ZWANG DER AUTHENTIZITÄT
Die Gesellschaft der Authentizität ist eine Performancegesellschaft. Jeder performt sich. Jeder produziert sich. Jeder huldigt dem Kult, dem Gottesdienst des Selbst, in dem man der Priester seiner selbst ist. Charles Taylor attestiert dem modernen Kult der Authentizität eine »moralische Kraft«: »Sich selbst treu sein heißt nichts anderes als: der eigenen Originalität treu sein, und diese ist etwas, was nur ich selbst artikulieren und ausfindig machen kann. Indem ich sie artikuliere, definiere ich zugleich mich selbst. Damit verwirkliche ich eine Möglichkeit, die ganz eigentlich mir selbst gehört. Dies ist die Auffassung im Hintergrund des modernen Authentizitätsideals und der Ziele ›Selbsterfüllung‹ oder ›Selbstverwirklichung‹, in deren Sinne das Ideal normalerweise formuliert wird. Das ist der Hintergrund, der der Kultur der Authentizität auch in ihren heruntergekommensten, absurdesten und trivialsten Formen moralische Kraft verleiht.«14 Der Entwurf der eigenen Identität dürfe allerdings nicht selbstisch sein und müsse vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Bedeutungshorizontes erfolgen, der ihm eine über das eigene Selbst hinausgehende Relevanz verleihe: »Nur wenn ich in einer Welt lebe, in der die Geschichte, die Forderungen der Natur, die Bedürfnisse meiner Mitmenschen, die Pflichten des Staatsbürgers, der Ruf Gottes oder sonst etwas von ähnlichem Rang eine ausschlaggebende Rolle spielt, kann ich die eigene Identität in einer Weise definieren, die nicht trivial ist. Die Authentizität ist keine Widersacherin der Forderungen aus dem Bereich jenseits des eigenen Selbst, sondern sie setzt solche Forderungen voraus.«15 So gesehen, schließen Authentizität und Gemeinschaft einander nicht aus. Taylor unterscheidet zwischen der Form und dem Inhalt der Authentizität. Die Selbstbezüglichkeit betrifft nur ihre Form als Selbstverwirklichung. Ihr Inhalt aber, so Taylors Forderung, darf nicht selbstisch sein. Die Authentizität bewährt sich allein durch den Identitätsentwurf, der unabhängig vom eigenen Selbst Bestand hat, nämlich durch ihren expliziten Bezug zur Gemeinschaft.
Entgegen Taylors Annahme erweist sich die Authentizität als Widersacherin der Gemeinschaft. Aufgrund ihrer narzisstischen Verfasstheit wirkt sie der Gemeinschaftsbildung entgegen. Entscheidend für ihren Inhalt ist nicht ihr Bezug zur Gemeinschaft oder zu einer anderen höheren Ordnung, sondern ihr Marktwert, der alle anderen Werte aushebelt. So fallen ihre Form und ihr Inhalt in eins. Beide gelten dem Selbst. Der Authentizitätskult verlagert die Identitätsfrage von der Gesellschaft auf die einzelne Person. Permanent wird an der Selbst-Produktion gearbeitet. So atomisiert er die Gesellschaft.
Taylors moralische Rechtfertigung der Authentizität blendet jenen subtilen Prozess im neoliberalen Regime aus, der die Idee der Freiheit und Selbstverwirklichung konterkariert und zu einem Vehikel effizienter Ausbeutung verkehrt. Das neoliberale Regime beutet die Moral aus. Die Herrschaft vollendet sich in dem Moment, in dem sie sich als Freiheit ausgibt. Die Authentizität stellt eine neoliberale Produktionsform dar. Man beutet sich freiwillig in dem Glauben aus, dass man sich verwirklicht. Vermittels des Authentizitätskultes eignet sich das neoliberale Regime die Person selbst an und verwandelt sie in eine Produktionsstätte höherer Effizienz. So wird die ganze Person in den Produktionsprozess verbaut.
Der Authentizitätskult ist ein unübersehbares Zeichen für den Verfall des Sozialen: »Wenn eine Person als authentisch beurteilt wird oder wenn von einer Gesellschaft als ganzer gesagt wird, sie schaffe Authentizitätsprobleme, dann enthüllt diese Redeweise, wie stark soziales Handeln abgewertet ist, wobei der psychologische Kontext immer größeres Gewicht erhält.«16 Der Authentizitätszwang führt zu einer narzisstischen Introspektion, zu einer permanenten Beschäftigung mit eigener Psychologie. Auch die Kommunikation wird psychologisch organisiert. Die Gesellschaft der Authentizität ist eine Gesellschaft der Intimität und Entblößung. Ein Seelen-Nudismus verleiht ihr pornografische Züge. Soziale Beziehungen sind umso echter und authentischer, je mehr Privatheit und Intimität offenbart werden.
Die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ist noch von rituellen Interaktionsformen bestimmt. Einer Bühne, einem Theater gleicht der öffentliche Raum. Auch der Körper stellt eine Bühne dar. Er ist eine Kleiderpuppe ohne Seele, ohne Psychologie, die es schön zu drapieren, zu schmücken, mit Zeichen und Symbolen auszustaffieren gilt. Die Perücke rahmt das Gesicht wie ein Bild ein. Theatralisch ist die Mode selbst. Menschen sind regelrecht in szenische Darstellungen verliebt. Auch die Haartrachten der Damen werden zu Szenen gestaltet. Sie stellen entweder historische Ereignisse (pouf à la circonstance) oder Gefühle (pouf au sentiment) dar. Diese Gefühle spiegeln jedoch keine seelischen Zustände wider. Mit Gefühlen wird vor allem gespielt. Das Gesicht wird selbst zu einer Bühne, auf der man bestimmte Charaktere mithilfe von Schönheitspflästerchen (mouche) darstellt. Wird es etwa am Augenwinkel angebracht, so bedeutet es Leidenschaft. Auf der Unterlippe platziert, weist es auf die Direktheit der Trägerin hin. Das Gesicht als Bühne ist alles andere als jenes Face, das heute auf Facebook ausgestellt wird.
Das 19. Jahrhundert entdeckt die Arbeit. Dem Spiel wird immer mehr misstraut. Es wird mehr gearbeitet als gespielt. Die Welt ist mehr Fabrik als Theater. Die Kultur der theatralischen Darstellung weicht der Kultur der Innerlichkeit. Diese Entwicklung zeigt sich auch in der Mode. Bühnenkostüm und Straßenkleidung entfernen sich immer mehr voneinander. Das Theatralische verschwindet aus der Mode. Europa zieht Arbeitskleidung an: »Ein allgemeines Ernsterwerden der Kultur scheint sich als eine typische Erscheinung des neunzehnten Jahrhunderts kaum ableugnen zu lassen. Diese Kultur wird in viel geringerem Maße ›gespielt‹. Die äußerlichen Formen der Gesellschaft stellen nicht mehr ein Ideal höheren Lebens dar, wie sie es noch mit Pumphose, Perücke und Degen getan hatten. Es lässt sich kaum ein auffallenderes Symptom für die Preisgabe des Spielhaften anführen als das Schwinden des Phantasieelements in der männlichen Kleidung.«17 Die Herrenkostüme werden im Laufe des 19. Jahrhunderts immer monotoner und lassen wenig Variationen zu. Sie wirken einheitlich wie Arbeitsuniformen. Aus der Mode der jeweiligen Gesellschaft lässt sich deren Verfasstheit herauslesen. So bildet sich die zunehmende Pornografisierung der Gesellschaft in der Mode ab. Sie trägt heute sichtbar pornografische Züge. Es wird mehr Fleisch gezeigt als Formen.
Im Zuge des Authentizitätskultes kommen auch die Tätowierungen wieder in Mode. Im rituellen Kontext symbolisieren sie das Bündnis zwischen Einzelnen und Gemeinschaft. Im 19. Jahrhundert, in dem die Tätowierungen vor allem in der Oberschicht sehr beliebt waren, war der Körper noch eine Projektionsfläche für Sehnsüchte und Träume. Den Tätowierungen fehlt heute jede Symbolkraft. Sie verweisen nur noch auf die Einzigartigkeit ihres Trägers. Der Körper ist hier weder rituelle Bühne noch Projektionsfläche, sondern eine Werbefläche. Die neoliberale Hölle des Gleichen wird von tätowierten Klonen bewohnt.
Der Authentizitätskult lässt den öffentlichen Raum erodieren. Er zerfällt zu Privaträumen. Jeder trägt seinen Privatraum überall mit sich herum. Im öffentlichen Raum hat man eine Rolle zu spielen, indem man vom Privaten absieht. Er ist ein Ort szenischer Darstellungen, ein Theater. Das Spiel, das Schauspiel ist wesentlich für ihn: »Die Schauspielerei in Gestalt von Umgangsformen, Konventionen und rituellen Gesten ist der Stoff, aus dem öffentliche Beziehungen geformt werden und ihre emotionale Bedeutung gewinnen. In dem Maße, wie das Forum der Öffentlichkeit durch die gesellschaftlichen Verhältnisse beeinträchtigt und zerstört wird, werden die Menschen daran gehindert, ihre schauspielerischen Fähigkeiten zu gebrauchen. Die Angehörigen einer intimen Gesellschaft werden zu Künstlern, die ihrer Kunst beraubt sind.«18 Die Welt ist heute kein Theater, in dem Rollen gespielt und rituelle Gesten ausgetauscht werden, sondern ein Markt, auf dem man sich entblößt und ausstellt. Die theatralische Darstellung weicht der pornografischen Ausstellung des Privaten.
Auch Geselligkeit und Höflichkeit haben einen hohen Anteil am Schauspiel. Sie sind ein Spiel mit dem schönen Schein. So setzen sie eine szenische, theatralische Distanz voraus. Im Namen der Authentizität oder Echtheit legt man heute den schönen Schein, die rituellen Gesten als äußerlich ab. Aber diese Echtheit ist nichts anderes als Rohheit und Barbarei. Der narzisstische Authentizitätskult ist mitverantwortlich für die zunehmende Verrohung der Gesellschaft. Wir leben heute in einer Affektkultur. Wo rituelle Gesten und Umgangsformen zerfallen, gewinnen die Affekte und Emotionen die Oberhand. Auch in den sozialen Medien wird die für die Öffentlichkeit konstitutive szenische Distanz abgebaut. Es kommt zu einer distanzlosen Affektkommunikation.
Der narzisstische Authentizitätskult macht uns blind gegenüber der symbolischen Kraft der Formen, die einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Gefühle und Gedanken ausübt. Denkbar ist eine rituelle Wende, in der wieder der Vorrang der Formen gilt. Sie kehrt das Verhältnis von Innen und Außen, von Geist und Körper um....