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E-Book

Warum wir denken, was wir denken

Wie unsere Überzeugungen und Mythen entstehen

AutorJordan B. Peterson
Verlagmvg Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl1008 Seiten
ISBN9783961212453
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Warum entstehen in verschiedenen Kulturen stets ähnliche Mythen und Glaubensvorstellungen? Und was sagt das über menschliche Denkprozesse und unser Verständnis von Welt aus? Der klinische Psychologe und Bestsellerautor Jordan B. Peterson erklärt mithilfe der Psychoanalyse und der neuesten Erkenntnisse aus der Neuropsychologie, dass hinter diesen kulturellen Phänomenen grundlegende, psychologische Strukturen angelegt sind, die dazu dienen, das Leben tagtäglich zu bewältigen. Bahnbrechend und provokant analysiert der kanadische Kulturkritiker anhand zahlreicher Beispiele die Bedeutung unseres Glaubens, gibt beeindruckende Einblicke in das Wesen und die Funktion unseres Gehirns und lehrt uns dadurch ein verantwortungsvolleres Miteinander.

Jordan Peterson ist ein kanadischer klinischer Psychologe, Kulturkritiker und Professor für Psychologie an der Universität von Toronto. Er forscht hauptsächlich über die Psychologie des religiösen und ideologischen Glaubens und die Bewertung wie Verbesserung menschlichen Verhaltens und Auftretens. Von 1993 bis 1997 lehrte und forschte er als Assistent und außerordentlicher Professor in Harvard. Sein Fokus lag vor allem auf der Untersuchung menschlichen Aggressionsverhaltens ausgelöst durch Drogen- und Alkoholmissbrauch. Auch widmete er sich dort weiteren unkonventionellen Theorien. Danach kehrte er nach Kanada zurück.

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Leseprobe

1

Erfahrungslandkarten

Objekt und Bedeutung


Man kann die Welt mit Recht als Handlungsraum oder als Ort der Dinge verstehen.

Die erste Interpretationsart – die ursprünglicher und weniger klar verständlich ist – kommt in den Künsten oder Geisteswissenschaften, in Ritual, Drama, Literatur und Mythologie zum Ausdruck. Die Welt als Handlungsraum ist ein Ort der Werte, ein Ort, an dem alle Dinge eine Bedeutung haben. Diese Bedeutung, die sich im sozialen Austausch formt, ist eine Implikation für das Handeln oder – auf einer höheren Analyseebene – eine Implikation für die Konfiguration des Interpretationsschemas, das Handlungen erzeugt oder leitet.

Die zweite Interpretationsart – die Welt als Ort der Dinge – findet ihren formalen Ausdruck in den Methoden und Theorien der Wissenschaft. Die Wissenschaft erlaubt eine immer genauere Bestimmung der intersubjektiv validierbaren Eigenschaften von Dingen und eine effiziente Nutzung genau bestimmter Dinge als Werkzeuge (sobald die Richtung, in die diese Verwendung gehen soll, mithilfe grundlegenderer Erzählprozesse bestimmt wurde).

Ohne beide Interpretationsmodi anzuwenden, lässt sich kein vollständiges Weltbild generieren. Die Tatsache, dass die Modi gewöhnlich als in gegenseitigem Widerspruch stehend gesehen werden, zeigt nur, dass ihre jeweiligen Bereiche dem Wesen nach noch nicht hinreichend unterschieden werden. Anhänger der mythologischen Weltsicht tendieren dazu, die Aussagen ihrer Glaubensbekenntnisse nicht von empirischen »Fakten« zu unterscheiden, obwohl diese Aussagen meist lange bevor die Idee einer objektiven Realität entstand formuliert wurden. Diejenigen, die die wissenschaftliche Perspektive übernehmen – die annehmen, dass diese vollkommen ist oder werden könnte –, vergessen hingegen, dass eine unüberwindliche Kluft momentan das, was ist, von dem, was sein sollte, trennt.


Wir müssen vier Dinge wissen:

was da ist,

was mit dem, was da ist, zu tun ist,

dass es einen Unterschied zwischen dem Wissen, was da ist, und dem Wissen, was damit zu tun ist, gibt

und was dieser Unterschied ist.


Etwas zu erkunden, zu »entdecken, was es ist« – das bedeutet vor allem, seine Bedeutung für eine motorische Reaktion innerhalb eines bestimmten sozialen Kontexts zu entdecken, und erst im Besonderen, seine exakte, objektive sensorische oder materielle Natur zu bestimmen. Das ist Wissen im einfachsten Sinne – und dieses Wissen ist meist ausreichend.

Stellen Sie sich ein Baby vor, das im Rahmen seiner ersten zaghaften Erkundungen herumtapst und auf eine Arbeitsplatte greift, um eine zerbrechliche und teure Glasskulptur zu berühren. Es betrachtet ihre Farbe, sieht ihren Glanz, fühlt, dass sie sich glatt und kühl und schwer anfühlt. Plötzlich greift die Mutter ein, packt seine Hand und sagt ihm, dass es dieses Objekt nie wieder anfassen soll. Das Kind hat soeben eine Reihe von konkreten Folgerungen über die Skulptur gelernt – es hat sicherlich seine sensorischen Eigenschaften ermittelt. Noch wichtiger aber ist die Einsicht, dass die Skulptur gefährlich ist, wenn man sich ihr auf die falsche Weise nähert (zumindest in Anwesenheit der Mutter). Es hat zudem herausgefunden, dass die Skulptur in ihrer gegenwärtigen, unveränderten Gestalt wichtiger ist als sein Forscherdrang – zumindest (wiederum) für die Mutter. Das Baby hat gleichzeitig ein Objekt (aus der empirischen Perspektive) und dessen soziokulturell bestimmten Status kennengelernt. Das empirische Objekt ist sozusagen die Summe seiner sensorischen Eigenschaften. Mit dem Status des Objekts ist hingegen seine Bedeutung gemeint – seine Implikation für das Verhalten. Alles, was dem Kind begegnet, hat diese Doppelnatur, die von dem Kind als Teil einer vereinigenden Totalität erfahren wird. Alles ist etwas und bedeutet etwas – und zwischen Wesen und Bedeutung wird nicht notwendigerweise klar unterschieden.

Die Bedeutung von etwas – die in Wirklichkeit durch explorative Tätigkeiten in seiner Umgebung bestimmt wird – tendiert dazu, »natürlich« mit dem Objekt selbst zu verschmelzen. Das Objekt ist schließlich die proximale Ursache oder der Stimulus, der die Handlungen, die in seiner Gegenwart ausgeführt werden, »hervorruft«. Für Menschen, die sich natürlich verhalten, wie das Kind, ist die Bedeutung von etwas mehr oder weniger ein untrennbarer Teil des Dinges, Teil seiner Magie. Die Magie beruht natürlich auf der Erfassung der spezifischen kulturellen und intrapsychischen Bedeutung des Dinges und nicht auf seinen objektiv bestimmbaren sensorischen Eigenschaften. Jeder versteht, wenn ein Kind zum Beispiel sagt: »Ich habe einen unheimlichen Mann gesehen.« Die Beschreibung des Kindes ist unmittelbar und konkret, obwohl es dem Wahrnehmungsobjekt eine Eigenschaft zugeschrieben hat, die eigentlich kontextuell ist – abhängig und subjektiv. Es ist schließlich schwierig, die subjektive Natur von Angst zu erkennen und Bedrohung nicht als Teil der »realen« Welt wahrzunehmen.

Dingen automatisch Bedeutung zuzuweisen – oder das anfängliche Unvermögen, sie zu unterscheiden –, ist charakteristisch für das narrative, das mythische im Gegensatz zum wissenschaftlichen Denken. Das Narrative erfasst genau das Wesen der rohen Erfahrung. Dinge sind unheimlich, Menschen sind nervig, Ereignisse sind vielversprechend, Essen ist lecker – zumindest in den Begriffen unserer einfachen Erfahrungen. Der moderne Geist, der glaubt, den Bereich des Magischen hinter sich gelassen zu haben, ist nichtsdestotrotz noch immer unendlich »irrationaler« (das ist motivierter) Reaktionen fähig. Wir verfallen dem Bann der Erfahrung, wann immer wir unsere Frustration, Aggression, Zuneigung oder Begierde der Person oder Situation zuschreiben, die als proximale »Ursache« dieser Erregung vorhanden ist. Wir sind (Gott sei Dank!) noch nicht »objektiv«, nicht einmal in unseren klarsten Momenten. Wir lassen uns sofort in einen Film oder einen Roman hineinziehen und setzen willentlich unsere Ungläubigkeit aus. Wir lassen uns unwillkürlich von einer ausreichend einflussreichen kulturellen Persönlichkeit imponieren oder einschüchtern (einem intellektuellen Idol, einem Spitzensportler, einem Filmschauspieler, einem führenden Politiker, dem Papst, einer berühmten Schönheit, sogar unserem Vorgesetzten in der Arbeit) – also von jedem, der die oft impliziten Werte und Ideale, die uns vor dem Chaos schützen und uns Orientierung bieten, verkörpert. Wie das mittelalterliche Individuum brauchen wir nicht einmal die Person selbst, damit so ein Affekt ausgelöst wird. Es reicht bereits ein ikonisches Zeichen. Wir geben große Summen für Kleidungsstücke aus, die von den Berühmten und Berüchtigten unserer Zeit getragen wurden, oder für persönliche Gegenstände, die von ihnen benutzt oder kreiert wurden.1

Der »natürliche«, vorexperimentelle oder mythische Geist beschäftigt sich primär mit Bedeutung – die im Wesentlichen Handlungsimplikation ist – und nicht mit der »objektiven« Natur. Das formale Objekt, wie es vom modernen, wissenschaftlich orientierten Bewusstsein konzeptualisiert ist, erscheint wohl denjenigen, die noch von der mythischen Imagination bestimmt werden – wenn sie es überhaupt »sehen« –, als irrelevante Hülle, als das, das übrig bleibt, nachdem man alles Faszinierende entfernt hat. Für den Vorexperimentalisten ist das Ding vor allem die Bedeutung seiner sensorischen Eigenschaften, wie er sie subjektiv erlebt – im Affekt oder in der Emotion. Und in Wahrheit – im realen Leben – bedeutet zu wissen, was etwas ist, noch immer, zwei Dinge von ihm zu kennen: seine motivationale Relevanz und die spezifische Art seiner sensorischen Eigenschaften. Diese beiden Formen des Kennens beziehungsweise Wissens sind nicht identisch. Darüber hinaus geht das Erfahren und Wahrnehmen des Ersten notwendigerweise der Entwicklung des Zweiten voraus. Etwas muss eine emotionale Wirkung haben, bevor es genug Aufmerksamkeit auf sich zieht, um in Bezug auf seine sensorischen Eigenschaften erkundet und kartiert zu werden. Diese sensorischen Eigenschaften – von primärer Bedeutung für den Experimentalisten oder Empiristen – haben nur insofern Bedeutung, als sie als Hinweise für die Bestimmung der spezifischen affektiven Relevanz oder Bedeutung für das Verhalten dienen. Wir müssen wissen, was ein Ding ist, nicht um zu wissen, was das Ding ist, sondern um herauszufinden, was es bedeutet – um zu verstehen, was es für unser Verhalten bedeutet.

Es brauchte Jahrhunderte strenger Disziplin und intellektuellen Trainings, sowohl religiös als auch protowissenschaftlich und wissenschaftlich, um einen Geist zu schaffen, der in der Lage ist, sich auf Phänomene zu konzentrieren, die noch nicht oder nicht mehr unmittelbar an sich packend sind – um einen Geist zu schaffen, der real und relevant als zwei unterschiedliche Dinge auffasst. Alternativ könnte man behaupten, dass all das Mythische noch gar nicht aus der Wissenschaft verschwunden ist, die sich so sehr mit dem menschlichen Fortschritt befasst, und dass es dieser nicht triviale Rest ist, der dem...

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