, dass sie von einer 1. Klasse nicht das gleiche Lerntempo erwarten kann, wie sie es von den höheren Klassen gewohnt ist.
Nach den Winterferien wird ihr klar, dass die Kinder das Ziel nicht erreichen, das sie sich gesteckt hat. Sie gibt sich im Unterricht viel Mühe mit der Binnendifferenzierung; doch das hilft nur wenig. Für sie ist ihr beruflicher Wert untrennbar damit verbunden, dass die Kinder etwas lernen. Aus diesem Grund beginnt sie allmählich, an ihrem eigenen Wert zu zweifeln. Das führt dazu, dass sie so reagiert wie wir alle, wenn wir uns wertlos fühlen: Entweder ziehen wir uns frustriert in uns selbst zurück, werden selbstkritisch, depressiv und verlieren an Vitalität oder wir bringen unsere Verzweiflung in Form von Verärgerung und Aggression nach außen.
Birthe tut von beidem etwas. Sie überlegt, ob sie vielleicht zu alt für Erstklässler ...