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E-Book

Was ist mit unseren Jungs los?

Hintergründe und Auswege bei Jugendgewalt

AutorAllan Guggenbühl
VerlagKreuz
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783451336799
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Gewalttätige Jugendliche gehören fast schon zum Normalbild unseres öffentlichen Alltags. Müssen wir das akzeptieren? Allan Guggenbühl zeigt, dass Aggression eigentlich zum Menschen dazugehören: Es kommt aber darauf an, zu wissen, wo sie ihren Ursprung haben und gut mit ihnen umzugehen. Aus seiner langjährigen Erfahrung zeigt er, wie Jugendliche ihre aggressiven Impulse kanalisieren und in den Griff bekommen können. Es ist ganz wesentlich zu erkennen, wo wir mit Aussicht auf Erfolg positiv einwirken und unterstützen können. Mit viel Hintergrundmaterial, Beispielen und Erkenntnissen aus der Aggressionsforschung zeigt Guggenbühl, wie wir Aggressionsbereitschaft richtig begegnen können.

Allan Guggenbühl, Prof. Dr., Psychologe FSP, dipl. analyt. Psychotherapeut SGAP; Leiter des Instituts für Konfliktmanagement und Mythodrama in Zürich/Bern (ikm.ch). Professor an der Pädagogischen Hochschule des Kantons Zürich. Arbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen der Stadt Bern.

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Leseprobe

2. Wie viel Gewalt ist normal?


Wie Codes und Rituale unser Zusammenleben regeln

»Dass ich Liebe bringe, wo man sich hasst;
dass ich Versöhnung bringe, wo man sich
kränkt; dass ich Einigkeit bringe, wo Zwietracht
ist; dass ich Hoffnung bringe, wo Verzweiflung
droht …«

Franz von Assisi

Stellen Sie sich Folgendes vor: Auf rätselhafte Weise oder weil man endlich eine Zeitmaschine erfunden hat, werden Sie ins Jahr 1908 zurückversetzt! Sie dürfen 48 Stunden in der Vergangenheit verbringen. Sie landen in Wien in einer rauchigen Spelunke und sind von trinkenden Männern und Frauen umgeben. Sie sitzen vor einem Glas Bier, hören, wie über das richtige Telefonieren geredet und über Kriminalität in Ottakring debattiert wird. Sie sind der Einzige, der weiß, welch grässliche Ereignisse bevorstehen: Der erste Weltkrieg wird ausbrechen, die Wirtschaftskrise kommen, der Nationalsozialismus sich ausbreiten, das Dritte Reich errichtet und der Holocaust stattfinden. Plötzlich geht die Türe auf und ein junger Maler aus Linz tritt ein: Adolf Hitler. Er nimmt neben Ihnen Platz und bestellt ebenfalls ein Bier. Was machen Sie? Der Mann wird Grauenhaftes anrichten, Millionen von Menschen auf dem Gewissen haben. Deutschland und ganz Europa werden seinetwegen in eine Katastrophe stürzen.

Wollen Sie den neunzehnjährigen Mann in ein Gespräch verwickeln? Versuchen Sie ihn zu beeinflussen? Wollen Sie ihm ein paar seiner Bilder abkaufen, damit er eine Künstlerkarriere wählt, statt in die Politik einzusteigen? Wollen Sie mit ihm debattieren und ihn von den pangermanischen Ideen Georg von Schöneres abbringen? Ist das wirklich das richtige Vorgehen angesichts des Grauens, das dieser junge Mann anrichten wird? Wäre es nicht besser, ihn anzugreifen und gleich umzubringen? Man könnte ja geschickt vorgehen und einen perfekten Mord ausführen! Und: was bedeutet schon der eigene Tod gegen die Abermillionen Menschen, die dadurch gerettet würden!

Diese kleine Zeitreise bringt zwei Dinge an den Tag: Die Mehrheit der Leser ist wahrscheinlich mit mir einig, dass ein Mord an diesem Mann gerechtfertigt wäre, ja man würde der Menschheit einen unglaublichen Dienst erweisen. Die Geschichte würde eine andere Wende nehmen und Gräueltaten würden verhindert. Das Gedankenexperiment zeigt, dass es Situationen gibt, in denen Gewalt legitimiert ist, in denen wir uns das Recht nehmen, jemanden umzubringen. Gleichzeitig ist diese Schlussfolgerung ungeheuerlich: Wir maßen uns an, über Leben und Tod zu entscheiden! Das Gewalttabu wäre dann nicht mehr ein absolutes moralisches Gebot, sondern kann durch Situationen und Umstände relativiert werden. »Du sollst nicht töten!« gälte dann nicht immer, sondern hinge von der Situation ab.

Wahrscheinlich würde es jedoch nie so weit kommen. Ziemlich sicher wären wir nämlich zu feig, unseren Tischnachbarn zu erstechen oder zu erschießen. Wir würden verwirrt dort sitzen, wilde Gedanken würden durch unseren Kopf rasen, wir könnten uns nicht entscheiden und würden uns selber hinterfragen: Wie ist der Krieg entstanden? Wir würden nach einer Entschuldigung suchen. Und natürlich wollen wir ja nach zwei Tagen zurück in unser aktuelles Leben, zu Familie, Kindern und Freunden. Wir wollen unser Dasein nicht riskieren und hängen an unserem Leben. Die eigenen Kinder brauchen einen Vater, eine Mutter und außerdem hat man ja Ferien auf Sardinien gebucht. Vielleicht würden wir uns auch fragen: Was bringt mir diese Tat? Wir würden es zu einem Eintrag in der Kriminalstatistik Wien bringen, und wenn wir den Mord spektakulär inszenieren, zu einer kleinen Meldung in der Kronenzeitung: Friedlicher Kunststudent wurde von einem Verrückten erstochen. Da Hitler keine Gelegenheit hätte, seine Verbrechen durchzuführen, endeten wir als Verbrecher. Keine Plakette und kein Nachruf, sondern unser Leichnam würde auf dem Zentralfriedhof verscharrt. Lohnt sich das?

Für die überwiegende Mehrheit der Menschen ist Gewalt keine Lösungsstrategie. Gewalt gehört nicht zu ihrem Verhaltensrepertoire. Da wir das Gewaltmonopol an den Staat delegiert haben, sind wir von solchem moralischen Dilemma befreit. In unserem Privatleben und im Beruf setzen wir auf andere Mittel, wenn wir uns Gehör verschaffen oder uns durchsetzen wollen. Wir reden, wollen überzeugen, intervenieren, streiten oder erstatten eine Anzeige. Wir definieren uns als friedliebende, nicht gewalttätige Menschen. Unser Gewaltverzicht ist jedoch nicht Ausdruck einer größeren Menschenliebe, einer reiferen Persönlichkeit oder einer intakteren Moral, sondern von etwas Simplem: Wir haben das Glück, in einem sozialen und politischen Kontext zu leben, der uns nicht zwingt, Gewalt anzuwenden. Wir können es uns erlauben friedlich zu sein, Gewalt zu pathologisieren und uns als bessere Menschen zu fühlen. Nicht unser Charakter, sondern die Umstände machen uns zu besseren Menschen. Unsere Lebenssituation hat uns von der Notwendigkeit, Gewalt einzusetzen, befreit. Der Gewaltverzicht ist kein edler Charakterzug, sondern wir haben einfach Glück. Wenn sich die Umstände ändern, wir Gefahren abwenden oder einen Feind bestrafen müssen, dann greifen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder zu den Waffen, schießen, erstechen und quälen Widersacher. Frieden ist immer nur ein temporärer und labiler Zustand, hervorgerufen durch glückliche Umstände.

Für unsere Vorfahren war Gewalt eine riesige Herausforderung.21 Sie wurden in verschiedenen Lebensbereichen mit ihr konfrontiert. Im Privatbereich, in der Arbeit, in Dorfgemeinschaften, in den Städten und natürlich auch im politischem Leben.22 Man versuchte Umgangsformen zu entwickeln, um Gewaltausbrüche einzudämmen. Auf politischer Ebene versuchte man sich vor Gewalt von außen zu schützen. Die Pueblo-Indianer und Maori in Neuseeland bauten ihre Dörfer auf unbequemen Bergspitzen, um sich vor Banden und feindlichen Stämmen zu schützen, und die Todesraten durch Gewalt waren oft um einiges höher als in Europa während der Weltkriege.23 Bis ins 18. Jahrhundert haben sich europäische Städte mit Mauern umgeben. Gewalt war allgegenwärtig. Gleichzeitig waren unsere Vorfahren auch von einem tiefen Friedenswunsch beseelt. Sobald eine Schlacht gewonnen und die Gefahr gebannt war, wurden Kriege geächtet. Bei den Einwohnern Neu Guineas wurden Krieger als »Abfallmänner« bezeichnet. Schon oft war man überzeugt, dass gewalttätige Auseinandersetzungen definitiv der Vergangenheit angehören.24 Dass man in einer bestimmten Situation auf Gewalt zurückgreifen muss, überstieg regelmäßig das Vorstellungsvermögen von Gemeinschaften, in denen Frieden herrschte. Das Schreckliche und gewalttätige Konflikte wurden aus dem Denkraum verbannt und man rüstete ab, bis die gesellschaftliche oder politische Situation sich änderte und die Realität es verlangte, auf Gewaltmaßnahmen zurückzugreifen. Friedensphasen, in denen man gemeinsam der Gewalt abschwor und überzeugt war, durch magische Praktiken, Riten oder den Lebensstil gewalttätige Auseinandersetzungen verhindern zu können, wurden durch unerwartete, grässliche Kriege beendet. Immer wieder glaubten menschliche Gemeinschaften, den Schlüssel zum Frieden gefunden zu haben, bis sie schmerzlich eines Besseren belehrt wurden. Oft führte die Unfähigkeit, Konfliktszenarien anzudenken, zum Kollaps menschlicher Gemeinschaften.25 Gewalt wurde geächtet, tabuisiert – um dann plötzlich wieder bewundert und verlangt zu werden.

Unsere persönlichen Anstrengungen genügen nicht, um Gewalt zu verhindern. Um Gewalt im Nahbereich, im Privatleben oder im öffentlichen Raum einzudämmen oder zu verhindern, braucht es kollektive Anstrengungen. Zivile menschliche Gemeinschaften sind eine Antwort auf unsere Neigung zu Gewalt. Auf uns allein gestellt, ohne Ordnung sind wir unseren Schattenseiten ausgeliefert und schlagen vielleicht sogar unserem Nachbarn den Schädel ein, nur weil er einen Baum auf unsere Grenze versetzt hat. Wenn wir uns in soziale Kreise, Kulturen oder sogar Nationen einbinden lassen, dann bauen wir vielleicht Hemmungen auf. Unsere sozialen Kontakte und Beziehungen verlangen von uns Anpassungsleistungen. Diese sind oft mühsam, sie helfen uns jedoch, unsere problematischen Seiten zu neutralisieren. Wenn wir uns mit einer Gemeinschaft identifizieren, dann übernehmen wir ihre Verhaltens- und Umgangsformen. Unser Verhalten wird durch Codes, Regeln und Rituale beeinflusst. Das Risiko der persönlichen Gewalt vermindert sich, wenn unsere Bezugsgruppen gewalttätige persönliche Auseinandersetzungen nicht tolerieren. Da wir alleine damit überfordert sind, unsere Aggressionen in den Griff zu bekommen, brauchen wir die Unterstützung unserer Mitmenschen.

Die Umgangsformen und Werte, die Gemeinschaften auszeichnen, können deswegen als generalpräventive Maßnahmen gegen Gewalt verstanden werden. Die Codes und Standards, die das Zusammenleben einer Gemeinschaft regeln, verhindern oder kanalisieren Konflikte. Wer der betreffenden Gemeinschaft angehören will, respektiert ihre Codes. In der Schweiz gibt man sich bei der Begrüßung die Hand, bietet einem Besucher einen Kaffee an, und in England plaudert man ein bisschen über das Wetter. In Japan ist der soziale Kontakt durch eine Vielzahl von komplizierten Höflichkeitsformen geregelt. Je nachdem, welche Position man innehat, muss der Mitmensch anders angesprochen werden. In den Vereinigten Staaten sind joviale Kommunikationsformen die Regel. Lockerheit, Optimismus, Lob und Schmeicheleien sollen den Anderen besänftigen und ein Wohlgefühl...

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