«Völker und Menschen, Torheit und Weisheit, Krieg und Frieden, sie kommen und gehen wie Wasserwogen, und das Meer bleibt. Was sind unsere Staaten und ihre Macht und Ehre vor Gott anders als Ameisenhaufen und Bienenstöcke, die der Huf eines Ochsen zertritt oder das Geschick in Gestalt eines Honigbauern ereilt.»
Otto von Bismarck
Statt eines Vorwortes eine Warnung
Es ist erst zehn Uhr morgens. Auf der Terrasse unseres Hotels sind es bereits dreißig Grad im Schatten. Ich sitze mit meinen Kindern beim Frühstück. Direkt vor unserer Nase: die Akropolis, die berühmteste Stadtfestung der Welt. In deren Mitte der Parthenon, der Tempel, den die Bewohner dieser Stadt einst der Göttin Athene erbauten. Aus Dankbarkeit, weil sie ihnen gegen die übermächtigen Perser beigestanden hatte, die damals eine Art Atommacht waren. Der Perserkönig mit seiner hochgerüsteten Superarmee hatte geglaubt, Athen wie eine lästige Fliege mit einem Patsch erledigen zu können. Aber dann kamen Marathon und Salamis, zwei Wundersiege der Weltgeschichte – so unwahrscheinlich wie eine 7:1-Niederlage der deutschen Nationalelf gegen Liechtenstein –, und der Gang der Geschichte änderte sich. Das Kaff Athen mit seinen abenteuerlustigen und geistig wie körperlich so wachen Menschen wurde zur Supermacht des Mittelmeerraums und prägt unser Tun bis heute.
Meine Frau hat sich schon lange von der Terrasse entfernt, sie hat keine Lust, bei der Bruthitze den anstehenden Familienausflug in die antiken Stätten mitzumachen, sich von mir im Stechschritt durch die Agora, den zentralen Versammlungspunkt des antiken Athen, jagen zu lassen. Außerdem ist sie zu Recht sauer auf mich, weil ich mich gestern Abend von einem Freund, dem Auslandskorrespondenten Paul Ronzheimer, ins Athener Nachtleben entführen ließ, während unsere Kinder sich Mühe gaben, ihr Hotelzimmer rockstarmäßig zu verwüsten. Meine Kinder sind Teenager, sie interessieren sich gerade mehr für das Frühstücksbuffet als für die imposanteste Ruinenlandschaft der Welt. Mein Jüngster hat sich eine Ladung Rührei mit Speck nebst Tonnen von Weißbrot geholt – eine Kalorienmenge, die drei Dutzend Spartaner eine Woche lang glücklich gemacht hätte. Meine Tochter versucht sich seit einer Stunde ins WLAN des Hotels einzuklinken. Sie ist kultiviert. Sie tut das, um in der digitalen Welt beweisen zu können, dass sie hier gewesen ist. Auf dem Instagram-Profil kann man ja anhand von Fähnchen auf einer kleinen Weltkarte nachvollziehen, von wo aus man seine Bilder hochgeladen hat. Ein Fähnchen auf Athen, ein Bild des weißen Parthenon, das sich von dem schwimmbadblauen Himmel abhebt, geschossen mit Hipstamatic, John S Linse, Ina’s 1969-Film macht sich gut.
Warum tue ich ihnen das an? Warum es nicht mit dem Panorama belassen und dann einfach eiscremeschleckend durch den Shopping-Distrikt Plaka schlendern? Was geht uns die Zivilisation, deren Ruine wir hier vor Augen haben, eigentlich an? Überhaupt: Warum nehmen wir Menschen uns so wahnsinnig wichtig? Warum erzählen wir uns fortwährend Geschichten aus unserer Vergangenheit?
Wäre es nicht ohnehin weiser, im Jetzt zu bleiben? Was bringt uns all das Zurückschauen? Darauf gibt es nur eine Antwort: Wir haben nichts anderes. Physikalisch gesehen ist das Jetzt nicht nachweisbar. Alles, was wir sehen, ist zumindest Vergangenheit. Das Glas neben mir sehe ich erst Bruchteile von Sekunden verspätet, verzögert um die Zeit, die das Bild gebraucht hat, auf meiner Netzhaut anzukommen. Wir sehen, wenn wir in den Nachthimmel blicken, etwa sechstausend Sterne mit bloßen Augen. Jedes Licht, das wir sehen, fällt zwar gerade erst auf die Erde, ist aber ur-uralt. Je weiter sich die Quelle von uns entfernt, desto älter ist es. Das älteste Licht ist dreizehn Milliarden Jahre alt und hat sich im Moment des Urknalls mit Lichtgeschwindigkeit auf die Reise gemacht.
Es gab eine Zeit, da schien dieses Interesse an uns selbst mehr als verständlich. Bis vor kurzem glaubten die Menschen tatsächlich, dass unser Planet der Mittelpunkt des Universums sei. Unweit von hier, in Delphi, steht ein Stein. Er kennzeichnete einst die Mitte der Welt. Heute wissen wir, dass wir nicht einmal im Mittelpunkt unseres eigenen kleinen Planetensystems sind, dass wir uns wie andere Planetensysteme nur an der Peripherie – in einem unscheinbaren Vorort – unserer Galaxie befinden. Einer Galaxie von Abermilliarden anderen. Das All gibt unserem Planeten Erde die Wichtigkeit einer Bazille im Nasenpopel eines Flohs auf einem Haar auf dem Schwanz eines von zigtausend Elefanten in der unendlichen Weite Afrikas … Ist es nicht lächerlich, wenn solch winzige Lebewesen wie wir ihre Zeit damit verbringen, aufzuschreiben, wer wann warum mit wem gestritten und regiert hat? Würde es unseren Planeten morgen nicht mehr geben, würde das in der Weite des Alls gar nicht bemerkt werden. Unsere spiralnebelhafte Galaxie, die wir Milchstraße nennen, würde sich, wie alle anderen Galaxien auch, seelenruhig weiter vor sich hin drehen. Oder ist das Quatsch? Gibt es das ganze Universum überhaupt nur, weil durch uns Licht darauf fällt, weil wir es sehen? Es wahrnehmen? Wenn keiner da ist, um etwas wahr-zu-nehmen, ist es dann überhaupt wahr?
Ringen wir uns aber ruhig einmal dazu durch, unseren Planeten für besonders interessant zu halten. Damit ist immer noch nicht gesagt, dass man automatisch alle Aufmerksamkeit auf den Spätankömmling Homo sapiens sapiens lenken muss. Also so, wie Geschichtsbücher es gerne tun – und in denen es dann meist heißt: «Und dann kam der Mensch». Als ob mit uns die Schöpfung beziehungsweise Evolution – je nachdem – vollendet sei. Als ob wir der krönende Abschluss eines Weltplans seien, der uns als Herrscher dieser Welt vorsieht.
Es geht in diesem Buch um diese seltsame Spezies Mensch, die sich blitzartig, quasi im Moment ihres Erscheinens, den Planeten untertan macht. Um diese unsere seltsame Spezies zu begreifen, ist es sehr lohnenswert, zunächst den frühen Homo sapiens kennenzulernen. Aus einem ganz einfachen Grund: Wir sind dieser frühe Mensch. Uns gibt es schon so viele Hunderttausende Jahre, dass die letzten paar tausend Jahre menschlicher Kultur kaum eine Chance hatten, uns nennenswert zu verändern, und wir kaum Gelegenheit hatten, uns an die von uns geschaffenen Gegebenheiten anzupassen. Seit mindestens 150000 Jahren gibt es uns exakt so, wie wir heute sind. Rein äußerlich – und auch was unsere Gehirnleistung angeht – unterscheiden wir uns in nix von unserem Ahnen, der damals gelebt hat. Vermutlich war er sogar noch etwas intelligenter als wir, weil er in seinem Kopf Tausende Informationen, von denen sein Leben abhing, speichern und deuten musste – während wir oft genug aus Langeweile am Smartphone das Wetter checken oder CandyCrush spielen. Erst vor etwa 12000 Jahren fingen wir an, nicht mehr als Jäger und Sammler umherzustreifen. Seit dieser relativ kurzen vergangenen Zeit bauen wir, ernten wir, machen Behördengänge, schließen Bausparverträge ab und halten Termine ein. Der Mensch, der so viel darauf hält, «modern» zu sein, muss nur ein ganz einfaches Experiment machen, um zu spüren, wie wenig er sich rein körperlich von jenem frühen Menschen unterscheidet, der noch in Höhlen lebte und Mammuts jagte: ein Vollbad nehmen. Wenn das Wasser in der Wanne abkühlt, bekommen wir Gänsehaut. Unsere Vorfahren hatten mehr Körperhaare als wir: Wenn ihnen kalt wurde, half ihnen Gänsehaut, die Pelzhaare aufzurichten. Die Luft verfing sich zwischen ihren Haaren und wärmte sie.
Falls Sie keine Badewanne haben, laufen Sie mal an einem Tisch voller Essen vorbei: Seit ich weiß, dass die meisten meiner Vorfahren ihre Nahrung mühsam sammeln und jagen mussten, leuchtet mir zum Beispiel ein, warum ich an keinem halbwegs passablen Hotel-Frühstücksbuffet vorbeigehen kann. Vorhin hatte ich keinen Hunger, ich habe morgens nie Hunger. Aber Hunderttausende Jahre lang war für mich jede Nahrung ein Triumph, erzeugte ein Neuronen-Freudengewitter in meinem Hirn. Ich musste mir vorhin beim Frühstück den Teller vollladen. Tief in mir steckt die Ahnung, dass dies für lange Zeit wahrscheinlich die einzige Nahrung sein wird.
Sich für Geschichte zu interessieren heißt, sich für sich selbst zu interessieren. Geschichte betrachten wir aus einem einzigen Grund: um uns selbst zu betrachten. Wir werden sehen, dass es gute Gründe dafür gibt, sie aus der Perspektive unserer Spezies mit dem Hintergrund der von ihr geschaffenen Kultur zu erzählen.
Die ersten paar Millionen Jahre unserer Geschichte (lange, lange vor Badewanne und Hotelbuffet) werde ich weitgehend überspringen und mich auf die letzten paar tausend Jahre konzentrieren, etwa ab 10000 v. Chr., als wir anfingen, sesshaft zu werden. Wenn ich das tue, und das ist ausdrücklich als Warnung gemeint, gebe ich damit zugleich ein Werturteil ab. Nach dem Selbstverständnis der klassischen Geschichtsschreibung ist die sogenannte landwirtschaftliche Revolution, die vor etwa 12000 Jahren begann, der Beginn des Aufstiegs des Menschen, der Beginn von dem, was wir Zivilisation nennen. Die Geschichte aber erst ab dem Moment zu erzählen, an dem der Mensch anfängt, sich gegen die Natur zu stellen, ist zwar die übliche Vorgehensweise – aber man muss sich, bevor man ihr folgt, klarmachen, was für eine gewagte Behauptung dahintersteht. Die Behauptung nämlich, dass Geschichte dann wert ist, betrachtet zu werden, wenn der Mensch kein Natur-, sondern ein Zivilisationswesen ist, wenn er sich nicht...