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Weltgeschichtliche Betrachtungen

AutorJacob Burckhardt
VerlagEdition Erdmann in der marixverlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783843800426
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Der Schlüssel zum Verständnis von Burckhardts Werk liegt vor allem in seinen 'Weltgeschichtlichen Betrachtungen', einer Vorlesungsreihe, die er unter dem Titel 'Über das Studium der Geschichte' gehalten hat, und die dreißig Jahre später von seinem Neffen Oeri unter dem neuen Titel herausgegeben wurden. Sie stellen einen Versuch dar, die Aporien des Historismus durch ein typologisches System historischer Konstanten zu überwinden und ein universalgeschichtlich begründetes Urteil über die eigene Zeit zu gewinnen. Und dies unternimmt er nicht als Kulturhistoriker, sondern als Geschichtsphilosoph und Universalhistoriker.

Jacob Burckhardt (1818-1897), studierte Philologie, alte Geschichte, Theologie, Kunstgeschichte und Geschichte in Basel, Neuenburg, Berlin und Bonn. 1843 Promotion und später Habilitation in Basel. 1848-52 war er Lehrer am Pädagogium in Basel, 1853-54 Italienaufenthalt, 1855-58 Professor für Archäologie am Polytechnikum Zürich, ab 1858 schließlich ordentlicher Professor für Geschichte an der Universität Basel und Lehrer am Pädagogium. Burckhardt war neben Leopold von Ranke und Theodor Mommsen einer der größten Historiker deutscher Sprache. 'Eine unersättliche psychologische Neugierde, ruhelos und beunruhigend, von einem untrüglichen Spürsinn für das Fremdeste und Seltenste, Verschollenste und Versteckteste geleitet, war die geistige Zentraleigenschaft Burckhardts. Und dazu kam noch eine geradezu olympische Unparteilichkeit des Urteils, die alles lächelnd als berechtigt anerkennt, weil sie alles versteht.' Egon Friedell

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Leseprobe

II.

Von den drei Potenzen


Unser Thema werden Staat, Religion und Kultur in ihrem gegenseitigen Verhältnisse sein. Hierbei sind wir uns der Willkür unserer Trennung in diese drei Potenzen wohl bewusst. Es ist, als nähme man aus einem Bilde eine Anzahl von Figuren heraus und ließe den Rest stehen. Auch soll die Trennung bloß dazu dienen, uns eine Anschauung zu ermöglichen, und ohnehin muss ja freilich jede fachweise trennende Geschichtsbetrachtung so verfahren (wobei die Fachforschung jedes Mal ihr Fach für das wesentlichste hält).

Die drei Potenzen sind unter sich höchst heterogen und nicht koordinierbar, und ließe man auch die beiden stabilen, Staat und Religion, in einer Reihe gehen, so wäre doch die Kultur etwas wesentlich anderes.

Staat und Religion, die der Ausdruck des politischen und des metaphysischen Bedürfnisses sind, beanspruchen wenigstens für das betreffende Volk, ja für die Welt, die universale Geltung.

Die dem materiellen und dem geistigen Bedürfnis im engeren Sinn entsprechende Kultur aber ist für uns hier: der Inbegriff alles dessen, was zur Förderung des materiellen und als Ausdruck des geistig-sittlichen Lebens spontan zustande gekommen ist, alle Geselligkeit, alle Techniken, Künste, Dichtungen und Wissenschaften. Sie ist die Welt des Beweglichen, Freien, nicht notwendig Universalen, desjenigen, das keine Zwangsgeltung in Anspruch nimmt.

Eine unnütze Prioritätsfrage könnte zwischen den dreien aufgeworfen werden; wir sind hier davon wie von aller Spekulation über die Anfänge dispensiert.

Unser Hauptgegenstand wird zunächst ihre kurze Charakteristik und alsdann die Erörterung ihrer gegenseitigen Einwirkung aufeinander sein.

Bisweilen scheinen sie sogar in der Funktion abzuwechseln; es gibt vorzugsweise politische und vorzugsweise religiöse Zeiten oder wenigstens Momente und endlich Zeiten, die vorzugsweise den großen Kulturzwecken zu leben scheinen. Ferner wechselt ihr Bedingen und Bedingtsein oft in raschem Umschlag; oft täuscht sich der Blick noch lange darüber, welche die aktive und welche die passive ist.

Und jedenfalls existiert in Zeiten hoher Kultur immer alles auf allen Stufen des Bedingens und der Bedingtheit gleichzeitig, zumal wenn das Erbe vieler Epochen schichtweise übereinanderliegt.


1. Der Staat


Eitel sind alle unsere Konstruktionen von Anfang und Ursprung des Staates, und deshalb werden wir uns hier über diese Primordien nicht wie die Geschichtsphilosophen den Kopf zerbrechen. Nur so viel Licht, dass man sehe, was für ein Abgrund vor uns liegt, sollen die Fragen geben: Wie wird ein Volk zum Volk? Und wie zum Staat? Welches sind die Geburtskrisen? Wo liegt die Grenze der politischen Entwicklung, von welcher an wir von einem Staat sprechen können?

Absurd ist die Kontrakthypothese für den zu errichtenden Staat, die bei Rousseau auch nur als ideale hypothetische Aushilfe gemeint ist, indem er nicht zeigen will, wie es gewesen sei, sondern, wie es nach ihm sein sollte. Noch kein Staat ist durch einen wahren, d. h. von allen Seiten freiwilligen Kontrakt (inter volentes) entstanden; denn Abtretungen und Ausgleichungen wie die zwischen zitternden Romanen und siegreichen Germanen sind keine echten Kontrakte. Darum wird auch künftig keiner so entstehen. Und wenn einer so entstände, so wäre es eine schwache Schöpfung, weil man beständig um die Grundlagen rechten könnte. Die Überlieferung, welche Volk und Staat nicht unterscheidet, bleibt gerne bei der Idee von der Abstammung stehen; das Volk kennt Namensheroen und zum Teil eponyme Archegeten als mystische Repräsentanten seiner Einheit7), oder es hat eine dunkle Kunde bald von einer Urvielheit (die ägyptischen Nomen), bald von einer Ureinheit, die sich später getrennt habe (der Turm von Babel). Aber alle diese Kunde ist kurz und mythisch.

Was für Kunde geht etwa aus dem Nationalcharakter in Betreff der Anfänge des Staates hervor? Jedenfalls nur eine sehr bedingte, da er nur in einer unbestimmbaren Quote aus ursprünglicher Anlage besteht, sonst aber aus aufsummierter Vergangenheit, als Konsequenz von Erlebnissen, also zum Teil erst durch die nachherigen Schicksale des Staates und Volkes entstanden ist8).

Oft widerspricht sich die Physiognomie und das politische Schicksal eines Volkes total durch späte Verschiebung und Vergewaltigung.

Ferner kann der Staat zwar um so viel mächtiger sein, je homogener er einem ganzen Volkstum entspricht; aber er entspricht einem solchen nicht leicht, sondern einem tonangebenden Bestandteil, einer besonderen Gegend, einem besonderen Stamm, einer besonderen sozialen Schicht.

Oder hätte das Rechtsbedürfnis allein schon den Staat geschaffen? Ach, das hätte noch lange warten müssen! Etwa bis die Gewalt sich selber so lange gereinigt hätte, dass sie zu ihrem eigenen Vorteil und um das Ihrige sicher zu genießen, auch andere aus der Verzweiflung zur Ruhe zu bringen für gut fände. Auch dieser einladenden optimistischen Ansicht, wonach die Gesellschaft das Prius und der Staat zu ihrem Schutze entstanden wäre, als ihre negative, abwehrende, verteidigende Seite, so dass er und das Strafrecht identischen Ursprung hätten, können wir also nicht beitreten. Die Menschen sind ganz anders.

Welches waren die frühesten Notformen des Staates? Wir möchten dies z. B. gerne für die Pfahlbauleute wissen. Aber die Verweisung auf Neger und Rothäute hilft nicht, so wenig wie die auf die Negerreligion bei der Religionsfrage; denn die weiße und gelbe Rasse sind gewiss von Anfang an anders verfahren, die dunklen können für sie nicht maßgebend sein.

Etwas wesentlich anderes sind ferner die Tierstaaten, bei weitem vollkommener als die Menschenstaaten, aber unfrei. Die einzelne Ameise funktioniert nur als Teil des Ameisenstaates, welcher als ein Leib aufzufassen ist. Das Ganze, was da vorgeht, ist dem einzelnen Individuum ganz unverhältnismäßig überlegen, ein Leben in vielen Atomen; schon die höheren Tierklassen aber leben bloß als Familie, höchstens als Rudel. Nur der Menschenstaat ist eine Gesellschaft, d. h. eine irgendwie freie, auf bewusster Gegenseitigkeit beruhende Vereinigung.

So ist denn nur zweierlei wahrscheinlich: a) Die Gewalt ist wohl immer das Prius. Um ihren Ursprung sind wir nie verlegen, weil sie durch die Ungleichheit der menschlichen Anlagen von selbst entsteht. Oft mag der Staat nichts weiter gewesen sein als ihre Systematisierung. Oder b) wir ahnen sonst einen höchst gewaltsamen Prozess, zumal der Mischung. Ein Blitzstrahl schmilzt mehreres zu einem neuen Metall zusammen, etwa zwei Stärkere und ein Schwächeres oder umgekehrt. So dürften sich zum Zweck einer Eroberung oder bei Anlass einer solchen die drei Dorierphylen und die drei Gotenstämme zusammengetan haben9). Eine schreckliche Gewalt, an die sich das Vorhandene ansetzte und die dann zur Kraft wurde, sind auch die Normannen in Unteritalien.

Von den furchtbaren Krisen bei der Entstehung des Staates, von dem, was er ursprünglich gekostet hat, klingt noch etwas nach in dem enormen, absoluten Vorrecht, das man ihm von jeher gewährt hat.

Dies erscheint uns wie eine aprioristische Selbstverständlichkeit, während es wohl zum Teil verhüllte Überlieferung ist, wie dies noch von manchem gilt; denn viele Überlieferung geht unausgesprochen, durch die bloße Zeugung, von Geschlecht zu Geschlecht; wir können dergleichen nicht mehr ausscheiden.

Ist die Krisis eine Eroberung gewesen, so ist der frühste Inhalt des Staates, seine Haltung, seine Aufgabe, ja, sein Pathos, wesentlich die Knechtung der Unterworfenen10).

In den frühesten Bildern vom Staate braucht das älteste Überlieferte nicht gerade das Altertümlichste zu sein. Wüstenvölker, auch von hoher Rasse, von denen das einzelne Individuum, sobald es in eine andere Umgebung kommt, sogleich in das moderne Leben hineinwächst, behaupten bis in unsere Tage hinein einen sehr urtümlichen Zustand: den patriarchalischen, während die ältesten erhaltenen Staatsbilder (Inder vor der Gangeszeit, Juden, Ägypter) schon einen höchst abgeleiteten Zustand geben, der die Zeiten der Zähmung der Natur, d. h. Jahrtausende, hinter sich hat. Alles erscheint hier schon durch Reflexion hindurchgegangen, zum Teil in später Redaktion, und im heiligen Recht dieser Völker (Manu, Moses, Zendavesta) ist gewiss schon vieles aufgezeichnet, wonach man leben sollte, aber bereits nicht mehr lebte. Während also das Ägypten des Menes (ca. 4000 v. Chr.) erst beginnt, nachdem der patriarchalische Zustand längst überwunden ist, dauert er hart daneben, in Arabien, bis auf den heutigen Tag.

Das Altertum begnügte sich mit der Betrachtung der drei aristotelischen Verfassungsformen und ihrer ausgearteten Nebenformen11). Aber die wirkliche Stufenreihe ist viel ungeheurer und geht nicht in diese Einteilung hinein. Etwas ganz Besonderes ist z. B. das Königtum im Mittelalter, indem es 1. streng erblich ist und Thronwechseln und Usurpationen nur selten unterliegt, 2. ein persönliches Recht und Eigentum, das Gegenteil aller Volkssouveränität ist, so dass das Volk auf keine Weise als Quelle der Macht erscheint, 3. Einzelrechte ausstellt, deren Beobachtung man von ihm durch Fehde und durch Verweigerung der Steuern und des Kriegsdienstes erzwingen kann, 4. einen sehr beschränkten Kreis der Tätigkeit hat, indem es von Kirche, Universitäten, Orden, Städten, Korporationen rings umgeben ist, welche lauter Republiken und durch Privilegien und Statuten gedeckt sind, 5. ein unauslöschliches, nicht einschlafendes, selbst im größten Elend nicht sterbendes...

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