Die Ur-Margaretener waren Matzleinsdorfer. Ein Herr Otto von Mazilinestorf war Zeuge in einem Prozess – 1136. Damit tritt das einstige Dorf, der heutige Bezirk, in die protokollierte Geschichte ein.
Diese frühe Siedlung befand sich zwischen dem Matzleinsdorfer Platz und der alten Florianikirche, ungefähr bei Wiedner Hauptstraße 106–112.
Bevor wir uns erneut über die schrecklichen 1960er-Jahre aufregen, zu deren Opfern auch die schöne alte Rauchfangkehrerkirche gehört hat, wollen wir noch im Mittelalter bleiben.
1850 kamen die Vorstädte zu Wien, 1861 wurde neu eingeteilt – also steht dieses Jahr am Beginn des Bezirks von heute. Aber 1874 und noch einmal 1907 fielen Stadtplanung und Bürokratie über Margareten her und erst seither hat der Bezirk seine heutige Form.
Er ist aus fünf alten Siedlungen erwachsen – Hundsturm, Laurenzergrund, Matzleinsdorf, Reinprechtsdorf und eben Margareten. Und hier gleich eine Bemerkung zum Bezirksnamen, denn es gilt, eine erfundene Provenienz endlich dahin zu befördern, wohin sie gehört, ins Nichts. Immer wieder kommt jemand und weiß ganz sicher, dass Margarete von Tirol, genannt Maultasch, die Namensgeberin gewesen sei. Sie hat nämlich hier in den letzten Jahren ihres Lebens gewohnt. Doch gestorben ist sie nahe der Minoritenkirche, und die Bezirkspatronin ist eine andere Margarete, die von Antiochia.
Dieser Heiligen hat eine Familie Tirna eine Kapelle gestiftet, am heutigen Margaretenplatz. Rudolf von Tirna, Ludwig von Tirna und dessen Frau Anna besaßen den Hof beim heutigen Margaretenplatz. Die türkischen Scharen haben Hof und Kapelle 1529 weitgehend zerstört. Die Ruinen blieben lange stehen, bis sie 1555 von Miklós Oláh, dem ungarischen Kanzler und Erzbischof von Gran, erworben wurden. Der Primas von Ungarn ließ das Schloss und die Kapelle wieder aufbauen. Dazu gestaltete der bedeutende Schriftsteller und Humanist einen ausgedehnten Schlossgarten im modernen Stil der Spätrenaissance. Das ungarische Miklós entspricht dem deutschen Nikolaus – und aus dem Dorf des Nikolaus wurde Nikolsdorf, 1862 eingemeindete Vorstadt.
Die heilige Margareta stammte aus der südlichen Türkei, die Märtyrerin zählt zu der Gruppe der 14 Nothelfer. Ihr soll der Teufel in Lindwurmgestalt erschienen sein. Früher kannte jedes – katholische – Kind den Merkspruch zum Thema Märtyrerinnen und ihre Attribute: »Die Gretl mit’n Wurm, die Bärbl mit’n Turm, die Kathi mit’n Radl, sein die drei heiligen Madl.«
Dieser Platz ist der seltene Fall eines Zentrums mit historischer Wurzel. Das ist nicht in allen Bezirken so. Der Margaretenbrunnen in der Mitte des Platzes unterstreicht seit 1836 seine Würde. Er zeigt die heilige Margarete mit dem Lindwurm, dem Teufelsdrachen, und erinnert auf diese Weise an die alte Kapelle.
Das eindrucksvollste Bauwerk des Platzes, der Margaretenhof, ist aber weit jünger als die historischen würdevollen Schlossreste um Nr. 2 und 3. An der Stelle des alten Brauhauses steht seit 1885 ein Ensemble mit gleich drei Adressen – Margaretenplatz, Margaretenstraße, Pilgramgasse. Damals richteten sich viele Kommunalpolitiker und Architekten nach Ideen, die aus England kamen. Das Paradebeispiel dafür sind die Cottagesiedlungen in Wien XVIII und XIX, in Hietzing, Lainz, Perchtoldsdorf. In Wien wird das englische Wort traditionell französisch ausgesprochen – also etwa Kottehsch. Mehr dazu, wenn wir einmal dort angelangt sind. Jedenfalls orientierte man sich an britischen urbanen Formen, mit Vorgärten auch im städtischen Verband, geschlossen und so vom Straßenverkehr abgeschirmt.
Die Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer hatten sich eigentlich auf Theaterbauten spezialisiert – in der Donaumonarchie standen sie in großer Zahl, in ganz Europa waren es 48, in Odessa, Zürich, Karlsbad … Und in Margareten steht als Ausnahme dieses schlossartige Mietshaus, in dem zu wohnen auch eine Prestigeseite hat.
Dabei hat der 5. Bezirk ein zweites Zentrum, an einer der Hauptstraßen, ein auf den ersten Blick einfacher Bau, der dennoch in der ersten Reihe steht – eine Kirche. 1761 begann die Stadt Wien den Sonnenhof, das Margaretner Armenhaus, auszubauen. 1765 wurde der Grundstein für die angeschlossene Kirche gelegt, 1771 wurde sie vom Wiener Kardinal-Erzbischof Christoph von Migazzi geweiht, in Anwesenheit von Maria Theresia und ihrem Sohn und Mitregenten Joseph II. Die Altäre hat Ferdinand Hetzendorf von Hohenberg entworfen, das Altarbild hat Bartolomeo Altomonte geschaffen. In der Sakristei der Pfarrkirche St. Josef gibt es eine Darstellung des heiligen Leonhard von dem großen Barockmaler Franz Anton Maulpertsch.
Das ist alles von Bedeutung für Wien als Stadt der Kunst, aber den Atem stocken lässt ein Ereignis der Musikwelt. In dieser Kirche ist Franz Schuberts Deutsche Messe zum ersten Mal erklungen. 1826 übergab der Technik-Professor Johann Philipp Neumann seine Texte dem Komponisten, der zwei Fassungen schrieb. Eine weitere, eine von vielen folgenden, brachte Bruder Ferdinand zu Notenpapier. Und so ist in St. Josef zum ersten Mal zu Beginn der Messe die innige Melodie gesungen worden »Wohin soll ich mich wenden«, zum Gloria das machtvolle »Ehre, Ehre sei Gott in der Höhe«.
In ebendieser Pfarrkirche hat Wien von diesem so eminent wienerischen Weltgenie Abschied genommen. In seinem kurzen Leben hat Schubert ein unglaublich reiches Werk geschaffen – acht Symphonien, sieben Messen, Streichquartette und Klavierwerke, er hat dem Lied zum Sieg und den Männerchören in eine neue Zukunft verholfen.
Einmal nur hat er ein großes öffentliches Konzert erleben dürfen, am 26. März 1828, wenige Monate vor seinem Tod. Die Gesellschaft der Musikfreunde spielte im kleinen Redoutensaal Trios und Streichquartette, Josef Vogl sang mehrere Lieder, Josephine Fröhlich, der Grillparzer-Geliebten Kathi Fröhlichs Schwester, brachte mit ihren Schülerinnen Das Ständchen nach dem Gedicht von Franz Grillparzer, ein Männerchor sang Klopstocks Schlachtgesang. Der Reinertrag von 800 Gulden bedeutete einen großen Erfolg, der dem melancholischen Komponisten in ständigen Nöten Hoffnung machte.
In der nahen Kettenbrückengasse ist Franz Schubert am 19. November 1828 gestorben, er hatte die letzten Lebenstage bei seinem Bruder Ferdinand verbracht. Sein Arzt hatte ihm zu einem Leben in geordneten häuslichen Umständen geraten.
Das Haus Kettenbrückengasse 19 (nach heutiger Zählung Nr. 6) wurde 1828 fertiggestellt. Mit seinen noch feuchten Mauern soll es zu einer Verschlimmerung der Gesundheit Schuberts beigetragen haben. Allerdings hatte er sich kurz zuvor noch durchaus wohlgefühlt, hatte Pläne gemacht. Am 4. November hatte er sich noch bei Simon Sechter angemeldet, dem wichtigsten Lehrer für Musiktheorie dieser Zeit.
Es ging ihm schon sehr schlecht, als er an seinen Freund Franz von Schober am 11. November schrieb: »Ich bin krank. Ich habe schon elf Tage nichts gegessen und nichts getrunken, und wandle matt und schwankend von Sessel zu Bett und zurück. Sey also so gut, mir in dieser verzweiflungsvollen Lage durch Lectüre zu Hilfe zu kommen. Von Cooper habe ich gelesen: Den letzten der Mohikaner, den Spion, den Lootsen und die Ansiedler. Solltest du vielleicht noch etwas von ihm haben, so beschwöre ich dich, mir solches bey der Frau von Bogner im Kaffeehaus zu depositieren. Mein Bruder, die Gewissenhaftigkeit selbst, wird solches mir am gewissenhaftesten überbringen.« Viel wird Franz Schubert wohl nicht mehr gelesen haben.
In St. Josef hat man ihn aufgebahrt. In der Trauerparte des Vaters heißt es: »… Zugleich haben ich und meine Familie unseren verehrlichen Freunden und Bekannten hiermit anzuzeigen, daß der Leichnam des Verblichenen Freitag den 21. d. M. Nachmittags um halb 3 Uhr von dem Hause No. 694 auf der Neu-Wieden in der neugebauten Gasse nächst dem sogenannten Bischof-Stadel in die Pfarrkirche zum heiligen Josef in Margarethen getragen und daselbst eingesegnet werde.«
Es sind nur wenige Schritte von Franz Schuberts letzter Adresse bis zu einem Haus, in dem man dem großen Meister ein fröhliches Andenken gewidmet hat. Um 1900 sind im gartenartigen Hof des Gasthauses »Zur Goldenen Glocke« in der Kettenbrückengasse 9 zwei riesige bunte Wandbilder geschaffen worden, dem Thema »Musik aus Wien« huldigend. Eines zeigt den heiligen Petrus in einem sehr lustigen, doch weihevollen Himmel. Ihn umringen die Engerln, die offensichtlich »auf Urlaub nach Wean« gekommen sind, das zahlreiche übrige Personal gab Anlass zu Ratespielen während des Essens. Eine Hälfte zeigt die große Musik aus Jahrhunderten, mit den Klassikern Mozart, Haydn, Gluck und eben auch Schubert. Die andere Hälfte ist der damals aktuellen Gegenwart gewidmet – mit den Schrammeln, Ludwig Gruber (Mei Muatterl war a Weanerin …), dem singenden Fiaker Bratfisch. Leider »gab« es das, seit Jahren ist dieses köstliche Gasthaus geschlossen.
An ein ganz anderes Stück...