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E-Book

Verzockte Zukunft

Wie wir das Potenzial der jungen Generation verspielen

AutorGerald Lembke
VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783407865755
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Wenn Gerald Lembke mit Schülern und Studierenden spricht, überkommt ihn immer öfter ein mulmiges Gefühl. Sie zeigen sich desinteressiert, antriebslos und überfordert. Die Ursachen für ihr Null-Bock-Verhalten sieht der Hochschulprofessor im wachsenden Druck von außen: Junge Menschen werden instrumentalisiert für wirtschaftliche Interessen, sind ein Spielball der Bildungspolitik und ihrer Reformen. Die Sorge vieler Eltern um das Wohlergehen ihrer Kinder verstärkt die Überforderung und Abwehrhaltung. Das Ergebnis ist Mittelmaß. Was dieses Land stattdessen braucht, sind junge Menschen, die sich angstfrei entfalten können, die querdenken und neue Lösungen finden. Denn ohne wache, kreative und mutige Köpfe werden der gesellschaftliche Zusammenhalt und unser Wohlstand erodieren. Gerald Lembke bietet Handlungshilfen, wie wir entgegensteuern können, in den Schulen und Universitäten, zu Hause und in der Politik. »Die jungen Leute haben ein ungeheures Potenzial. Dass sie es nicht ausschöpfen können, hat sehr viel damit zu tun, dass wir gesellschaftlich so viel Angst schüren und Druck aufbauen. Wir Älteren müssen ihnen Mut machen, den Hunger nach dem Leben zu fordern, anstatt sie abzufüttern, um unser schlechtes Gewissen zu befrieden. Dazu müssen wir autoritäre Strukturen abbauen und so die Weichen dafür stellen, dass die nächste Generation ihre Fähigkeiten entfalten kann, um unsere Gesellschaft voranzubringen. Wir sollten ihnen Lust auf die Zukunft machen statt Angst davor. Denn Angst verändert die Welt nie zum Guten - sie schwächt vielmehr die, die sie gestalten und besser machen sollen.« Gerald Lembke

Gerald Lembke ist Professor für Betriebswirtschaftslehre, Medienmanagement und Kommunikation in Mannheim. Als Redner auf Großveranstaltungen begeistert er sein Publikum. Der studierte Wirtschaftspädagoge und promovierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler kennt Wirtschaft und Uni seit vielen Jahren von innen und engagiert sich weltweit für eine humane Bildung. Er lebt mit seiner Familie in Weinheim an der Bergstraße. www.gerald-lembke.de

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Leseprobe

1

Wo drückt der Schuh?


Das Deutschland des Jahres 2019 steht objektiv betrachtet glänzend da: Wir sind Exportweltmeister und haben annähernd Vollbeschäftigung und Preisstabilität, die individuelle Zufriedenheit der Bürger ist hoch, es herrscht Frieden und ein im Weltmaßstab fast unerreichter Wohlstand. Wir sind eine Demokratie und ein gut geführtes und organisiertes Land, eingebunden in europäische Strukturen. Es ist kein Zufall, dass so viele Migranten Deutschland als ihr Traumland angeben.

Und doch ist Deutschland ein verunsichertes Land. Denn ebenso wie an der Börse wird auch bei der Grundstimmung einer Nation nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft gehandelt. Und diese Zukunft besteht für viele vor allem aus bangen Fragen – zumal wir Deutschen eher zu bangem Pessimismus als zu zukunftsfrohem Optimismus neigen. Die Vielfalt der Welt und die Offenheit der Zukunft empfinden viele als Bedrohung – und nicht mehr, wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Chance. Wird die Weltwirtschaft weiterhin so laufen, wie es unsere Exportwirtschaft braucht? Wie werden der Klimawandel und die Digitalisierung das Leben jedes Einzelnen verändern? Wird die Europäische Union zerbrechen? Wird der über 70 Jahre währende Frieden in Europa halten? Besteht unsere – teilweise offen verachtete – Demokratie die Herausforderungen der Zukunft? Werden wir die soziale Spaltung in Gewinner und Verlierer überwinden? Wie lange ist eine wachstumsorientierte, auf das Auspressen der natürlichen und menschlichen Ressourcen angewiesene Wirtschaftsordnung durchzuhalten? Drohen wir im Verwalten unseres Wohlstands und unseres Erbes zu erstarren? Und wie wird der demografische Wandel sich auf unsere Wirtschaft und unsere Sozialsysteme auswirken? Ist die Zukunft bei unseren Kindern in guten Händen?

Eine »kollektive Bequemlichkeitsverblödung« werde uns »früher oder später auf die Füße fallen«, hat der Politologe Thomas Kliche 2018 prophezeit. Er bezog sich darauf, dass »die Leute lieber dreimal im Jahr Urlaub machen oder Dschungelcamp schauen, als sich auch nur mit den einfachsten Grundlagen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu beschäftigen.«1

Auch wenn man diese drastische Wortwahl nicht teilt – über eines immerhin herrscht Einigkeit: Für unsere Zukunft brauchen wir junge Menschen, die viel wissen. Ein rohstoffarmes Hochlohnland wie Deutschland muss auf Hochtechnologie und permanente Innovationen setzen, um seinen Rang nicht zu verlieren. Darauf konzentrieren sich die Anstrengungen, die unter dem Begriff »Bildungsrepublik Deutschland« zusammengefasst werden – in Universitäten und Hochschulen, in der Schule und mehr und mehr auch schon im Kindergarten.

Aber ist der Begriff »Bildungsrepublik« überhaupt angemessen? Bildung bedeutet ja viel mehr als das Anhäufen von Wissen – sie hat mit dem Herausbilden einer Persönlichkeit zu tun, die das erworbene Wissen eigenständig und klug anwenden kann. Bildung ist letztlich das Ergebnis von Erziehung und nicht von Paukerei. Leider wird die Erziehungsaufgabe seit einigen Jahrzehnten in unserer Gesellschaft herumgereicht wie eine heiße Kartoffel. Ursprünglich war sie Aufgabe der Eltern. Schon seit vielen Jahren jedoch sehen Lehrer sich damit konfrontiert, dass die Schule elementare Erziehungsaufgaben übernehmen muss, um die Schüler überhaupt erst unterrichtsfähig zu machen. Auch Schulen sind an dieser Aufgabe gescheitert, müssen aber des gesellschaftlich vorgegebenen Bildungsziels wegen dennoch »Zeugnisse der Hochschulreife« für recht unreife Jugendliche ausstellen. Die Erziehungsaufgabe ist also mittlerweile in die Unis weitergewandert – diese persönliche Erfahrung als Hochschulprofessor bildet einen Kern dieses Buchs.

Und da auch die Hochschulen unter dem Druck stehen, niemanden wegen fehlender sozialer Kompetenzen durchfallen zu lassen, stehen inzwischen die Betriebe vor der Aufgabe, mit Berufsanfängern fertigzuwerden, denen es teilweise an elementaren Fähigkeiten fehlt, wie man sie durch eine echte Erziehung erwirbt. Selbstbewusste und kreative junge Leute, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und Führungspositionen auszufüllen, sind absolute Mangelware. Der Verantwortungs- und Führungsnachwuchs ist oft vollständig überfordert. Das wird noch verstärkt durch das dynamische Veränderungstempo der Wirtschaft, das mit Stichworten wie »Industrie 4.0« und »globale Konkurrenz« zu tun hat. Die Firmen müssen sich mit der ungewohnten Aufgabe befassen, ihre künftigen Führungskräfte erst einmal an die Hand zu nehmen und behutsam zur Selbstständigkeit des Denkens und Handelns zu führen.

Unsere junge Generation ist nicht geprägt von einem rebellischen Geist und von Lust auf Veränderung, sondern von Anpassung und Fatalismus. »Ist eben so«, heißt die schulterzuckende Reaktion auf betriebliche und gesellschaftliche Missstände. Wie der Soziologe Thomas Druyen 2018 gezeigt hat, gehören die Deutschen zu den Anpassungs- und Reaktionsweltmeistern: »Ganz offenbar gelingt es unserer Bevölkerung in weit überwiegendem Maße, mit leichten und schwereren Herausforderungen im Moment ihres Eintretens zurechtzukommen, sich anzupassen, sie zu adaptieren und zu bewältigen.« Und er fügt fast schon sarkastisch hinzu: »Da müsste es doch auch möglich sein, nicht erst bis zur Bedrohung, Krise oder Katastrophe zu warten, sondern früher, präventiver und weitsichtiger tätig zu werden.«2 Aber revolutionäre Innovationen liegen den Deutschen nicht so wie anderen Nationen.

Dass Deutschland nur als Wissensgesellschaft oder besser: als echte »Bildungsrepublik« eine Zukunft hat, wird hier nicht infrage gestellt. Aber dass das auf Druck basierende System, mit dem Schulen und Unis momentan Wissen vermitteln, uns wirklich hilft – das muss massiv bezweifelt werden. Die aktuellen Erfahrungen von Eltern, Lehrern und Dozenten, aber auch von Ärzten und Therapeuten sprechen jedenfalls ganz klar dagegen. Dafür gibt es zu wenig glückliche und zuversichtliche junge Menschen, die Lust auf Zukunft und Bock auf gesellschaftliches Engagement haben. Stattdessen sind viele politische und wirtschaftliche Bemühungen darauf ausgerichtet, die Menschen in den herrschenden Konformismus zu zwingen, um den Wohlstands- und Sozialstaat mit allen verfügbaren Mitteln aufrechtzuerhalten. Das Sicherheitsdenken vieler Menschen kommt diesen Bemühungen entgegen. Aber ist es wirklich wünschenswert, dass die Individualität der Menschen dem gesellschaftlichen Wert des »Funktionierens« untergeordnet wird? Statt individuelle Begabungen und Talente zu fördern und Persönlichkeiten zu bilden, werden in Schulen und Unis wirtschaftlich verwertbare »Kompetenzen« vermittelt. Jugendliche wachsen in einer Atmosphäre auf, die immer klarer zwischen Siegern und Verlierern unterscheidet und die ihnen suggeriert, dass es nur von einem selbst abhängt, zu welcher Gruppe man gehört. Dabei ist es unverändert vor allem die soziale Herkunft, die bei uns über Arm und Reich entscheidet.

Deutschland leidet stärker als die meisten anderen westlichen Länder unter »Abwärtsmobilität«: 18 Prozent der Deutschen über 26 Jahren hatten 2015 einen niedrigeren Bildungsabschluss als ihre Eltern. Und nur ein knappes Viertel überflügelte die Eltern in dieser Hinsicht – während diese Quote im OECD-Durchschnitt bei 41 Prozent und in Finnland sogar bei 55 Prozent lag.3 (Allerdings muss man diese Zahlen mit mehr Vorsicht interpretieren, als manche Medien es tun. Sie können ja auch bedeuten, dass es in Deutschland besonders viele Eltern mit hohen Bildungsabschlüssen gibt. Rein theoretisch gesprochen: In einer Gesellschaft, die nur aus Akademikern bestünde, läge die Quote der Kinder, die ihre Eltern »überholen«, logischerweise bei null Prozent – was dann aber kein Anlass zur Empörung sein sollte. Und tatsächlich ist der Akademikeranteil unter den Eltern heute fast doppelt so hoch wie noch in den 1990er-Jahren. Wie Ergebnisse des Statistischen Bundesamtes zeigen, »… verfügten 29 % der 30- bis 34-Jährigen über einen Hochschulabschluss, während der Anteil unter den 60- bis 64-Jährigen bei 19 % lag.«4 Ein entsprechend größerer Anteil der Kinder kann also gar keinen höheren Abschluss erreichen als ihre Erzeuger. Trotz dieser mathematischen Denkfalle trifft es aber zu, dass die Chancen von Nicht-Akademiker-Kindern, ein Studium zu beginnen und abzuschließen, in Deutschland tatsächlich geringer sind als in vielen anderen Ländern. Die Ungleichverteilung der Bildungschancen je nach Einkommen der Eltern hat sich zudem wieder zementiert.

Auch der traditionelle Elternwunsch, den eigenen Kindern möge es einmal besser gehen als einem selbst, wird oft nicht mehr erfüllt. Den...

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