II. Der Text. Übersetzt und erklärt
Das Buch der vierundzwanzig Philosophen
Prolog
Vierundzwanzig Philosophen waren einmal versammelt. Dabei blieb ihnen nur eine Frage offen: Was ist Gott?
Da beschlossen sie nach gemeinsamer Beratung, sich Bedenkzeit zu lassen und einen Termin festzusetzen, um noch einmal zusammenzukommen. Dann sollte jeder seine eigenen Erklärungen über Gott vorlegen, und zwar in Form einer Definition, um aus den verschiedenen Definitionen etwas Sicheres über Gott zu ermitteln und mit allgemeiner Zustimmung festzusetzen.
Prologus
Congregatis viginti quattuor philosophis, solum eis in quaestione remansit: quid est Deus? Qui communi consilio datis indutiis et tempore iterum conveniendi statuto, singuli de Deo proprias proponerent propositiones sub definitione, ut ex propriis definitionibus excerptum certum aliquid de Deo communi assensu statuerent.
Der Prolog dementiert die Alhambra-Phantasie, zu der ich mich im Vorwort augenblicksweise habe hinreißen lassen. Die vierundzwanzig Philosophen brauchten keinen Saladin; sie organisierten ihr Kolloquium demokratisch selbst. Die Frage, in welcher Stadt es 24 Philosophen gab, erübrigt sich; der Prolog ist Dichtung, nicht Protokoll. Immerhin hält er fest: Was Gott ist, das fragt man besser nicht die Theologen. Ich war auf die Vorstellung vom orientalischen Ursprung gekommen, weil es für einen westlichen Herrscher gefährlich gewesen wäre, bei der Frage, was Gott sei, die Theologen zu ignorieren. Noch 1486 hat die Römische Kurie den vergleichbar geplanten Philosophenkongress des Fürsten Giovanni Pico della Mirandola verboten. Hier handelt es sich um ein fiktives, rein literarisches Philosophenkonzil.
Die Philosophen wissen die Antwort nicht sofort; sie tragen nichts Erlerntes vor; sie gönnen sich Aufschub und Reflexionszeit für eine neue, eine persönliche Definition. Der Verfasser des Textes glaubt nicht, ein einzelner Denker werde die allumfassende und vor allem die gewisse Einheitsdefinition vorschlagen können. Diese soll später gefunden, diskutiert und verabschiedet werden. Das Ziel soll sein, etwas Gewisses über Gott sagen zu können. Unterstellt wird: Ungewisses hören wir genug. Aber von der Endabstimmung und Endgewissheit sagt unser Text nichts. Er belässt es bei den vierundzwanzig Voten. Der Leser muss selbst suchen.
Die vierundzwanzig Definitionen[12]
I. Gott ist die Monade, die eine Monade erzeugt und sie als einen einzigen Gluthauch auf sich zurückbeugt.
DEVS EST MONAS MONADEM GIGNENS, IN SE VNVM REFLECTENS ARDOREM.
Diese Definition erfolgt aufgrund einer Vorstellung (data est secundum imaginationem) vom ersten Grund, wonach er sich zahlenartig in sich selbst vermehrt, multipliziert. Aufgefasst als das, was sich vermehrt, ist er die Einheit. Als vermehrt (multipliziert) aufgefasst, heißt er Zweiheit. Als das, was zurückbezogen ist, als Dreiheit. So ist es nämlich bei den Zahlen: Jede Einheit erhält eine eigene Zahlbestimmung, sofern sie sich auf etwas bezieht, was sich von jedem anderen unterscheidet.
Haec definitio data est secundum imaginationem primae causae, prout se numerose multiplicat in se, ut sit multiplicans acceptus sub unitate, multiplicatus sub binario, reflexus sub ternario. Sic quidem est in numeris: unaquaeque unitas proprium habet numerum quia super diversum ab aliis reflectitur.
Gott ist das Eine, das eine Einheit erzeugt und diese auf sich zurückbezieht. Für das Eine gebraucht der im Mittelalter verbreitete Text, gewissermaßen seine ‹Normalform›, den griechischen Ausdruck monas.[13] Dieses Wort sagt nichts für die griechische Herkunft des Textes; der Ausdruck kommt im 9. Jahrhundert im lateinischen Westen vor, bei Johannes Scotus Eriugena, und steht auch bei Alanus am Anfang.
Der Spruch lässt sich nach zwei Richtungen auslegen. Sagt er: Gott ist der Eine, der eine einheitliche Welt, ein Universum, erzeugt und dieses auf sich zurückbewegt? Das hieße: Die Welt tritt aus der Ureinheit heraus, bewegte sich aber in glühender Liebe (ardor) in ihren Ursprung zurück. Dann bezöge der Satz sich auf das Heraustreten aus dem Einen und auf die Rückkehr des Kosmos zu ihm. Ardor habe ich mit ‹Gluthauch› übersetzt; es könnte auch heißen: der Glanz, zum Beispiel der Sterne. Dann wäre das reflectens wörtlich zu nehmen, und der Satz hieße in kosmologischer Deutung: Gott ist das Eine, das den Kosmos als Einheit erzeugt hat, so dass dieser im Glanz des Äthers auf ihn zurückstrahlt. Es macht den Reiz dieses Textes aus, dass er zwischen buchstäblicher und bildlicher Bedeutung schwebt. Er scheint zu changieren zwischen Liebesglut und Ätherglanz.
Aber von Welt, Sternen und irdischem Glanz ist nicht die Rede. Daher ist die zweite Auslegung vorzuziehen:
Es handelt sich um kryptische Trinitätsphilosophie: Gott, die Monade, deren Erzeugen im Zählen besteht, hat demnach eine weitere Monade, den Logos, gezeugt – das Wort ‹erzeugen› (gignere) war in der Trinitätslehre üblich, aber nicht auf sie beschränkt – und bezieht sich durch ihn in einem einzigen Liebeshauch auf sich zurück.
Gottes Erzeugen ist ein Sichauszählen. Die dabei entstehende Vielheit und Verschiedenheit ist Sache des Auffassens: Ich kann die Zahl Eins in der Zahl Drei wiederfinden, denn auch Drei ist eine Einheit. Gott, das wäre dann die drei-einheitliche Bewegung der Logoserzeugung und der Selbstrückkehr.
Dann sagen Definition und Kommentar: Ein Philosoph, ein Heide, hat die Trinität philosophisch erkannt. Er hat nicht die dogmatisch sanktionierten Ausdrücke benutzt: Er redet weder von drei Personen noch von Vater, Sohn und Geist. Er vermeidet sogar die Vokabel ‹das Wort›, verbum oder logos, das aus der antiken Philosophie stammt und am Anfang des Johannesevangeliums steht. Dann hätte ein christlicher Autor etwa der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die unbestimmte Weise imitiert, in der ein antiker Philosoph die Trinität ausgedrückt haben könnte. War er vielleicht unglücklich mit den herkömmlichen dogmatischen Ausdrücken ‹drei› und ‹Personen›? Augustinus hatte zugegeben, er wisse nicht, was in diesem Zusammenhang das Wort ‹Person› bedeute. Und was heißt innerhalb der Gottheit das Zahlwort ‹drei›? Wie passen Zahlbestimmungen zur göttlichen Einheit? Nikolaus von Kues behauptet, er habe bei Augustinus den Satz gefunden: «Wenn du anfängst zu zählen, redest du nicht von Gott.»[14] Dieses Zitat findet niemand bei Augustinus, aber das Problem besteht. Unser unbekannter Verfasser geht es an; er fasst die Dreiheit als Ergebnis menschlichen Auffassens: Wir denken Gott, den Multiplizierenden, als Einheit; als das Multiplizierte nennen wir ihn Zweiheit. Der Autor vermeidet, von «drei Personen» zu reden. Hat Boethius nicht erklärt, ‹Person› bedeute eine ‹Substanz vernünftiger Natur›? Sind etwa in Gott drei Substanzen? Bedeutet substantia nicht Wesen? Dann wären in der Gottheit drei Wesen mit dreifachem Bewusstsein – wo bleibt ihre Einheit? Der Text setzt die trinitätstheologischen Ausdrücke so um, dass sie mit der negativen Theologie kompatibel werden, auf die das Buch insgesamt hinausläuft. Daher erwähnt er das biologische Verhältnis von ‹Vater› und ‹Sohn› überhaupt nicht und deutet das Erzeugen des Erzeugers als Zählen, bei dem man im Vielfachen die Einheit erkennt. So vorzugehen, hatte Johannes Eriugena für das einzig Vernünftige erklärt: Die Eins ist in der Zwei und in der Drei, aber die Monade wäre ein zusammengekehrter Haufen, nicht die höchste Einheit, wenn sie in drei Einzelwesen zerfiele.
Auf diesen Text hat Zeno Kaluza aufmerksam gemacht, auch in der Absicht, gegen Hudry zu beweisen, dass der Liber nach dem 9. Jahrhundert entstanden sein müsse. Der Text Eriugenas gehört hierher aus drei Gründen: Er nennt die höchste Einheit monas.[15] Zweitens: In der höchsten Einheit sollen die verschiedenen Bestimmungen (rationes) gewahrt bleiben. Drittens: Die Zahlbestimmungen Zwei und Drei, aber auch alle anderen, sind als Modifikationen der Eins zu betrachten.
Die trinitätsphilosophische Deutung von Spruch I liegt näher als die kosmologische. Die Philosophen wurden nicht nach dem Kosmos, sondern nach Gott gefragt. Die Folgethesen bringen ähnliche Dreierrhythmen der göttlichen Lebensbewegung (z.B. die Definitionen IV, VII, X und XII). Dies würde zu trinitätsphilosophischen Interessen des 12. Jahrhundert passen, zu Anselm von Canterbury, Abaelard, Thierry von Chartres und Alanus von Lille. Thomas von Aquino ließ im Gegensatz zu ihnen keine Trinitätsphilosophie zu. Ein solcher Anspruch der Vernunft verletze die Würde des Glaubens. Die natürliche Gotteserkenntnis müsse von der sichtbaren Welt ausgehen, die Gott aufgrund seiner einheitlichen Wesenheit geschaffen habe. Daher seien die einzelnen Personen in der Gottheit nicht...