Ein Wort zuvor
Der amerikanische Westen ist Mythos, Legende und Realität zugleich. Er war die Bühne für ein dramatisches Stück Weltgeschichte, für überwältigende menschliche Leistungen und für Barbarei. Im stürmischen Zug nach Westen formte sich die amerikanische Nation. Fortschritt und Hinterwald gingen eine Symbiose ein, die zu ungeahnter Stärke wurde. Abenteuer und Romantik prägten das äußere Bild. Hinter dieser Fassade aber entstand auf unkonventionelle, zugleich auch sehr effektive Weise eine Weltmacht, die – als sich der Pulverrauch der Besiedelung verzogen hatte – unübersehbar die Weltbühne beherrschte.
Wer die Kolonisation der Neuen Welt nur oberflächlich betrachtet, steht oft verständnislos vor Ereignissen, die – losgelöst aus dem Zusammenhang – in sich widersinnig, häufig gewalttätig und menschenverachtend wirken. Im besten Falle verbreiten sie eine abenteuerliche Aura. Aber das ist zu kurz gedacht und wird der Geschichte nicht gerecht.
Die Regionalgeschichte des amerikanischen Westens – auf den ersten Blick vielleicht manchmal chaotisch, ungestüm, planlos – wurde prägend für die Mentalität einer ganzen Nation.
Die Eroberung der westlichen Weiten wird oft mit klischeehaften Bezeichnungen versehen. Man spricht von den „Flegeljahren Amerikas“, von der „Sturm- und Drangzeit“ eines Landes. Es wird so getan, als hätten die USA sich ihre Weltmachtposition auf eher unseriöse Weise erschlichen. Cowboys und Indianer gelten als Karnevalsgestalten – als ob die Geschichte der europäischen Staaten nicht ebenfalls ihre bizarren, ja absurden Züge und Charaktere gehabt hätte … Tatsächlich gab es in der Entwicklungsgeschichte Europas ebenso Stammeskriege, Landauseinandersetzungen, Staatenbildungen, Unterwerfungen, Ausrottungen, Barbarei, und die Geschichte der Entstehung des europäischen Adels als jahrhundertelange Führungsschicht war alles andere als ein Ruhmesblatt. (In einigen Regionen der „Alten Welt“ sind die aufgezählten Konflikte bis heute nicht gänzlich überwunden.)
Die Methoden zwischen dem, was sich in Nordamerika und in Europa abspielte unterschieden sich kaum; lediglich der Zeitrahmen differiert. Tatsächlich hatten die Amerikaner bereits urdemokratische Grundstrukturen entwickelt, als in weiten Teilen Europas noch absolutistische Monarchen herrschten.
Ein Grundproblem bei der Beurteilung der amerikanischen Lebenswelt mag sein, dass die Europäer in den Amerikanern immer eine Art „entfernte Verwandte“ sahen – aus den unterschiedlichsten Gründen fortgezogen, aber doch vom gleichen kulturellen Stamm. Im Ansatz richtig, und doch falsch. Diese Sichtweise missachtet oder unterschätzt zumindest die prägende Kraft eines geografischen Raums ebenso wie die soziale Dynamik von sich neu formierenden menschlichen Gesellschaften.
Amerika ist nicht Europa. Die räumliche Weite bedingte ein anderes Denken. Hinzu kam, dass die meisten europäischen Auswanderer sich schon vor ihrer Emigration geistig von ihren Wurzeln gelöst hatten oder aus verschiedenen Gründen von ihren Heimatländern ausgegrenzt wurden und genau aus diesem Grund in die Neue Welt zogen. Die Bedingungen, die sie hier antrafen, führten zu weiteren Veränderungen, die sie rasch von ihren Ursprüngen entfernten. Sprache, Kindheitserinnerungen, alte Sitten und Bräuche blieben noch für eine Weile als oberflächliche Zeichen ihrer Herkunft erhalten, tatsächlich passten sie sich schnell den neuen Bedingungen an – zwangsläufig; denn sie wollten ja in ihrer neuen Heimat ein besseres Leben führen als in der alten, also standen sie unter dem Druck, sich zu integrieren.
Während also die Zurückgebliebenen in den Ausgewanderten Anglo-Amerikaner, Deutsch-Amerikaner, Franco-Amerikaner usw. sahen, wurden diese in relativ kurzer Zeit richtige „Amerikaner“, deren Denken, Streben und Verhalten sich ganz erheblich von ihren früheren Landsleuten unterschied, wodurch sie für Europa immer unverständlicher wurden.
Interessanterweise gibt es heutzutage in den USA den Trend, die eigenen ethnischen und familiären Wurzeln wieder zu betonen, wobei es im Verhalten dieser Menschen, die stolz auf ihre polnischen, deutschen, italienischen Vorfahren verweisen, tatsächlich kaum echten Bezug zu diesen Kulturen gibt.
Kultur ist ein dynamischer Prozess, unterliegt der ständigen Bewegung und stetigen Fortentwicklung. In Nordamerika ist diese einfache Erkenntnis nationales Programm. Fortschritt, Ausprobieren, nie mit dem Erreichten zufrieden sein, ständiges Ausschauhalten nach Neuem, Anleihen und Adaptionen erfolgreicher fremder Elemente, Chancen wahrnehmen, das Risiko des Scheiterns bewusst akzeptieren, um vielleicht Vorteile zu erlangen – das sind seit der frühen Kolonialzeit amerikanische Eigenschaften, gepaart mit einem unverwüstlichen Optimismus, der selbst in der aussichtslosesten Situation noch Hoffnung erkennt. Niederlagen als Möglichkeiten für kommende Siege begreifen – das gehört zum amerikanischen Charakter und ist, wie auch alles andere, ein Erbe der Pionierzeit, als Millionen von Menschen in den Westen des Kontinents zogen und in einer Wildnis eine neue Welt schufen. Als sie mit Entbehrungen, Not, Angst und vielen Widerständen zu kämpfen hatten.
Die frühen Pioniere lernten, das ein Scheitern nicht unbedingt das Ende bedeuten musste, dass die Aufgabe eines Traums die Geburt anderer Träume initiieren konnte, dass man stürzen, aber nicht liegen bleiben durfte. Auf diese Weise wuchsen Helden heran, die unbeschadet zu Verlierern werden und wieder zu Helden aufsteigen konnten. Das gehört zum amerikanischen Selbstverständnis.
Mit Recht ist der Pioniergeist noch heute identitätsstiftend für die meisten Amerikaner, vor allem für jene in den westlichen Gebieten.
Die Bildungseliten Europas waren von jeher bei ihrem Blick nach Nordamerika emotional und intellektuell hin und her gerissen. Schwärmerisch klang der Ausspruch Goethes (1827)
„Amerika, du hast es besser,
Als unser Kontinent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser,
Und keine Basalte.“
– gemeint waren die wirtschaftlichen, sozialen, persönlichen Freiheiten. Neben diesen positiven Betrachtungen, gab es auch ein negatives Spektrum, bis zur arroganten Verachtung „degenerierter Hinterwäldlerkultur“. An derartigen Klischees hat sich bis heute nicht viel geändert.
Die scheinbare Treulosigkeit der Davongezogenen, die das europäische Jammertal schnöde verlassen hatten, um in Amerika zu neuen Horizonten vorzustoßen, löste angesichts wirtschaftlicher, politischer und sozialer Freiheiten Neid aus. Lebensverhältnisse, in denen Analphabeten, die über enorme praktische Fähigkeiten verfügten, zu Entdeckern, Städtegründern, ja erfolgreichen Geschäftsleuten werden konnten, wurden mit größtem Misstrauen beäugt. Amerikanische Literatur, Malerei, darstellende Kunst galten als schlechte europäische Kopien – was anfangs vielleicht sogar stimmte. Die amerikanische Neigung zu improvisieren, den Schein manchmal höher zu werten als das Sein, galt als banausenhaft. Diktiert wurden diese Urteile – und werden sie teilweise noch heute – von der Unwissenheit der tatsächlichen Lebensverhältnisse. Amerikaner galten als primitiv, gewalttätig, grob – das Verhalten europäischer Kolonisten in Afrika und Asien im 18. und 19. Jahrhundert wurde dabei geflissentlich übersehen.
In Zeiten der Romantik wurden die Indianervölker als unschuldige Naturmenschen, die dem humanitären Ideal entsprachen, überhöht; eine Ansicht, die überraschenderweise manchmal auch heute noch anzutreffen ist. Dagegen war der weiße Kolonist in diesem Bild ein barbarischer Gewaltmensch. Diese Beurteilung mag sich abgemildert haben, sie fand aber in den Romanen Karl Mays, deren Einfluss auf das Amerikabild des 19. und auch des frühen 20. Jahrhunderts immens war, ihre Entsprechung.
Alles in allem: Den Urteilen fehlte (und fehlt) das Maß, und es fehlt das Wissen. Klischees haben die Geschichte Amerikas geprägt und begleiten sie bis heute. Klischees, die tatsächlich gelegentlich in den USA selbst entstanden sind; denn aufgrund der enormen Ausdehnung des Landes war der amerikanische Osten über die Vorgänge im westlichen Teil des Landes oft nicht viel besser informiert als die Europäer.
Was hierzulande bis ins 20. Jahrhundert hinein selten verstanden wurde, sind die enormen Selbstheilungskräfte dieser freien Gesellschaft, die sich jenseits des Atlantiks konstituierte und die mit ihren vielfältigen Krisen und Problemen oftmals besser fertig wurde als die europäischen Staaten. Hinzu kommen falsche Vorstellungen vom „Wilden Westen“ – einem uramerikanischen Begriff.
Die amerikanische Demokratie funktionierte auch in den Wildnisgebieten, selbst in scheinbar chaotischen Goldgräbercamps, Eisenbahnlagern, Trappergemeinschaften. „Gesetzlose“ Gesellschaften gibt es nicht. Jede menschliche Gesellschaft schafft sich Regeln des Zusammenlebens; sie mögen noch so schlicht sein, aber ohne Regeln gibt es keine Gemeinschaft. Auch das viel beschworene „Faustrecht“ ist eine Form von Recht, und das, was man außerhalb der Pioniergebiete darunter verstand, entsprach ohnehin nicht der Realität.
Improvisationsgabe und Wagemut waren Eigenschaften des Pioniers im Westen. Man glaube aber nicht, dass es keine Bürokratie an der westlichen „Frontier“ gab, sie war lediglich flexibel genug, sich den Tagesbedürfnissen anzupassen. Große kolonisatorische Leistungen wurden oft aus Not und Verzweiflung geboren – und waren im übrigen nicht selten das Ergebnis von Rücksichtslosigkeit und Egoismus. Engherziger Puritanismus rückte mit der Zivilisation in die Wildnisgebiete ein, aber er sorgte auch für...