Wenn Sie auf dieses Buch aufmerksam geworden sind, dann haben Sie vielleicht schon einen schleichenden Verdacht, dass mit einer Ihrer Beziehungen etwas nicht stimmt. Vielleicht die Beziehung zu einem Elternteil, einem Ehepartner, einer Kollegin, einem Geschwister, Ihrem Kind oder sonst jemandem, mit dem Sie viel zusammen sind. Auch wenn Sie diese Person lieb haben und sie respektieren, fühlen Sie sich doch jedes Mal, wenn Sie mit ihr zusammen waren, ein wenig neben der Spur. Vielleicht fühlen Sie sich auch einfach ausgelaugt, erschöpft und müde – als ob die Energie buchstäblich aus Ihnen herausgesaugt wurde. Wenn Ihnen das bekannt vorkommt, ist es wahrscheinlich, dass Sie in Beziehung mit jemandem stehen, der gemeinhin als Energieräuber bekannt ist. Leute, die in diese Persönlichkeitskategorie fallen, nähren sich von der Energie der Menschen um sie herum.
Hinzu kommt, dass Sie sehr wahrscheinlich – genau wie der Energieräuber – auch einen bestimmten Persönlichkeitstyp haben. Sagen Sie mir, ob Ihnen das irgendwie bekannt vorkommt. Man geht irgendwohin und fühlt sich plötzlich traurig oder wütend – ganz ohne ersichtlichen Grund. Vielleicht haben Sie auch in einem Kino oder Konzert das Gefühl, kaum haben Sie sich niedergelassen, woanders sitzen zu müssen.
Oder jemand stimmt Sie furchtbar traurig, obwohl er oder sie recht glücklich zu sein scheint. Womöglich fühlen Sie sich zu den Heilberufen hingezogen, beschäftigen sich mit Astrologie und Energiemedizin, haben aber zugleich das Gefühl, dass Sie keinem davon erzählen können, weil die Leute sie sonst für verrückt halten. Und finden Sie nicht auch, dass Sie Liebe und Aufmerksamkeit nur durch Taten und Dienstbarkeit erringen müssen und diese nicht einfach so verdienen?
Wenn Sie mit alldem etwas anfangen können – oder wenn Ihnen schon vermittelt wurde, dass Sie „zu sensibel“ sind – dann gehören Sie sehr wahrscheinlich zu den Menschen, die man Empathiker oder hochsensible Menschen nennt. Nun ist in letzter Zeit viel über Empathie und Hochsensibilität gesagt worden – sogar ein paar Bestseller zum Thema gibt es. Im Klappentext von Judith Orloffs Buch Wenn dir alles unter die Haut geht bezeichnet das bekannte Medium Caroline Myss die Hochsensibilität in den USA schon als „das neue Normal“.
Eine Sache, die man im Hinterkopf behalten sollte, ist, dass nicht alle Empathiker gleich sind. Manche sind einfach nur sehr empfindlich gegenüber der Umwelt und den Gefühlen anderer. Andere wiederum sind das, was ich die „Hochsensiblen mit alter Seele“ nenne. Diese Menschen haben Hunderte – vielleicht Tausende von Leben – hinter sich, zeichnen sich früh durch großen Einfallsreichtum, durch Selbststeuerungsfähigkeit, Optimismus und Loyalität aus. Unabhängig davon sind jedoch alle Empathiker sehr energiesensibel.
Empathiker interagieren mit der Energie in ihrem Umfeld auf eine Weise, die sich selbst noch von der eines sehr mitfühlenden Menschen unterscheidet. Während die mitfühlende Person sich schlecht fühlt, nachdem sie jemanden hat leiden sehen, nimmt eine hochempathische Persönlichkeit die Energie dieses Individuums regelrecht auf. Empathiker können den tiefen, oft unsichtbaren Schmerz der Menschen in ihrer Nähe spüren, weil die Schmerzenergie ihr Wesen verändert. Die Energie der Menschen um sie herum, und nicht nur deren Emotionen, beeinflussen das Wohlbefinden und die Energie von Empathikern. Sie nehmen die Energie auf, ob gut oder schlecht. Und sie merken es nicht.
Als eine empathische Persönlichkeit habe ich aus erster Hand erfahren, wie es ist, negative Energie aufzunehmen. Es ist sehr seltsam. Als ich vor Jahren bei einer Vorstandssitzung der American Holistic Medical Association war, gab es dort noch eine andere Ärztin, die nett schien, aber auch ziemlich rechthaberisch und schwer zu bestimmen war. Sobald das Treffen vorbei war, wurde ich von starker Übelkeit erfasst und musste auf die Toilette laufen, um mich zu übergeben. Wie ein Schwamm hatte ich all ihre Negativität aufgesaugt. Sie war in jede Zelle meines Körpers eingedrungen, und mich zu übergeben war der einzige Weg, alles wieder loszuwerden. Jahre später begriff ich, dass sie eine Energievampirin war.
Wegen unserer natürlichen Neigung, die Energie anderer aufzunehmen und sie mit unserer eigenen zu verwechseln, benutze ich oft das Wort durchlässig, um empathische Menschen zu beschreiben. Oft wissen wir nicht, wo wir enden und jemand anderes anfängt. Eine Freundin von mir konnte nicht mehr zu den 12-Schritte-Gruppentreffen gehen, weil sie all die emotionalen Schmerzen der Menschen im Raum aufnahm, und sie anschließend gar nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Selbsthilfegruppen können etwas bewirken und das Leben positiv verändern. Wenn Sie jedoch sehr einfühlend sind, werden Sie von den unbewussten unverarbeiteten Gefühlen anderer überwältigt.
Ohne Selbsterkenntnis und Mittel des Selbstschutzes kann der Schaden durch die Aufnahme dieser mächtigen Emotionen den Nutzen überwiegen.
Manchmal ist Hochsensibilität wirklich eine Bürde. Ich habe noch eine andere außergewöhnlich einfühlsame Freundin, deren Fähigkeit, die Energie anderer anzunehmen, tatsächlich zu einer körperlichen Krankheit führte. Immer wieder nimmt sie körperlich die Krankheiten von ihren Familienangehörigen auf, doch jetzt kommt’s: Sie bekommt alle Symptome bestimmter Krankheiten, noch bevor diese bei den anderen ausbrechen. Vier Monate bevor bei ihrem Vater Lungenkrebs diagnostiziert wurde, hatte sie Lungensymptome, die so schwer waren, dass die Ärzte dachten, sie hätte Lungenkrebs. Und Monate bevor jemand anderes in der Familie einen Hirntumor bekam, hatte sie Kopfschmerzen und alle Symptome eines Hirntumors. All das verschwand in dem Moment, als die andere Person ihre Diagnose bekam und sie diese Energie nicht mehr „tragen“ musste. Auch wenn das sehr untypisch ist, zeigt es doch, wie wirkmächtig die Energie anderer im Leben einer empathischen Persönlichkeit sein kann.
Wie spielt sich nun das Leben eines oder einer Hochsensiblen ab? Kurz gesagt, „im Versteck“. Empathische Menschen greifen oft zu drastischen Mitteln, wenn es darum geht, ihre wahre Identität so zu verändern, dass sie als weniger schmerzlich empfunden wird. Sie sind sehr gut darin, sich anzupassen und herauszufinden, auf welche Weise sie geliebt und akzeptiert werden, und zwar nicht dafür, wie sie wirklich sind, sondern dafür, dass sie anderen zu Gefallen sind.
Wenn zum Beispiel ein hochsensibles homosexuelles Kind in eine sehr konservative Familie hineingeboren wird, merkt dieses Kind sehr schnell, dass es sein wahres Selbst zugunsten der Vorstellungen seiner Familie zurückdrängen muss. Oder wenn ein einfühlsames kreatives und temperamentvolles Kind in eine Familie hineingeboren wird, die Wert auf logisches Denken und gute Ausbildung legt, wird es bald zur Anpassung genötigt und daran arbeiten, seinen Wert durch entsprechende Bestrebungen unter Beweis zu stellen.
Empathische Kinder tun dies nicht bewusst, sondern als Form des Überlebens. Weil sie so auf die Energie anderer Menschen eingestimmt sind, leiden sie, wenn andere leiden, also arbeiten sie daran, dass dies nicht geschieht.
Der Wunsch, für geordnete Verhältnisse zu sorgen, begleitet Hochsensible ihr ganzes Leben lang. Sie sagen Ja, wenn sie Nein meinen, einfach deshalb, weil sie die negative Energie der Menschen um sie herum nicht erleben wollen. Sie machen Überstunden, damit andere nicht überfordert werden. Sie hören auf die Sorgen ihrer Freunde und Familienangehörigen und bieten Anregungen und Hilfe an. Sie opfern ihr eigenes Wohlergehen zum Wohle der Menschen in ihrem Umfeld. Schließlich geht es um die Energie.
Als Kinder zeigen manche empathischen Persönlichkeiten nicht nur die hohe Sensibilität, sie haben auch die Fähigkeit, andere Dimensionen zu sehen, etwa Engel oder geistige Führer oder imaginäre Freunde, die überhaupt nicht imaginär sind. Oft treffen junge Hochsensible Aussagen über die wahre Natur einer Person – eine, die sich anderen Menschen in ihrem Umfeld nicht erschließt. Zum Beispiel könnte ein hochsensibles Kind durchaus sagen, dass es lieber nicht zu Onkel Pete (der sich später als pädophil herausstellen würde) möchte oder dass Tante Sally wohl sterben wird (kurz bevor sie es dann tatsächlich tut).
Doch wie in diesen Beispielen lernen einfühlsame Kinder schnell, dass das Sehen „unsichtbarer Dinge“ schlecht oder falsch ankommt. Sie erfahren vielleicht Kritik, werden zum Schweigen gebracht oder sogar bestraft, weil sie eine von ihnen sehr stark empfundene Wahrheit aussprechen.
Das Medium John Holland kann davon berichten, dass er tote Haustiere in der Nähe ihrer früheren Besitzer sehen konnte. Als Kind ging er auf die Menschen zu und erzählte ihnen von ihrem verstorbenen Hund – den er dann genau dort sah. Das verwirrte und brachte die Leute auf, und so hat er sehr früh gelernt, nicht über das zu sprechen, was er sah. Er musste erkennen, dass seine Wahrnehmung für die meisten Menschen und die Gesellschaft insgesamt inakzeptabel war.
Was empathische Persönlichkeiten so „anders“ macht, ist zugleich eine Quelle großen emotionalen Schmerzes. Sie werden verletzt – beschämt, verlassen oder verraten –, ob von der Familie oder der Gesellschaft. Man sagt ihnen, sie seien „seltsam“, „verrückt“ oder „schlecht“, was wiederum zu Angst und Selbstzweifeln führt. Die Sache ist die, dass empathische Persönlichkeiten in ihrem Bedürfnis nach Akzeptanz, Liebe und Unterstützung genauso sind wie alle anderen. Also fangen sie mit dem...