Leseprobe Vorwort Niemals habe ich daran gedacht, ein Buch zu schreiben, und es ist auch nicht so, als würden mir meine Arbeit als Palliativmedizinerin und der Familienalltag als Mutter dreier Söhne viel Muße lassen. Eines Tages jedoch rief mich Frau Rotter vom Piper Verlag an. Sie hatte den Film »Halt auf freier Strecke« von Andreas Dresen gesehen. Darin geht es um die Geschichte eines Mannes, der an einem Gehirntumor erkrankt und zu Hause sterben will. Die Rollen der verantwortlichen Mediziner in diesem Film waren mit echten Ärztinnen und Ärzten besetzt. Eine davon war ich. Meine Aufgabe war es, wie im wirklichen Leben, den Patienten palliativmedizinisch zu versorgen und ihm das Sterben zu Hause zu ermöglichen. Damit stand dieses Thema auf einmal im Licht der Öffentlichkeit. Frau Rotter und ich verabredeten ein erstes Treffen. Sie wollte mehr wissen über meine Arbeit, meine Erfahrungen mit dem Sterben und den Sterbenden zu Hause, über die Angehörigen und deren Nöte sowie über die Hilfe und Beratung, die ich als Palliativmedizinerin leisten kann gegen die Schmerzen, die Komplikationen und die Angst. Denn genau das bedeutet Palliativmedizin: Wir versuchen nicht, zu heilen, was nicht zu heilen ist, wir lindern Schmerzen und Beschwerden und bemühen uns, den Patienten und ihren Angehörigen ihre Ängste zu nehmen. Davon, meinte Frau Rotter, sollte das Buch handeln. Seit vierzehn Jahren begleite ich Sterbende und deren Familien, damit meine Patienten dort sterben können, wo sie gelebt haben. In meinem Beruf habe ich fast ausschließlich mit Krebskranken zu tun. Die Palliativmedizin ist aus der Onkologie hervorgegangen, der Erkenntnis folgend, dass eine Chemotherapie ab einem gewissen Stadium medizinisch sinnlos ist. Man kann gegen das Krebswachstum nichts mehr tun. Es geht nicht länger darum, ob der Patient stirbt, sondern nur noch um die Frage, wie. Und palliativmedizinische Dienste wie »Home Care Berlin« ermöglichen es ihm, sich für ein Sterben zu Hause zu entscheiden. Sie bilden Netzwerke zur ambulanten Versorgung, und sie vermitteln spezialisierte Pflegekräfte und Palliativmediziner wie mich. Sterben ist ein sehr intimer Prozess. Jeder unheilbar Kranke ist unsicher und voller Angst. Er wünscht sich vor allem Ruhe und Geborgenheit, die er am besten in seiner vertrauten Umgebung findet. Fast jeder Mensch möchte sein Lebensende zu Hause verbringen, im Kreis seiner Familie, seiner Freunde oder auch allein. Fast jeder möchte so sterben, wie er gelebt hat. Doch das Sterben wurde in den letzten Jahrzehnten immer weiter ausgelagert und versteckt. Es findet meist nicht mehr zu Hause statt, sondern in der Anonymität von Krankenhäusern und Pflegeheimen. Obwohl wir wissen, dass es früher oder später jeden von uns trifft, klammern wir es aus unserem Leben aus. Meist ist es nicht die Angst vor dem Tod, die uns an der Auseinandersetzung damit hindert, sondern die Angst vor dem Weg dorthin: vor den Schmerzen und Qualen, dem Alleingelassensein in einer Institution mit fremden Menschen, denen man sich ausgeliefert fühlt. Es ist die Angst vor dem Verlust jeglicher Selbstbestimmung und individueller Würde, vor dem Warten auf den Tod als letzten Gnadenakt. Zumindest diese Angst, nur noch eine Nummer in der medizinischen Maschinerie zu sein, kann uns das Sterben zu Hause nehmen. Um aber unser Sterben so zu gestalten, wie es uns entspricht, müssen wir darüber reden. Wir müssen lernen, das Sterben zu einem unserer Lebensthemen zu machen. Nur wenn wir unsere Wünsche und Vorstellungen auch mitteilen, wissen unsere Angehörigen und Freunde, wie sie in unserem Sinne reagieren sollen, wenn es so weit ist. Wir selbst sind dafür verantwortlich, dass an unserem Lebensende Menschen da sind, die sich um uns kümmern. Ein Leben, das ohne Rücksicht auf andere Menschen geführt wurde, in dem es wenig Liebe, Fürsorge und echte Freundschaft gegeben hat, wird meist auch ein einsames Ende nehmen. Gerade im Sterben braucht man tragfähige soziale Bindungen. Das ist oft die Familie, aber es können auch enge Freunde sein, die in unserer Zeit häufig an die Stelle von nicht vorhandenen oder weit entfernt lebenden Familienmitgliedern treten. Ein riesiger Bekanntenkreis bedeutet jedoch nicht, dass man am Lebensende auf ihn bauen kann. Das Sterben entlarvt jede Art von Oberflächlichkeit. Beim Schreiben dieser Geschichten aus meiner palliativmedizinischen Praxis kamen mir oft die Tränen. Ich habe jede Sterbebegleitung noch einmal durchlebt. Manchmal dachte ich, ich könnte nicht weiterschreiben, weil es so viel Kraft kostete, mich diesen Erfahrungen vom Leben und Sterben wieder zu stellen. Es sind tröstliche, manchmal auch weniger tröstliche Geschichten. Sie beschreiben mit größtmöglicher Ehrlichkeit den Sterbeweg sehr verschiedener Menschen. Nicht jede Geschichte hat ein versöhnliches Ende, so wie nicht jedes Leben eines hat. Doch in allen Geschichten wird deutlich, dass das Sterben leichter ist, wenn man Menschen um sich herum hat, die bereit sind, diesen letzten Weg mitzugehen, weil sie einen Teil des Lebens mitgegangen sind. Die Liebe zu einem Menschen lässt einen vieles ertragen, auch, dass man in der Sterbebegleitung manchmal an das Ende seiner Kräfte gerät. Denn selbst in den Momenten der Unruhe, der Krisis, erkennt man den Menschen, den man liebt, und denkt oft in schwierigen Phasen: »Ja, so ist er immer gewesen, so kenne ich ihn ...« Sicher gibt es manchmal Krankheitsverläufe, die ein Sterben zu Hause erschweren oder verhindern. Manchmal ist es gut zu wissen, dass als letztes Mittel die Möglichkeit einer Einweisung in ein Hospiz oder ein Krankenhaus besteht. Doch die meisten Menschen sterben ohne große Komplikationen in Ruhe und Frieden, wenn die palliativmedizinische Versorgung gewährleistet ist. Man muss sich nur trauen, dieses Wagnis einzugehen. Hat man sich dafür entschieden, wird man überrascht sein, wie viele Menschen zu helfen bereit sind. Wer offen über das Sterben redet, trifft in der Regel auch auf Offenheit bei seinen Mitmenschen. Darauf vertraue ich auch, wenn ich dies schreibe und nach Worten suche für diese sehr persönlichen Begegnungen, die mich durch meine Arbeit und mein Leben begleiten. Also doch ein Buch! Es enthält Geschichten vom Sterben in den unterschiedlichsten Facetten - so vielfältig wie die Personen, denen sie sich widmen. Keinem meiner Patienten ist der Schritt von der stationären Behandlung im Krankenhaus in die palliativmedizinische Versorgung zu Hause leichtgefallen. Jeder Angehörige hatte anfangs seine eigenen kleinen oder großen Schwierigkeiten. Doch die meisten blicken heute gern auf diese Zeit zurück, dankbar dafür, dass ein geliebter Mensch sich ihnen anvertraut hat, und stolz darauf, dass sie ihm das Gefühl geben konnten, als Individuum respektiert zu werden bis zuletzt. Die Sterbebegleitung hat ihnen etwas gegeben, was sie nicht missen möchten. Und sie hat ihnen nicht zuletzt die Angst vor dem eigenen Sterben genommen. Diese sich immer wieder bestätigende Erfahrung hat mich beim Erzählen der Geschichten geleitet. Es sind Geschichten gegen die Angst, Geschichten der Zuversicht, dass sich auch schwierigste Situationen gemeinsam bewältigen lassen. Meine Hoffnung ist, dass vielleicht der eine oder andere Leser in diesen Geschichten ein Stück von sich selbst wiederfinden kann und den Mut fasst, im eigenen Familienkreis über das Sterben zu Hause zu sprechen. Ich konnte diese Geschichten nur mit der Unterstützung eines Autors schreiben. Vor meinem ersten Zusammentreffen mit John von Düffel war ich sehr skeptisch, ob es funktionieren würde. Ich bin kein Kopfmensch, bei mir muss die emotionale Seite stimmen, zumal bei diesen Geschichten, die meine Gedanken, meine Gefühle und einen wichtigen Teil meines Lebens beinhalten. John von Düffel ist ein Mensch und Autor, dem ich mich öffnen konnte. Durch seine ruhige, wohlwollende Art schaffte er einen Raum, in dem ich mir alles von der Seele reden konnte, weil ich wusste, dass da einer saß, der mich verstand. Er verstand mit seinem Herzen, was ich ausdrücken wollte, ohne lange Erklärungen. Und er gab mir immer wieder den Mut, weiterzuschreiben. Ohne ihn wäre dieses Buch nie entstanden. Fast bin ich traurig darüber, dass es nun geschrieben und unsere Zusammenarbeit damit beendet ist. Es war für mich eine fruchtbare Zeit, denn die Bedeutung vieler Geschehnisse wurde mir erst durch die gemeinsame Arbeit an diesen Geschichten bewusst. Petra Anwar Berlin, im Oktober 2012 Die geschenkte Zeit Maike Jeder Tod hat seine Geschichte, und wer den Prozess des Sterbens begleitet, ob als Ärztin, Krankenschwester, Pfleger oder Familienmitglied, der wird in diese Geschichte mit hineingezogen. Mal tiefer, mal weniger tief - je nachdem, wie man sich einlässt und wie man eingelassen wird. Die Geschichten des Sterbens folgen ihren eigenen Gesetzen. Alles ist gedrängter, unmittelbarer und unverstellter als im täglichen Leben. Denn jede dieser Geschichten steht im Zeichen ihres Endes. Die Zeit ist knapp, das ist allen Beteiligten bewusst, und zugleich gibt es eine große Ungewissheit über den Zeitpunkt, die Art und Weise, über vieles, was bevorsteht. Jeder in dieser Geschichte erlebt sie zum ersten und zum letzten Mal. Als Palliativmedizinerin versuche ich, den Sterbenden und ihren Angehörigen in diesem Prozess vor allem zweierlei zu vermitteln: Sicherheit und Vertrauen, nicht nur in meine Fähigkeiten als Ärztin, sondern ebenso in mich als Person. Ich kann mich nicht hinter einem weißen Kittel verstecken, ich bin nicht Teil eines Apparats oder einer größeren Organisation wie eines Krankenhauses. Ich bin bei den Sterbenden und ihren Familien zu Hause, in ihren Räumen, ihrem Leben. Ich komme als Petra Anwar zur Wohnungstür herein und trete in eine Beziehung mit den Menschen, die hier leben, und dem Menschen, der hier sterben wird. Es beginnt ein Wechselspiel von Nähe und Distanz wie in jeder Beziehung. Auch nach vielen Berufsjahren weiß ich am Anfang dieses Prozesses nicht, wie nah mir der Sterbende kommen wird - und wie nah mir sein Tod am Ende geht. Anfang Dezember 2010 beginne ich mit der Betreuung einer Frau, deren Lebenslauf dem meinen gar nicht so unähnlich ist. Maike ist neunundvierzig Jahre alt, verheiratet, von Beruf Krankenschwester, Mutter von zwei Töchtern, siebzehn und fünfzehn Jahre alt, eine starke, tatkräftige Persönlichkeit. Doch Maike leidet seit mehreren Jahren an einem metastasierten Tumor des Magens. Unzählige Operationen und Bestrahlungen liegen hinter ihr. Es bestehen keine spezifischen Behandlungsoptionen mehr, auch die Möglichkeiten der Chemotherapie sind erschöpft. Maike ist »austherapiert«. Bei meinem ersten Besuch sprechen wir lange darüber, was es für ihr Leben bedeutet, wenn sie jetzt aus der onkologischen in die palliativmedizinische Versorgung kommt. Die onkologische Behandlung ist für meine Patienten gleichbedeutend mit Heilung oder zumindest mit Lebensverlängerung. Der Tod ist kein Thema, er hat noch kein Gesicht. Alle Kraft wird für die Chemotherapie benötigt. Der Übergang in die palliativmedizinische Versorgung ist ein tiefer Einschnitt. Er bedeutet für den Patienten, dass er den Kampf gegen den Krebs verloren hat. Der Tod nimmt Gestalt an. Jetzt geht es um den Weg des Sterbens, um die Linderung des Leids und den Umgang mit der Angst. Jeder Patient reagiert auf diese Veränderung anders. Verzweiflung, Resignation, Erleichterung liegen nahe beieinander. Maike hat viele Jahre als Krankenschwester gearbeitet. Sie ist sich über den Verlauf ihrer Erkrankung völlig im Klaren und geht ganz sachlich damit um. Von dem Gedanken an Heilung hat sie sich verabschiedet. Maike weiß, dass sie stirbt. Jetzt geht es darum, die körperlichen Symptome in den Griff zu bekommen - Schmerzen, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Wasser im Bauch. Es geht um Lebensqualität, nicht um Lebensquantität. Es ist ein sehr offenes Gespräch, das uns beide viel Kraft kostet. Maike will sich vergewissern, ob ich für sie die richtige Ärztin bin und ob sie auf mich bauen kann. Denn sie wird mir, wie sie es nennt, irgendwann »ausgeliefert« sein. Anfangs ist sie sehr zurückhaltend, förmlich, distanziert, auch wenn sie über ihren Zustand mit großer Direktheit redet. Es ist wie eine Testphase. Ich spüre, wie sehr ihre Entscheidung für oder gegen mich davon abhängt, ob ich ihre Wünsche und Bedürfnisse auf diesem letzten Weg verstehe. Wir sitzen in ihrem Zimmer, lichtdurchflutet, Kinderzeichnungen an der Wand, Regale mit vielen Büchern und Musik-CDs. Es ist ein optimistisches Zimmer, ganz hell. Am Ende sagt Maike Ja und gibt mir die Hand. Mithilfe verschiedener Medikamente wie Morphin, Cortison, Entwässerungs- und Abführtabletten gelingt es, die Symptome zu lindern. Der Stuhlgang wird regelmäßiger, das Wasser im Bauch geht zurück, Übelkeit und Schmerzen lassen nach. Am Anfang macht das Morphin Maike sehr müde, eine Nebenwirkung, die mit der Zeit nachlassen wird, wie ich ihr mehrfach versichern muss. Und so kommt es dann auch. Maike muss nicht mehr die meiste Zeit im Bett verbringen, ihre Freiräume werden größer. Selbstverständlich bestimmt der Tumor weiterhin ihren täglichen Lebensrhythmus, aber daran ist Maike seit Jahren gewöhnt und kann es in ihren Alltag integrieren. Das bedeutet für sie, sich beim Essen viel Zeit zu lassen, Milchprodukte zu meiden und sich nach jeder Mahlzeit zu bewegen. Dann geht der Tag gut. Die nächsten drei Monate verlaufen relativ komplikationslos. Hin und wieder treten Schmerzen, Übelkeit und Stuhlgangschwierigkeiten auf, aber letztlich schlagen die Medikamente in ständig angepasster Dosierung gut an. Maike kann für einige Stunden die Wohnung verlassen, besucht Freunde, ist sehr aktiv. Und sie genießt es. Doch ihr Tatendrang ist mir nicht ganz geheuer: Wie lange wird das gut gehen? Dann, Anfang März, gerade als der Frühling beginnt, gerät sie in eine psychische Krise. Sie erträgt die Situation nicht mehr. Körperliche Beschwerden sind kaum vorhanden, aber ihre Seele ist krank. Sie hat den Tod jetzt immer vor Augen. Die Ausweglosigkeit ihrer Situation macht ihr das Leben zur Qual. Maike sieht keinen Sinn mehr darin weiterzumachen. Auf meine Einwände, dass sie im Moment doch keine größeren Schmerzen habe, reagiert sie wütend. Sie fühlt sich nicht ernst genommen. Immer wieder kommt sie auf aktive Sterbehilfe zu sprechen, fordert sie offen von mir ein. Jedes Gespräch mit ihr wird zu einer Zerreißprobe. Bitten, Vorwürfe, Angriffe - und hinter allem Verzweiflung. Maike will nicht mehr. Der geplante Familienurlaub an der Ostsee wird abgesagt. Maikes jüngere, fünfzehnjährige Tochter geht nicht mehr in die Schule, ist offiziell krankgemeldet wegen einer schweren Erkältung. Sie verliert die Stimme, bringt kaum noch einen Ton hervor. Die plötzliche Veränderung und Verzweiflung ihrer Mutter hat ihr offenbar die Sprache verschlagen. Sie will das Haus nicht mehr verlassen, vielleicht aus Angst, dass sie zurückkommt und ihre Mutter nicht mehr da ist. Die Situation spitzt sich zu. Je nach Krankheitsverlauf und Befinden besuche ich meine Patienten zwei- bis viermal die Woche. Aber ich bin immer erreichbar, rund um die Uhr, das wissen sie, und es gehört wesentlich zu der Sicherheit, die sie brauchen in ihrem Alltag ohne Gewähr. Maike ruft jetzt immer wieder außer der Reihe an und bittet mich zu kommen. Am Telefon wie im direkten Gespräch, jedes Mal dieselbe Aussage, sie wolle dieses Leben nicht mehr, ich bräuchte das nicht schönzureden, sie wolle jetzt sterben, was ich für eine Ärztin sei, dass ich sie nicht ernst nähme, bisher habe sie sich immer gut aufgehoben gefühlt bei mir - jetzt nicht mehr! Ihr Vertrauen in mich bekommt Risse. Der Umgang wird schwierig, jedes meiner Worte wird auf die Goldwaage gelegt. Die Anspannung steigert sich manchmal bis zum Psychoterror. Für mich ist es schwer, für die Familie fast unerträglich. Die weitgehend schmerzfreien Tage, die Maike durch die Palliativmedizin gewinnt, sind für sie auf einmal kein Geschenk mehr. So extrem wie bei ihr habe ich diesen Umschwung selten erlebt. Zu keinem Zeitpunkt war Maike larmoyant oder selbstmitleidig gewesen, sondern immer tapfer und kämpferisch. Sie gehörte zu denjenigen, die gesünder scheinen wollen, als sie sind. Geklagt wird nicht! Als sie noch mit den Symptomen zu kämpfen hatte und wir die richtige medikamentöse Einstellung suchen mussten, hat sie zäh und geduldig mit der Krankheit gerungen - um ihre Bewegungsfreiheit, um jede wache Stunde. Doch nach dieser Leidenszeit, nach einem langen, harten Winter, jetzt, in diesem geschenkten Frühling, verkehrt sich alles ins Gegenteil. Ich bin nun fast täglich bei Maike. Vom Balkon ihrer Wohnung sehen wir hinaus auf ein paar Schrebergärten, Bäume, einen Bahndamm. Nach Dauerfrost, festen Schnee- und Eisschichten bis Ende Februar kommen nun die ersten milderen Tage. Alles grünt. Die Luft schwirrt von Sonne und Vogelgezwitscher. Alle atmen auf, weil das Leben neu beginnt, nur Maike spürt das Ende. Sie fühlt sich vom Leben ausgeschlossen in ihrem Warten auf den Tod. Jeder schöne Tag ist für sie nur eine Galgenfrist, ein bisschen Freiheit auf Bewährung. Freude hat sie nicht daran. Für die Familie wie für mich ist Maikes mentaler Umschwung schwer zu verkraften. Alle sind überfordert, auch ich, denn zu diesem Zeitpunkt stecke ich emotional schon zu tief drin. Ich bin enttäuscht, weil die Therapie bei Maike so gut anschlägt und sie auf einmal nicht mehr will. Eigentlich gibt es keinen vernünftigen Grund dafür - und doch hat sie natürlich allen Grund der Welt. Wir sind hin- und hergerissen zwischen Frustration und Verständnis. Nur Maike ist ganz klar: Sie will sterben. Und sie will die entsprechenden Medikamente von mir. Als ich ihr das verweigere, spielt sie mit dem Gedanken, in die Schweiz zu fahren und die dort gesetzlich erlaubte aktive Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, verfolgt diesen Plan dann aber doch nicht weiter. Sie will zu Hause sterben, in ihrem eigenen Zimmer, im Kreise der Familie, so wie sie es sich gewünscht hat. Maike ist in ihrer Sehnsucht nach einem Lebensende so entschieden, dass wir kaum die Kraft haben, dagegenzuhalten. Wir reden, reden, reden. Irgendwann sage ich, dass es auch gegenüber ihren Töchtern unfair ist, aus dem Leben abzuhauen, solange es ihr körperlich einigermaßen gut geht. Maike wird wütend, sie fühlt sich von mir erpresst. Aber auch ich bin Mutter, nicht nur Ärztin, und ich bin eine Vertraute von Maike. Meine Rollen verschwimmen. Ich kann ein Stück weit verstehen, in was für einem dunklen Loch diese bisher so starke Frau versinkt, doch ich kann nicht zulassen, dass sie dem nachgibt. Für die Kinder wäre es eine Katastrophe. Maike hat mit ihnen noch vor wenigen Tagen einen wunderbaren Ausflug gemacht. Sie sagt selbst, dass sie kaum Schmerzen hat. Warum dann aus dem Leben gehen? Wie sollen ihre Kinder solch einen Abschied, solch eine Abkehr verstehen? Schließlich starten wir einen Versuch mit Dronabinol, einem Cannabispräparat in Form von Tropfen, die in der Apotheke hergestellt werden. Die Verwendung von Cannabis als Medizin ist erlaubt. Doch Maike davon zu überzeugen ist harte Arbeit. Es dauert Stunden und sprengt meinen ganzen Tag. Manchmal habe ich bis zu zehn Patienten zu besuchen. Und wenn ich als Erstes bei Maike bin und dort hängen bleibe, dann klingelt mein Telefon pausenlos, weil die anderen warten. Mit dem Einsatz von Dronabinol habe ich so gut wie keine Erfahrungen, aber es scheint mir im Moment die einzige Möglichkeit, um nicht zu Psychopharmaka greifen zu müssen - auch wenn es die Kasse nicht zahlt und zweihundert Euro pro Monat sehr viel sind für eine Familie, in der jemand krank ist, der früher gearbeitet hat. Dronabinol hellt die Stimmung auf, es stimuliert den Appetit, entspannt - Cannabis eben. Es gibt aber keine Rauschzustände, es verändert den Menschen nicht, dafür ist die Dosierung im medizinischen Bereich zu niedrig. Es hat außerdem einen positiven Einfluss auf die Bauchsymptome, ohne dass man die Wirkungszusammenhänge genau kennen würde. Selbstverständlich bin ich belesen, was alternativmedizinische Methoden angeht. In diesem Fall leitet mich der Mut der Verzweiflung, denn Antidepressiva kommen für Maike nicht infrage. Auch ich denke immer wieder: Sie ist ja nicht depressiv, sie ist realistisch. Es wäre ein Schlag ins Gesicht gewesen, ihr richtige Psychopharmaka verabreichen zu wollen, allein der Vorschlag - eine Zumutung! Schließlich ist Maike Krankenschwester, sie weiß, was das ist. Sie würde sich von mir betrogen fühlen, in die Schublade »Depression« gesteckt. Das wäre falsch. Nach zwei Wochen Therapie mit Dronabinol findet Maike: Das Leben ist im Moment doch ganz in Ordnung. Ich komme morgens um zehn Uhr bei ihr an, und sie erzählt mir, wie sehr sie es liebt, frühmorgens aufzustehen, wenn alle anderen noch schlafen, dem Vogelgezwitscher in der Dämmerung zu lauschen, sich einen Kaffee zu kochen und in Ruhe ihre Yogaübungen zu machen - einfach schön. Wir fragen uns, ob dieser Sinneswandel auf die Dronabinoltropfen zurückgeht. Beide haben wir das Gefühl, das allein kann es nicht sein. Empfohlen werden drei mal drei Tropfen, wir reduzieren sogar auf drei mal einen. Maike ist sehr guter Stimmung, auch die Bauchsymptomatik entspannt sich zusehends. Also bleiben wir dabei, auch wenn wir glauben, dass diese Veränderung aus Maike selbst kommt, durch ihre Stärke und Individualität. Beweisen können wir es nicht. Wir wollen auch keinen Rückfall in die Krise riskieren. Stattdessen versuchen wir, die Tropfen bei der Kasse zu beantragen. Ich schreibe ein zehnseitiges Pamphlet für Dronabinol. Zurück kommt ein Zwanzig-Seiten-Brief vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen mit einer Ablehnung. Wir ärgern uns, aber wir sind auch des Kampfes müde. Mittlerweile habe ich Maike wenigstens so weit, die Pflegestufe zu beantragen - bei ihrem Pochen auf Selbstständigkeit eine große Überwindung.