I. Vorwort
Explizite Äußerungen zu philosophischen Problemen sind rar in Marxens Spätwerk. Wohl dieser Umstand hat dazu geführt, dass die dialektisch-materialistische Philosophie, sofern sie ihre Positionen durch Marx-Zitate zu untersetzen oder zu illustrieren suchte, diese zumeist den Schriften des jüngeren Marx entnommen hat. Im besonderen war diese Orientierung an den Marxschen Jugendschriften prägend für die Haltung des Marxismus zu seinem großen Vorläufer, der Hegelschen Philosophie.
Nun finden wir eine ausdrückliche und eingehende Auseinandersetzung Marx’ mit den Hegelschen Vorgaben, speziell mit dem Hegelschen Dialektik- und Spekulationskonzept, tatsächlich nur in zwei früh entstandenen Arbeiten: in der »Kritik des Hegelschen Staatsrechts« von 1843 und in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« von 1844. Aber auch der Mangel späterer Bezüge darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Schriften selbstverständlich nicht die Marxsche Position zur Hegelschen Philosophie, sondern lediglich die Position des jungen Marx, konkret des Marx der Jahre 1843 und 1844, dokumentieren. Und obgleich zumindest der östliche Marxismus stets davon ausging, dass die Marxsche Theorie in jenen Jahren noch keineswegs auf eigenen Füßen stand, man sich daher zu hüten hat, das Marxsche Spätwerk aus der Perspektive dieser Frühschriften zu interpretieren, galt die in ihnen formulierte Kritik der Hegelschen Dialektik und Spekulation doch unangefochten als Musterbeispiel marxistischer Hegelrezeption und wurde in diesem Sinne immer wieder herbeizitiert. Diese Unangefochtenheit in Frage zu stellen ist ein wesentliches Anliegen dieser Arbeit. Eine genauere Analyse wird zeigen, dass die in den genannten Werken formulierte Hegelkritik erstens gar nicht so materialistisch ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint, und dass es sich zweitens bei ihr um ein ebenso vorübergehendes Stadium der Marxschen Hegelrezeption handelt, wie bei der ursprünglich weitgehenden Identifizierung mit der Hegelschen Begrifflichkeit, die etwa die Marxsche Dissertationsschrift prägt.
Für diese Annahme spricht schon, dass beide Arbeiten – die »Kritik des Hegelschen Staatsrechts« und die »Manuskripte« – Fragment geblieben sind und von Marx nie veröffentlicht wurden. Er empfand die in ihnen entwickelten Positionen offenbar selbst als unbefriedigend. Ohnehin finden wir in beiden Schriften weit weniger eine abgeschlossene Haltung zur Hegelschen Philosophie, als vielmehr ein Ringen mit Hegels Dialektik- und Spekulations-Konzept, eine Auseinandersetzung, die sich noch ganz im Prozess befindet und deren Resultate wesentlich erst erarbeitet werden sollen. Zweitens muss bei einer Analyse dieser Schriften beachtet werden, dass Marx der Hegelschen Philosophie natürlich nicht unvermittelt gegenübertrat. Er rezipiert sie zwar durchaus eigenständig, aber doch nie losgelöst vom Kontext ihrer junghegelianischen Interpretation: zunächst in Anlehnung an diese, dann in ausdrücklicher Abgrenzung von ihr. Es wird sich zeigen, dass manche Marxsche Polemik, als deren unmittelbarer Adressat zunächst Hegel erscheint, genau besehen überhaupt nicht diesen, sondern ausschließlich seine junghegelianischen Schüler trifft. In der marxistischen Rezeptionsgeschichte nun wurden aus diesen im Fluss befindlichen Gedanken und zeitbedingten Polemiken feste und endgültige Stellungnahmen. So entstand ein Bild der Marxschen Hegelrezeption, das weder Marx noch Hegel gerecht wurde und vor allem dem Nachdenken über materialistische Dialektik und dialektische Wissenschaftsmethode äußerst abträglich war.
Wir leugnen nicht, dass gerade letzteres unser eigentliches Anliegen ist. »Die Herausarbeitung der Methode, die Marx’ Kritik der politischen Ökonomie zugrunde liegt« – schrieb Engels seinerzeit –, »halten wir für ein Resultat, das an Bedeutung kaum der materialistischen Grundanschauung nachsteht.«1 Entscheidend ist, dass beide Seiten überhaupt nicht getrennt werden können. Mit der dialektisch-materialistischen Methode steht und fällt die dialektisch-materialistische Philosophie. Und was für die Philosophie im besonderen gilt, gilt für die Wissenschaft im allgemeinen. Sollen im wissenschaftlichen Denken wirkliche Zusammenhänge und Beziehungen reproduziert werden, müssen die wissenschaftsimmanenten Regeln und logischen Strukturen den zu erfassenden ontischen Strukturen in irgendeiner – möglicherweise stark abstrahierenden – Weise angemessen sein. So gibt es beispielsweise in der Realität keine mathematischen Strukturen als solche. Jede quantitative Bestimmung ist in ihrer Existenz an konkrete Qualitäten gebunden; das rein quantitative Eins bzw. die reine Raumgröße sind daher unter allen Umständen eine Abstraktion. Aber sie sind insofern vernünftige Abstraktionen, als die Realität ja tatsächlich dieses quantitative Moment – wenn auch nie isoliert für sich – aufweist. Die Isolierung dieses Moments im Denken schafft ein homogenes Medium, in dem so dann auf Grundlage immanenter Regeln mit strenger Notwendigkeit operiert und abgeleitet werden kann. Der Abstraktionsschritt, der der Konstituierung dieses Mediums zugrunde liegt, impliziert also ebenso den Realgehalt der innerhalb dieses Mediums darstellbaren und erschließbaren Beziehungen wie dessen Grenzen. Eine von den qualitativen Bestimmungen des Seins ab-strahierende Analyse vermag ganz sicher reale – eben quantitative – Zusammenhänge zu reproduzieren, wohl kaum jedoch wesentliche Zusammenhänge, denn letztere sind in allen Seinsbereichen an konkrete Qualitäten gebunden. (Wobei die Relevanz der rein quantitativen Beziehungen in den verschiedenen Seinsbereichen unterschiedlich ist; die Strukturen im anorganischen Sein sind offenbar in erheblich höherem Grade quantifizierbar, und die vermittels mathematischer Methoden gewonnenen Ergebnisse sagen daher Wesentlicheres über den jeweils untersuchten Gegenstand aus, als dies etwa im organischen oder gar gesellschaftlichen Sein der Fall ist.)
Marxistische Analyse indessen erhebt den Anspruch, wesentliche Realzusammenhänge aufzudecken, und zwar im besonderen wesentliche gesellschaftliche Zusammenhänge. Hinsichtlich der begrifflichen Erfassung grundlegender Strukturen des kapitalistischen Reproduktionsprozesses hat zumindest Marx diesen Anspruch erfüllt. Es gibt kein Werk der bürgerlichen Ökonomie, das neben dem »Kapital« bestehen könnte; ohne Marxsche Kategorien bleibt der kapitalistische Funktionsmechanismus auch heute unverständlich und unverstehbar; (was nicht heißen soll, dass die Funktionsweise des heutigen Kapitalismus allein mit den im »Kapital« entwickelten Kategorien verstanden werden kann; das ist aber eine andere Frage, die uns hier nichts angeht). Vergleicht man nun die Marxsche Darstellung mit der der klassischen Natio-nalökonomen, die ja zum Teil bereits die gleichen Kategorien benutzten, wird deutlich, dass Marxens Leistung mit Marxens Methode in allerengstem Zusammenhang steht.
Marxistische Theorie ist insofern – recht verstanden – nicht ein Aggregat von Begriffen, unter die die Phänomene der Realität zu subsumieren wären. Sie ist vor allem eine spezifische Methode der Entwicklung von und des Umgangs mit Begriffen, durch die diese Begriffe die Fähigkeit erhalten, reale Zusammenhänge tiefer und ganzheitlicher zu erfassen, als die auf formaler Logik begründeten wissenschaftlichen Methoden es je vermögen. Insoweit sind marxistische Theorie und dialektische Methode untrennbar. Die Methode wird nicht im Umgang mit den marxistischen Kategorien angewandt; sie konstituiert sie.
Ein das Verständnis dieser spezifischen Methode enorm erschwerender Umstand liegt nun darin, dass Marx sie zwar im »Kapital« exzellent praktiziert, sich jedoch – von verstreuten Bemerkungen abgesehen – jeder ausdrücklichen theoretischen Reflexion über ihr Wesen und ihre konkrete Struktur enthalten hat. Unstrittig dürfte indessen sein, dass die Marxsche Methode ihren Ursprung einer – kritischen – Rezeption der Hegelschen Dialektik verdankt und in letzterer ihren unmittelbaren Vorläufer besitzt. Im Unterschied zu Marx enthält nun aber die Hegelsche Philosopie nicht nur die Praxis, sondern auch eine explizite Theorie der »absoluten Methode«. Ohne eine genaue Analyse der Hegelschen Bestimmungen muss daher auch die Marxsche Methode unverständlich bleiben. Lenin hatte also ganz recht, als er feststellte: »Man kann das ›Kapital‹ von Marx und besonders das I. Kapitel nicht vollständig begreifen, ohne die ganze Logik von Hegel durchstudiert und begriffen zu haben. Folglich hat nach einem halben Jahrhundert nicht ein Marxist Marx begriffen.«2
Bedenklich ist allerdings, dass sich daran auch in den seither vergangenen knapp 80 Jahren (wenn wir von Lenins eigener Hegel-Rezeption absehen) nur sehr wenig geändert hat. Zwar wurde im offiziellen nachleninschen Marxismus ununterbrochen über Dialektik und dialektische Methode gesprochen und geschrieben. Aber die Charakterisierung der letzteren ging im allgemeinen kaum über die Bestimmung hinaus, »… die Dinge und Erscheinungen der materiellen Welt, aber auch die Begriffe als Abbilder der wirklichen Dinge, in ihrer Bewegung und Veränderung zu betrachten, die allseitige Analyse der Erscheinungen, die ihre mannigfaltigen gegenseitigen Zusammenhänge beachtet, die Erkenntnis des Einheitlichen in seinen gegensätzlichen Bestandteilen usw.«3 All das ist natürlich richtig, nur reicht es bei weitem nicht aus. Gerade die eigentlich interessanten und entscheidenden Fragen bleiben unbeantwortet:...