KAPITEL 2
Notizen aus der Provinz.
Die Globalisierung des Hasses
Ernst. Die Zeitung hat es ausposaunet.
Gespräche für Freimaurer, Erstes Gespräch
Die Islamkritik ist global und provinziell zugleich. Ihre Sätze bilden einen Code, der universell verwendbar und benutzerfreundlich ist. Amerikanische Staatsmänner bestreiten mit den Elementarsätzen welthistorische Vorlesungen, französische Starphilosophen bebildern mit ihnen eine sophistische Ethik. Dem Islamkritiker macht es nichts aus, wenn er zeitweise allein auf weiter Flur zu stehen scheint und man ihn vielleicht sogar belächelt, weil er auf den Islam in gleicher Weise fixiert ist wie dieser angeblich auf die Welteroberung. Er hat nur ein Thema, aber das Thema ist groß genug. Die Gleichgültigkeit weiter Teile der Gesellschaft bestätigt das islamkritische Weltbild: Es macht den Islam so gefährlich, dass seine Gefährlichkeit verkannt wird. Gleichzeitig darf sich der Islamkritiker als Aktivist einer weltumspannenden Bewegung fühlen. Der Antidschihadismus hat seine Helden und vor allem Heldinnen wie Ayaan Hirsi Ali, deren Verehrer überall vermutet werden, wo es Internetanschlüsse gibt. Islamkritiker bleiben gerne unter sich. Aber sie kommen herum. Wer eine Geschichte der islamkritischen Agitation schreiben wollte, ihrer Hauptgedanken und Hauptfiguren, könnte sich auf Quellen aus der Stadt Wetzlar im mittelhessischen Lahn-Dill-Kreis beschränken.
Im November 2010 gab der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier der «Frankfurter Rundschau» ein Interview. Auf die Standardfrage, wie er zu Wulffs Satz über den Islam stehe, gab Bouffier die Standardantwort: Er wiederholte die Schäuble-Formel in der entkernten Bosbach-Westerwelle-Variante. «Der Islam ist Teil unserer Realität, ganz sicherlich. Er ist nicht die Grundlage unseres Landes.» Der aus Gießen (Ausländeranteil 12,7 Prozent) gebürtige Ministerpräsident setzte die Andeutung hinzu, dass soziale Tatsachen, die vor Augen liegen, Wünschbarkeiten eine Grenze ziehen. «Es gibt Gebiete, da ist er wenig spürbar und augenfällig. Und es gibt Gebiete, da ist er deutlich auch im Stadtbild erkennbar.» Vernünftigerweise verweigerte Bouffier eine direkte Antwort auf die Frage, ob er diese Präsenz des Islam – wie irgendeine bei Facebook bekanntgemachte Lappalie – gut finde. «Es ist eine Realität und eine Herausforderung. Man muss das nicht bejubeln.» Wenn der realpolitische Ansatz mit einer solchen robusten Nüchternheit vertreten wird, schafft er keine bedrängende Stimmung. Die Landesregierung muss das Vordringen des Islam in den Großstädten wirklich nicht bejubeln – wie es auch nicht angezeigt wäre, einen vom Bischöflichen Ordinariat in Limburg bekanntgegebenen Rückgang der Kirchenaustrittszahlen mit einer Pressemitteilung der Staatskanzlei zu feiern. Und wenn eine Gemeinde erweckter Christen ein Anwesen in einer hessischen Kleinstadt erwerben sollte und die Gemeinde dann über die Jahre wachsen würde, durch Zuzug, die eine oder andere Konversion und den typischen Kinderreichtum frommer Familien, dann hätte das von einer gewissen Größe der Gemeinde an Auswirkungen auf das Erscheinungsbild der Stadt, dann würde die Stadt vielleicht weniger attraktiv als Standort für Trinkhallen und Discotheken, dann könnte sich die Schulbehörde veranlasst sehen, auf die Einhaltung der Schulpflicht achtzugeben und andererseits an hohen Festtagen Befreiungen vom Unterricht auszusprechen – und dann wäre das eine Herausforderung für den Bürgermeister.
Bouffier wurde dann noch nach seinem Fraktionskollegen Hans-Jürgen Irmer gefragt. Teile er dessen Auffassung, dass der Islam die Weltherrschaft anstrebe? Da der Hessische Landtag diese Aussage Irmers im Zusammenhang anderer islamfeindlicher Äußerungen des Abgeordneten am 28. April 2010 einmütig missbilligt hatte, musste der Regierungschef die Frage nicht ausdrücklich verneinen. Stattdessen sagte er: «Man muss verstehen: Wenn von Islam die Rede ist, erfahren unsere Bürger aus den Medien das in den letzten Jahren in der Regel mit Blut, mit Terror und Tod. Die friedliche Religion des Islam ist nicht das, was unsere Bürger wahrnehmen. Wenn Menschen ständig Angst davor haben, dass sie irgendwo hochgebombt werden im Namen Allahs, dass sie dann eine kritische Haltung zu diesem Thema einnehmen, ich glaube, das kann jeder verstehen.» Bouffier war elf Jahre lang Polizeiminister. Er weiß, dass es sehr unvernünftig ist, wenn Pendler in der S-Bahn nach Frankfurt ständig Angst vor Bombenanschlägen haben – obwohl das Frankfurter Bankenviertel zweifellos seinen festen Platz in den Szenarien islamischer Terroristen hat. Diese Angst ist schon dann unvernünftig, wenn man sich nicht von jeder islamfeindlichen Schlagzeile der «Bild»-Zeitung zusätzlich in Unruhe versetzen lässt. Ständige Angst erhöht die Sicherheit nicht. Sie begünstigt die Kurzschlussreaktionen und den Fehlalarm, sie zerstört das Alltagsvertrauen und das Selbstbewusstsein. Dass die Bürger aber den Kreis der Angstobjekte auch noch ausdehnen auf die Moschee, den türkischen Kulturverein und den arabischen Gebrauchtwagenhandel, dazu sagt Bouffier nur, dass man es verstehen müsse.
Die Terrorfurcht, die seit dem 11. September 2001 zum Alltag gehört, ist nicht schwer zu verstehen. Jeder hat sie schon am eigenen Leib erlebt. Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner, ein Virtuose der Vermittlung, beschreibt in seinem «Manual für den Kampf der Kulturen» über viele Seiten, wie ihn in der Londoner U-Bahn der Anblick eines Manns in Schrecken versetzte, der in aller Seelenruhe den Koran las. Dass sich seit dem Sturz der Twin Towers auch der friedlichste Muslim kritische Fragen gefallen lassen muss nach den Spielräumen der Koranauslegung und nach der Bedeutung der antiwestlichen Kulturkritik für die intellektuelle Selbstvergewisserung der modernen islamischen Welt, das ist ebenfalls nicht nur verständlich, sondern unvermeidlich. Muslime empfinden diese Fragen manchmal als Zumutung. Aber es sind zunächst einfach Bitten um Auskunft. Nichtmuslime wissen, dass es im Islam kein höchstes Lehramt gibt, und halten sich an die Muslime, die sie kennen oder treffen.
Man stolpert darüber, dass Bouffier die instinktive Abwehr und das überschießende Misstrauen der verängstigten Bürger zur kritischen Haltung nobilitiert. Haltung setzt doch ein gewisses Maß an Ruhe voraus, ein Minimum an Selbstdistanz. Bouffier nimmt die Panik der deutschen Zeitungsleser und Fernsehkonsumenten als gegeben hin, als die Grundtatsache der Islamdiskussion, der Politiker ihre Beiträge anpassen müssen. Muslimischen Repräsentanten würde ein solcher Defätismus gegenüber den Befindlichkeiten der eigenen Klientel nicht nachgesehen. Wir verstehen zwar, dass ägyptische Zeitungsleser, die in breitester Ausführlichkeit über die Kämpfe in Afghanistan und die Lage in den Palästinensergebieten unterrichtet werden, einen Groll auf den Westen kultivieren, den sie in der Regel mit Blut, Krieg und Tod zusammenbringen. Aber wir erwarten von den Muslimen wenigstens im Westen, wo die Presse frei ist, dass sie Anstrengungen unternehmen, die Indoktrinierung zu überwinden. Und wenn muslimische Leser deutscher Zeitungen sich darüber beschweren, dass über den Islam fast nur im Zusammenhang mit Terrorismus, Ehrenmorden und Zwangsehen berichtet werde, dann erinnern wir daran, dass Medien immer schlechte Nachrichten in den Vordergrund stellen, und weisen die Beschwerde zurück. Mit wie gutem Gewissen eigentlich?
Wenn Bouffier recht hat, dann ist beim Thema Islam die Alltagserfahrung vollständig vom Medienkonsum verdrängt worden. Ja, die vorderen Seiten der Zeitungen und die Fernsehnachrichten haben sogar verdrängt, was im Lokalteil und im Pfarrbrief steht. Auch wer persönlich keine Muslime kennt (von 8000 Lesern, die sich an einer Umfrage von «Welt online» beteiligten, hatten 54 Prozent gar keine Kontakte zu Muslimen), hätte Gelegenheiten genug, die Alltäglichkeit des friedlichen muslimischen Lebens in Deutschland wahrzunehmen. Auf die Frage nach seiner Meinung zu den Thesen seines stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Irmer antwortete Bouffier mit der Bitte um Verständnis für die von den Medien heraufgerufenen Angstzustände der Bürger. Wie soll man das denn verstehen?
Gegenöffentlichkeit in Mittelhessen
Der in Wetzlar direkt gewählte Abgeordnete Hans-Jürgen Irmer ist Verleger, Herausgeber, Anzeigenleiter und Hauptautor des monatlich erscheinenden Gratisblatts «Wetzlar Kurier», das an alle Haushalte im Lahn-Dill-Kreis verteilt wird. Das Blatt wurde 1982 als CDU-Zeitung gegründet, um das lokale Monopol der «Wetzlarer Neuen Zeitung» (WNZ) zu brechen, und ging 1990 in Irmers Eigentum über. Der «Kurier» verfolgt das publizistische Ziel, «Menschen über das hinaus zu informieren, was üblicherweise in den Tageszeitungen geschrieben steht». Die Konkurrenz von der «Wetzlarer Neuen Zeitung», die ihre Geschichte ins Jahr 1872 zurückverfolgen kann und bis heute in Familienbesitz ist, ist in der Weltsicht des «Kuriers»...