Mit Störungen an der Wurzel der Entwicklung in Bezug auf AFFOLTERs Theorie der Wahrnehmungsentwicklung, Ursachen und Folgen derartiger Störungen, sowie dem Zusammenhang zwischen Wahrnehmungsstörungen und geistiger Behinderung werde ich mich im zweiten Kapitel intensiv befassen. Einführend gehe ich im Allgemeinen auf geistige Behinderung und Besonderheiten der Wahrnehmung bei Menschen mit geistiger Behinderung ein.
Es geht nun darum, einen Behinderungsbegriff zu finden, welcher für die weitere Auseinandersetzung mit AFFOLTERs Konzept der Wahrnehmungsförderung im heilpädagogischen Kontext geeignet ist.
Nach SPECK lässt sich das Phänomen „geistige Behinderung“ aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten; mehrere Wissenschaften versuchen, geistige Behinderung innerhalb ihrer Disziplin klären (vgl. 1999, 43). Aus medizinisch-biologischer Sicht werden vor allem die organischen Abweichungen und Besonderheit von geistiger Behinderung untersucht, beim psychologischen Ansatz stehen die Besonderheiten der beobachtbaren Verhaltensweisen im Mittelpunkt und beim sozialwissenschaftlichen Ansatz die gesellschaftlichen Bedingungssysteme (ebenda).
Da im Wesentlichen nur Aussagen über den Menschen mit geistiger Behinderung gemacht werden können, sich die Erfahrungen als Subjekt mit einer geistigen Behinderung dem Beobachter entziehen, besteht immer die Gefahr der verfälschten Erkenntnis (Hervorhebung im Original; vgl. SPECK 1999, 43).
„Alle Aussagen nicht behinderter Personen über den geistig behinderten Menschen sind daher nur unter Vorbehalt adäquate Aussagen.“ (ebenda)
SPECK selbst beschäftigt sich aus pädagogischer Sicht mit den Möglichkeiten der Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung. Der pädagogische Ansatz zur Beschreibung von geistiger Behinderung ist nach SPECK auf die vorher genannten Aspekte angewiesen (vgl. 1999, 43).
SPECK sieht geistige Behinderung als „normale (übliche) Variante menschlicher Daseinsformen“, wobei sich die Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung an den allgemeinen edukativen Erfordernissen, Werten und Normen orientiert (vgl. 1999, 61).
Die Spezifizierung des Pädagogischen muss in diesem Zusammenhang individuelle Bedürfnisse und Möglichkeiten berücksichtigen, sowie die sozialen Bedingungen und Erfordernisse im Sinne einer wirksamen Verbesserung der gemeinsamen Lebenssituation mit einbeziehen (ebenda).
Durch die Erziehung verändert bzw. verbessert sich der Status einer geistigen Behinderung, während er sich durch Nicht-Erziehung oder Fehlerziehung verschlechtert so SPECK (vgl. 1999, 61). Erziehung bringt einen Prozess in Gang, welcher in seinem Verlauf und Ausgang prinzipiell offen ist; bestimmt wird er durch verschiedene Faktoren wie Art und Grad der physischen Schädigung, soziale Bedingungen etc. (ebenda).
PITSCH nennt als Besonderheiten im Erscheinungsbild von Menschen mit geistiger Behinderung zum einen Auffälligkeiten in kognitiven und emotionalen Aufnahme-, Verarbeitungs- und Speicherungsprozessen, im Ausdrucksverhalten sowie in der Motorik und in der sprachlichen bzw. nichtsprachlichen Kommunikation (vgl. 2002, 15). Im Zusammenhang mit den physischen Gegebenheiten und sozialen Faktoren führen diese Besonderheiten meist zu Beeinträchtigungen der Entwicklung von kognitiven und emotionalen Fähigkeiten, zu einer umfassenden Störung des kommunikativen Bereichs und möglicherweise auch zu schweren Ausfällen im Bereich der Psychomotorik (vgl. PITSCH 2002, 15; SPECK 1999, 62f.).
Da bei AFFOLTERs Konzept der Wahrnehmungsförderung der Aspekt der gespürten Interaktion mit der Umwelt im Rahmen von Alltagsgeschehnissen als Wurzel der kindlichen Entwicklung im Mittelpunkt steht, werde ich im Folgenden kurz auf PFEFFERs handlungsorientierte Sichtweise von geistiger Behinderung eingehen.
PFEFFER (1984) beschreibt geistige Behinderung unter dem Aspekt des Erlebens und Handelns in der Alltagswirklichkeit, weshalb ich seine Sichtweise als mögliche Basis eines Behinderungsbegriffs im Rahmen der Ausführungen zum AFFOLTER-Konzept für sinnvoll halte.
Bezugspunkt für die PFEFFERs Überlegungen zu geistiger Behinderung sind hierbei nicht „normativ verstandene durchschnittliche Ausprägungen bestimmter Persönlichkeitsmerkmale“, wie z. B. Intelligenz, Sprache, Motorik etc., oder sozio-ökonomisch bzw. sozio-kulturell bedingte Isolation von der Weltaneignung durch die Gesellschaft, sondern allgemein „das Verhältnis zwischen den Individuen mit ihren Erlebens- und Handlungsdispositionen“ und des Weiteren der „konkreten, so und so strukturierten und sich wandelnden Umwelt als Erlebens- und Handlungsraum der einzelnen“ (vgl. PFEFFER 1984, 101)
PFEFFER sieht geistige Behinderung aus handlungsorientierter Sicht als „eine aus dem Bezug zwischen dem in wichtigen Handlungsdispositionen (...) mehr oder weniger beeinträchtigten Individuum und der Alltagswirklichkeit resultierenden Beeinträchtigung des Erwerbs von Qualifikationen, die zum Erleben und zur qualifizierten Partizipation an der (...) Alltagswirklichkeit notwendig sind, und damit einhergehend eine Beeinträchtigung in der Entwicklung der Person.“ (Hervorhebungen von mir; 1984, 106)
Als pädagogische Aufgabe anhand dieses Behinderungsverständnisses lässt sich folglich die Befähigung der zu erziehenden Personen zur Teilnahme an der Alltagswirklichkeit in Erleben und Handeln, sowie eine Gestaltung dieser Wirklichkeit durch die Erziehenden im Hinblick auf die individuellen, psychischen und physischen Handlungsmöglichkeiten der zu Erziehenden beschreiben (vgl. PFEFFER 1984, 106).
Dies beinhaltet nicht nur die Förderung der einzelnen, sich entwickelnden und lernenden Person, sondern auch die Veränderung der Alltagswirklichkeit hinzu einem fördernden und den Bedürfnissen dieser Person entsprechendem Lebensraum (ebenda).
Sowohl in SPECKs Definition als auch bei PFEFFER findet sich die Tatsache, dass geistige Behinderung aus pädagogischer Sicht nicht auf eine bloße psycho-physische Ursache zurückführen lässt, sondern immer eine Wechselwirkung verschiedenster Faktoren beinhaltet. Bei SPECK zeigt sich dies durch die Berücksichtigung sozialer Faktoren, bei PFEFFER findet sich der Bezug auf die Interaktion der Umwelt in der Partizipation an der Alltagswirklichkeit noch deutlicher.
Geistige Behinderung bezieht sich somit auf spezielle Erziehungsbedürfnisse, welche sich aus einer Beeinträchtigung der Entwicklung durch verschiedenste Kontextfaktoren ergeben (vgl. PFEFFER 1984,106f.; SPECK 1999, 63).
Inwieweit sich eine vorliegende geistige Behinderung auf die Wahrnehmung der betroffenen Personen auswirkt, werde ich im folgenden Kapitel erläutern.
Weil die über die Sinnessysteme aufgenommenen Informationen auch verarbeitet, also geordnet, kategorisiert und gespeichert, sowie mit anderen Informationen in Bezug gesetzt und zu Bedeutungsstrukturen erweitert werden müssen, beinhaltet Wahrnehmung immer auch einen kognitiven Aspekt, so FISCHER (vgl. 2002, 152ff.). Diese kognitiven Kompetenzen sind grundsätzlich eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für gelungene Wahrnehmungsleistungen. (ebenda) Da diese Prozesse der Reizverarbeitung bei Menschen mit geistiger Behinderung in der Regel beeinträchtig sind, ist anzunehmen, dass bei dieser Personengruppe häufig Wahrnehmungsstörungen vorzufinden sind (vgl. ACKERMANN 2001, 86f.; FISCHER 2002, 152f.).
FRÖHLICH weist ebenfalls auf den engen Zusammenhang zwischen intakter Wahrnehmung und kognitiven Strukturen hin. Demnach muss eine so genannte „Intelligenzminderung“ immer in Verbindung mit der Wahrnehmungsfähigkeit einer Person betrachtet werden (vgl. 2005, 54). Denn durch die wechselseitige Bedingtheit von Wahrnehmung und Denken kann sich eine Wahrnehmungsstörung auf die kognitive Entwicklung auswirken bzw. umgekehrt eine Intelligenzminderung die Qualität der Wahrnehmungsleistungen beeinflussen (Hervorhebung von mir; ebenda).
Besondere Merkmale im Bereich der Wahrnehmung und der Lernfähigkeit, die Menschen mit geistiger Behinderung zugeschrieben werden, sind z. B. ein geringes Lerntempo, eingeschränkte Gedächtnisleistungen, relativ geringe Abstraktionsfähigkeit, begrenzte Durchhaltefähigkeit im Lernprozess oder auch Bezogenheit der Lerninteressen auf vitale Bedürfnisse (vgl. FISCHER 2002, 152). Ferner gehen einige Autoren davon aus, dass bei diesem Personenkreis ein weniger differenziertes psychisches System vorliegt und sie damit über geringere Wahrnehmungskompetenz und einen geringeren Differenzierungsgrad der Wahrnehmungsstruktur verfügen (vgl. FISCHER 2002, 153). Zu diesen Zuschreibungen ist kritisch anzumerken, dass sie einseitig und überzogen wirken und des Weiteren ein statisches Menschenbild schaffen, welches weitere offen gebliebene Möglichkeiten unterdrückt (vgl. FISCHER 2002, 154).
Gedächtnisleitungen als ein wichtiger Bestandteil des Wahrnehmungsprozesses...