(1933)
Das Maintal zwischen Bamberg und Mainz ist mit seinen vielen Windungen eine der anmutigsten und geistreichsten deutschen Landschaften, deren verschwiegene Reize freilich ganz nur der kennenlernt, der sie zu Fuß abwandert oder, noch besser, im Faltboot an sich vorübergleiten läßt. Furten, Brücken und Straßen schufen hier seit Urzeiten kleine und größere Städte von einzigartigem Reiz. Die steilhügeligen Hochufer der fränkischen Platte bilden die eindrucksvollen Hintergründe der Talsiedlungen. Bamberg baut sich auf von der Fußsohle bis zum hohen Dom mit einer Stufung, die beinahe die berühmte von Schwäbisch-Hall übertrifft. Schweinfurt, Marktbreit, Ochsenfurt, Kitzingen, Würzburg heißt die erste Steigerung; Gemünden, Lohr, Wertheim, Miltenberg, Aschaffenburg die mittlere; Hanau, Offenbach, Frankfurt, Mainz hinaus zum Rheingau die dritte. Würzburg aber, gleich weit entfernt von Aschaffenburg und von Bamberg, ist Mitte und Kronjuwel dieses schimmerndem Stirnreifs.
Das heutige Bayern besitzt nicht nur charaktervoll ausgeprägte Städte-Individuen, sondern auch geschichtlich und architektonisch zusammengehörige Städte-Familien. Da ist vor allem in den Stammlanden die Reihe der herzoglichen Residenzen: Regensburg, Burghausen an der Salzach, Landshut, Straubing, Neuburg an der Donau, Ingolstadt, München. Da sind die geistlichen Fürstensitze: Kempten, Freising, Eichstätt, Regensburg, Bamberg, Würzburg, Aschaffenburg. Eine deutliche Reihe und Steigerung je für sich bilden die vier katholischen Innstädte im Süden: Rosenheim, Wasserburg, Mühldorf, Passau, und die drei evangelischen Markgrafenstädte im Norden: Erlangen, Bayreuth, Ansbach. Und nun erst kommt die lange Süd-Nord-Reihe der freien Reichsstädte von Lindau über Memmingen, Kaufbeuren, Mindelheim zu dem ersten Glanzpunkt Augsburg und weiter über Donauwörth, Nördlingen, Dinkelsbühl, Rothenburg ob der Tauber zum zweiten, Nürnberg. Zu ihr bildet die Ost-West-Reihe der vier alten geistlichen Fürstensitze Bamberg, Würzburg, Aschaffenburg, Mainz die Senkrechte. Von jeder dieser Städte gilt, was Goethe 1786 auf der Fahrt nach Italien über Regensburg schreibt: »Die Gegend mußte eine Stadt herlocken.« Würzburg aber, eine Zeitlang Reichsstadt, seit Jahrhunderten zugleich geistlicher Fürstensitz wie Regensburg, ist noch einiges mehr.
Zunächst ist Würzburg von jeher neben Kitzingen der Mittelpunkt des fränkischen Weinhandels. Zu einer Zeit, die weder vom Pfalzwein noch vom Moselwein etwas weiß, nennt der Vers, der die edelsten Reben aufzählt, neben einem Rheinort zwei Mainorte:
»Zu Klingenberg am Maine, Zu Würzburg an dem Steine, Zu Bacherach am Rheine Wachsen die besten Weine.«
Noch im 18. Jahrhundert steht der Frankenwein allein ebenbürtig neben dem Rheinwein, und Würzburger Weißwein ist der tägliche Haustrunk des alten Goethe. Aber Würzburg liegt nicht nur sehr günstig inmitten der altberühmten Weindörfer: Iphofen, Sommerach, Volkach, Rödelsee, Randersacker, ihm zu Häupten steht zugleich das weithin strahlende Doppelgestirn des fränkischen Weinbaus überhaupt: die jahrhundertealte Frage, ob dem Stein oder dem Leisten die Krone gebühre, diese Frage wird je nach Jahrgang und Lage glücklicherweise immer wieder von neuem aufgeworfen und von Kennern gründlich geprüft werden müssen. Wenn der dunkle Bocksbeutel, die niedrige, stämmige, bauchige Flasche des Frankenweins, entkorkt ist, und ein Pfülben oder Escherndorfer von wackerem Wachstum und gesegnetem Jahrgang – der letzte herrliche war 1929 – golden im Glase funkelt, so duftet das Gemach nach dem verjährten Sonnenschein eines gnadenvollen Herbstes.
Aber Würzburg ist nicht nur seit fast 1200 Jahren Bischofssitz, es war auch über 800 Jahre lang eine Festung, und diesem Umstände verdankt es, als nach 1866 endlich der als drückend empfundene Reif der Befestigungswerke gelöst wird, den grünen Kranz seiner Glacis und Ringstraßen, einen schmalen Park mit vornehmen alten Bäumen, gepflegten Anlagen und reizenden Fußwegen, der sein südliches Gegenstück im Salzburger Mönchsberg hat. Salzburg, Bamberg, Würzburg – schon Alfred Lichtwark, der weitgereiste, feinsinnige Direktor der Hamburger Kunsthalle, der »wie ein Verliebter« durch schöne Städte ging, hat das Gemeinsame dieser drei geistlichen Sitze sofort erkannt: »ein Ausdruck des Willens fürstlicher Menschen, die es heute nicht geben kann. Der Bischof als Lebensprinzip seines kleinen Roms wollte das Höchste, was seine Mittel erlaubten, und er setzte es durch. Mit Bamberg und Salzburg hat Würzburg die Grundgestalt gemeinsam, den hohen Fels mit der Veste des Mittelalters, die Stadt zu seinen Füßen, die in den Zeiten der Sicherheit und Unumschränktheit des 17. und 18. Jahrhunderts ausgestaltet wurde.«
Eine vierte Stadt noch kommt einem unwillkürlich in den Sinn, wenn man, nichts suchend, sondern nur offenen Auges auf Schritt und Tritt findend, das alte Würzburg auf sich wirken läßt, nämlich der innerste Kern von Wien, der adelige erste Bezirk: hier wie dort keine weithin durchgreifenden Straßenzüge – wie etwa in Augsburg vom Dom bis Sankt Ulrich, oder in Nürnberg vom Königstor bis zur Kaiserburg –, sondern ein durch das äußere Polygon der Festung bedingtes Innen-Polygon von Straßen, im Falle Würzburg Juliuspromenade – Theaterstraße – Hofpromenade – Neubaustraße. Hier wie dort in der Mitte der Dom und, gewissermaßen die alten Straßenzüge enger aneinanderdrückend, die raumschwelgerischen gewaltigen Baumassen der Wiener Hofburg und der Würzburger Residenz. Ringsherum aber, vom Fluß ausgehend und in einer riesigen Schleife zum Fluß zurückleitend, hier wie dort der Park-Ring der aufgelassenen alten Umwallung, ein breites grünes Dreiviertelsrund, erfüllt von Luft und Licht und Sonne.
Schön und offen bietet sich die Stadt von oben, von der Höhe der Festung des gegenüberliegenden Ufers. Von hier aus sah sie Heinrich von Kleist »in der Abenddämmerung, nicht ohne inniges Vergnügen. Die Höhe senkt sich allmählich herab, und in der Tiefe liegt die Stadt, wie in der Mitte eines Amphitheaters. Von beiden Seiten hinter ihr ziehen im halben Kreise Bergketten sich heran und nähern sich freundlich, als wollten sie sich die Hände geben.« Doch nicht minder schön empfängt sie den Wanderer, der sich ihr auf der natürlichen Zufahrtsstraße von Veitshöchheim her nähert. Dann wachsen ihre vielen Türme zusammen zum geschlossenen Bilde der geistlichen Stadt. Neben dem Vierkant des Grafen-Eckart-Turms des Rathauses steht der seine durchbrochene rötliche Turmhelm der spätgotischen Marienkapelle, in der Mitte beherrschend die vier romanischen Türme des Doms, daneben die barocken Kuppelbauten von Neumünster und die mächtigen Westtürme neben der Vierungskuppel von Stift Haug, Bauwerke aus einem halben Jahrtausend einträchtig nebeneinander, von denen jedes, organisch gewachsen, ruhig seine eigentümliche Formensprache verkündet.
Man kann nicht in Würzburg herumgehen, ohne immer wieder auf zwei Namen zu stoßen, beides Namen von Fürstbischöfen. Der eine ist der Spessartsproß Julius Echter von Mespelbrunn, eine Gestalt von Renaissanceausmaßen, jeder Zoll ein Herrscher, hart und groß, der Stifter des Julius-Spitals und der Universität, der sein Bistum verwaltete mit Schwert und Stole. Der andere Name ist Schönborn: die beiden rheinischen Grafen und Fürstbischöfe Johann Philipp Franz und Friedrich Karl, die Erbauer der Würzburger Residenz, des »vollkommensten Profanbaus des 18. Jahrhunderts«, wie Dehio sie nennt, eines der herrlichsten Stücke Barockarchitektur nicht nur in deutschen Landen. Denn abermals muß man an Wien denken, will man ein Seitenstück finden, an Lukas von Hildebrandts Palais für den Prinzen Eugen, das Belvedere: der wegen des tiefen Ehrenhofs manchmal angezogene Vergleich der Würzburger Residenz mit Versailles ist ein Unrecht gegen die unvergleichlich genialere Schöpfung Balthasar Neumanns. Neben ihr verblassen selbst so großgedachte Anlagen wie Bruchsal, und nur die Leistungen allerersten Ranges halten sich, wie Belvedere und Hofburg in Wien und Schlüters Berliner Schloß. Es lag durchaus im Stil einer so monumentalen Baugesinnung, wenn zum letzten Schmuck der herrlichen langen Flucht von Sälen und Zimmern, nämlich zur Ausmalung der repräsentativen Räume der Würzburger Residenz, des kühn angelegten Treppenhauses, der üppigen Hofkirche und des grandiosen Kaisersaals, aus Italien der virtuoseste Künstler berufen wurde, den Europa damals in dieser Gattung aufwies: Gian Battista Tiepolo, dessen Würzburger Deckenkolossalgemälde die 3oojährige Geschichte der venezianischen Malerei mit berauschender Festlichkeit beschließen. Wohl bleibt die größte Sehenswürdigkeit einer Stadt immer sie selbst; ihre Straßen und öffentlichen Plätze mit ihren Baudenkmalen. Doch liegt es im Wesen eines Gemeinwesens von so ausgesprochen kirchenfürstlicher Vergangenheit, daß auch die Innenräume seiner Hauptkirchen von selbst zu stadtgeschichtlichen Sehenswürdigkeiten werden, zu steinernen Ahnengalerien im großen Stil. In diesem Sinne wäre es ein Versäumnis, nicht in den aus dem 12. und 13. Jahrhundert stammenden Dom einzutreten, vor allem wegen der an den Pfeilern des Mittelschiffs befindlichen Bischofsgrabmäler, neben jenen im Dom von Mainz »die großartigste Reihe, die Deutschland besitzt«. Die zwei berühmtesten stammen von einem Bildhauer, der an der Grenzscheide von Mittelalter und Renaissance steht, und den man nirgends so kennenlernt wie in Würzburg, von Tilman...