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E-Book

Was hochbelastete Kinder brauchen

Praxishandbuch für die Begleitung und Betreuung

AutorUdo Baer
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl168 Seiten
ISBN9783608191684
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
- Was alle im Helfer- und Betreuer-System von »Problemkindern« wissen sollten - Mit vielen anschaulichen Beispielen - Praxisnaher, allgemein verständlicher Schreibstil »Problemkinder« fordern ihre Betreuer und Helfer meist maximal heraus. Lethargie, Selbstschädigung und Verschlossenheit finden sich auf der einen Seite des Spektrums, aggressive Verhaltensweisen bis hin zur Delinquenz auf der anderen. Dennoch sind dies Kinder, die wir nicht verlieren dürfen. Das Buch bietet eine umfassende Verstehens- und Praxishilfe für alle, die mit hochbelasteten Kindern umgehen oder arbeiten. Es zeigt, was diese Kinder brauchen, um ihre nicht selbst verschuldeten Defizite durch neue und bessere Beziehungserfahrungen abbauen zu können. Dazu gehören konstruktive Wirksamkeitserfahrungen, Spiegelung und Rahmensetzung und vor allem zugewandte Präsenz. Hochbelastete Kinder brauchen keine Checklisten und Manuale, sondern Menschen, die sie in all ihrem Schwierigsein verstehen und im lebendigen Kontakt bleiben. Dieses Buch richtet sich an - Pädagogisches Fachpersonal in sozialpädagogischen Einrichtungen und Jugendhilfe - ErzieherInnen - Kinder- und SchulpsychologInnen - Beratende PsychologInnen - Adoptiveltern, Pflegeeltern

Udo Baer, Dr. phil., Diplom-Pädagoge, ist Mitbegründer des Pädagogischen Instituts Berlin, Seminarleiter, Leiter von Forschungsprojekten, Mitbegründer der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Vorsitzender der »Stiftung Würde« sowie erfolgreicher Buchautor zu Themen der Kinderpsychologie und Pädagogik.  Die Plattform »Kinderwürde Udo Baer und Team« wendet sich an alle, die sich für die Würde der Kinder engagieren. Hier geht es zur Website: https://kinderwuerde-udo-baer.de/ Zur Website von Dr. Udo Baer und Dr. Gabriele Frick-Baer: www.baer-frick-baer.de  

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Leseprobe

2  Der zweite Weg: Rahmung


Hochbelastete Kinder und Jugendliche haben meist den sicheren Rahmen ihres Lebens verloren. Sie brauchen einen Rahmen, innerhalb dessen sie sich geschützt fühlen und sich entwickeln können. Dieser Rahmen kann erschaffen und immer wieder neu geschaffen werden. Einen neuen Rahmen zu erfahren, ist für die Kinder ein fortwährender Prozess, für die Begleitenden bedeutet es ein anhaltendes Bemühen. Um diesen Prozesscharakter zu betonen, bezeichne ich diesen Weg als Rahmung.

2.1 Sichere Orte


In der Traumapädagogik und Traumatherapie hat seit vielen Jahren die Arbeit mit dem »sicheren Ort« einen besonderen Stellenwert. Die Notwendigkeit einer Pädagogik bzw. Traumapädagogik des »sicheren Ortes«7 wird damit begründet, dass Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene, die traumatische Erfahrungen machen mussten, verunsichert sind und kein Vertrauen mehr in die Umgebung haben. Um dieser Verunsicherung entgegenzuwirken, brauchen sie Stabilität, Halt und den »sicheren Ort«. Dabei wird der »sichere Ort« vor allem in zweierlei Hinsicht verstanden:

Erstens wird versucht, die traumatisierten Menschen darin zu unterstützen, sich in ihrer Imagination einen »sicheren Ort« vorzustellen8. Durch Fantasiereisen werden die Menschen darin angeleitet, sich Orte auszumalen, an denen sie sich sicher fühlen. Diese werden dann in Worten beschrieben, manchmal auch gemalt. Sie werden zu einem inneren Zufluchtsort, den Menschen aktivieren können, wenn sie sich verunsichert fühlen.

Als Zweites wird das Konzept des »sicheren Ortes« vor allem in der Jugendhilfe dazu verwandt, die Einrichtungen der Jugendhilfe als »sicheren Ort« zu konzipieren. Manchmal sollen auch Schulen oder Berufsschulen »sichere Orte« werden. Richtig daran ist, dass Menschen mit traumatischen Erfahrungen und damit existenziellen Verunsicherungen eine möglichst haltende und geborgene und damit auch sichere Umgebung brauchen. Alles, was dem dient, sollte unterstützt werden.

Das Konzept des »sicheren Ortes« kann und sollte aber erweitert werden. Dass hochbelastete Kinder und Jugendliche mit traumatischen Erfahrungen sich einen »sicheren Ort« vorstellen, ist sinnvoll. Doch wissen wir aus Erfahrungen mit Imaginationen, dass positive Imaginationen nicht immer allein daherkommen, sondern oft mit negativen Bildern, ja manchmal mit verängstigenden Schreckensbildern verbunden sein können, insbesondere bei mehrfach traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Es bedarf daher besonderer Ausbildung und Begleitungskompetenz, Kinder bei solchen Imaginationen zu begleiten. Sie brauchen nicht nur die einfach scheinende Hilfe, positive Bilder eines »sicheren Ortes« herzustellen. Sie brauchen darüber hinaus Hilfen, zwischen Angst machenden und positiven Bildern und Vorstellungen zu wechseln.

Dabei hilft nach meinen Erfahrungen das Verraumen9. Ich bitte die Person, sich einen Ort in einem Raum zu suchen, an dem sie sich relativ sicher fühlt. Diese Platzierung kann nur ein Ausdruck »relativer« Sicherheit sein, aber immerhin einer größeren Sicherheit als vielleicht an anderen Orten. Diese Verraumung, diese Verortung, unterstützt das Entstehen innerer Bilder. Wenn Menschen sich bei Verunsicherungen an diesen »sicheren Ort« begeben, hilft das,

Wir arbeiten auch oft mit drei Räumen10. Zunächst bestimmt die jugendliche Person einen Raum der Sicherheit und umrandet ihn mit Seilen. Dann bestimmt sie einen Raum der Unsicherheit (des Schreckens, der Bedrohung …) und trennt ihn ebenfalls mit Seilen ab. Wenn sie das nicht selbst tun kann, kann das die Pädagogin oder Therapeutin übernehmen. Diesen Raum braucht das Kind, der/die Jugendliche nicht zu betreten. Er ist nur dazu da, damit das, was innen ist, nach außen kommt und dort einen Platz findet. Der Raum »dazwischen« ist nun interessant: Was brauchst du als Schutz? Als Abstand? Als Unterstützung? Usw. Darüber zu reden ist fruchtbar.

Eine zweite Unterstützung »sicherer Orte« besteht darin, dass wir den Begriff des »unzerstörbaren Kerns« benutzen. Wir gehen davon aus, dass Kinder und Jugendliche einen unzerstörbaren Kern haben, ganz gleich, wie sehr sie geschunden oder bedrängt worden sind, und sagen ihnen: »Diesen Kern haben die Täter/innen nicht erreicht. Dieser Kern ist unzerstörbar, ist dein Eigenes, dein Innerstes und Kostbarstes.« Wenn Menschen diesen unzerstörbaren Kern malen oder zum Beispiel aus Ton oder Stoff gestalten, dann hebt dies ihr Selbstwertgefühl, und dann finden sie damit einen Bezugspunkt zu einem »sicheren Ort«, den sie immer wieder sehen und greifen, buchstäblich in den Blick und in die Hand nehmen können.

Der nächste »sichere Ort«, den traumatisierte Menschen mit uns Begleiter/innen gewinnen können, liegt in den Beziehungen selbst. Denn traumatische Erfahrungen sind Beziehungserfahrungen. Es waren andere Menschen, die den Betroffenen Leid zugefügt haben, die sie vergewaltigt, geschlagen und erniedrigt haben. Es waren andere Menschen, die Hilfeleistung unterlassen und die Opfer allein gelassen haben. Die traumatischen Erfahrungen sind daher immer eine Beziehungskränkung.

Beziehungskränkungen brauchen Beziehungsheilung. Wer existenziell beziehungsgekränkt ist, muss misstrauisch gegenüber anderen Menschen sein, muss in seinen Begegnungen und Beziehungen zu anderen verunsichert sein. Deswegen ist die Arbeit am »sicheren Ort« für uns nicht anders vorstellbar, als dass sie vor allem als Beziehungsarbeit geschieht. Wir müssen den traumatisierten Kindern und Jugendlichen helfen, relativ sichere Beziehungen herzustellen, wiederaufzubauen. Dies geht durch die Erfahrungen des Misstrauens hindurch. Wir müssen Misstrauen zulassen, auch wenn es für uns manchmal schmerzlich ist. Wir müssen uns unserer Vertrauenswürdigkeit und unserer Wahrhaftigkeit gewiss sein. Wir müssen den Menschen helfen, dass sie unterscheiden können, wem sie misstrauen und wem sie vertrauen können und woran sie dies festmachen. Diese Beziehungsarbeit schafft Annäherungen an sichere Beziehungen und damit an einen »sicheren Ort«, der den Kern der Verletzung, nämlich die Beziehungskränkung, schrittweise heilen kann.

Statt von einem sicheren Ort reden wir in diesem Zusammenhang eher von der Notwendigkeit, dass diese Kinder und Jugendlichen eine Rahmung benötigen. Dazu gehört ein Rahmen, aber Rahmen wäre zu wenig, denn Rahmung ist – ich betone es noch einmal – ein Prozess. Hochbelastete Kinder und Jugendliche brauchen immer wieder einen sicheren Orientierungsrahmen, der sich mit ihrem persönlichen sicheren Ort verbindet. Sie benötigen diese Rahmengebung von uns, innerhalb deren sie Sicherheit finden können, ihren inneren Kern entwickeln und ihre Beziehungsfähigkeit aufbauen können.

Der Prozess der Rahmung ist wie gesagt ein andauernder Prozess. Er geht über die Frage des sicheren Ortes hinaus. Mit den hochbelasteten Kindern und Jugendlichen auf den Weg der Rahmung zu gehen, beinhaltet zahlreiche Aspekte und wirft mehrere Fragen auf, auf die ich im Folgenden eingehen werde.

2.2 Täterkontakt?


Wenn traumatisierte und anderweitig hochbelastete Kinder mit Täter/innen in Kontakt kommen, werden sie grundsätzlich verunsichert. Deswegen ist die Regel »kein Täterkontakt« richtig und notwendig. Doch in der konkreten Praxis sind mehrere Aspekte zu bedenken.

Täter bzw. Täterinnen sind nicht nur die Menschen, die unmittelbar Gewalt zugefügt haben. Es gehören auch diejenigen dazu, die bei traumatisierenden Ereignissen zugesehen haben, die nicht geholfen haben, die Kinder und Jugendliche in der Zeit danach allein gelassen haben.

Für alle traumatisierten Kinder und Jugendliche, das haben, wie schon erwähnt, Untersuchungen gezeigt, ist die »Zeit danach« von entscheidender Bedeutung. Befragungen haben ergeben, dass sich die Kinder und Jugendlichen nach sexuellen Gewalterfahrungen oder anderen Übergriffen fast immer allein gelassen gefühlt haben. Sie konnten darüber nicht reden oder ihnen wurde nicht geglaubt. Sie blieben emotional allein oder wurden schuldig gesprochen. Dieses »Alleinsein danach« gehört zu den traumatischen Erfahrungen. Es gehört zum traumatischen Prozess: Nicht nur die Taten, sondern auch die Zeit danach, das Allein-gelassen-werden-Danach, haben langfristige Wirkungen. Die Wirkung des Alleinseins-Danach besteht vor allem darin, dass sich in den Kindern und Jugendlichen ein Grundgefühl entwickelt, dass sie es nicht wert sind, getröstet zu werden, und dass sie es nicht verdienen, geschützt zu werden. Sie verstummen oder reden nur noch, aber...

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