Kultur nennen wir die ganze Summe derjenigen Entwickelungen des Geistes, welche spontan geschehen und keine universale oder Zwangsgeltung in Anspruch nehmen.
Sie wirkt unaufhörlich modifizierend und zersetzend auf die beiden stabilen Lebenseinrichtungen ein – ausgenommen insofern dieselben sie völlig dienstbar gemacht und zu ihren Zwecken eingegrenzt haben.
Sonst ist sie die Kritik der beiden, die Uhr, welche die Stunde verrät, da in jenen Form und Sache sich nicht mehr decken.
Ferner ist sie derjenige millionengestaltige Prozeß, durch welchen sich das naive und rassenmäßige Tun in reflektiertes Können umwandelt, ja in ihrem letzten und höchsten Stadium, in der Wissenschaft und speziell in der Philosophie, in bloße Reflexion.
Ihre äußerliche Gesamtform aber gegenüber von Staat und Religion ist die Gesellschaft in weitestem Sinne.
Jedes ihrer Elemente hat so gut wie Staat und Religion sein Werden, Blühen, d.h. völliges Sichverwirklichen, Vergehen und Weiterleben in der allgemeinen Tradition (soweit es dessen fähig und würdig ist); Unzähliges lebt auch unbewußt weiter als Erwerb, der aus irgend einem vergessenen Volk in das Geblüt der Menschheit übergegangen sein kann. Ein solches unbewußtes Aufsummieren von Kulturresultaten in Völkern und Einzelnen sollte man überhaupt in Rechnung ziehen.
Dies Wachsen und Vergehen folgt höheren, unergründlichen Lebensgesetzen. An der Spitze aller Kultur steht ein geistiges Wunder: die Sprachen, deren Ursprung, unabhängig vom Einzelvolke und seiner Einzelsprache, in der Seele liegt, sonst könnte man überhaupt keinen Taubstummen zum Sprechen und zum Verständnis des Sprechens bringen; nur durch den entgegenkommenden inneren Drang der Seele, den Gedanken in Worte zu kleiden, ist dieser Unterricht erklärlich. Dann aber sind die Sprachen die unmittelbarste, höchst spezifische Offenbarung des Geistes der Völker, das ideale Bild desselben, das dauerhafteste Material, in welches die Völker die Substanz ihres geistigen Lebens niederlegen, zumal in den Worten großer Dichter und Denker.
Ein unermeßliches Studium hat sich hier eröffnet, sowohl aufwärts nach dem ursprünglichen Grundbegriff der Wörter (etymologisch mit Hilfe der vergleichenden Sprachforschung), als abwärts nach der grammatischen und syntaktischen Ausbreitung hin, von der Wurzel ausgehend, die man durch Verbum, Substantiv, Adjektiv und deren endlose Flexionen verfolgen mag.
Im ganzen zeigt sich die Sprache je früher, desto reicher; die hohe Geisteskultur mit ihren Meisterwerken tritt erst ein, wenn sie schon im Abblühen ist.
Am Anfang, in ihrem Aufblühen, muß die Sprache ein höchst anmutiges Spiel gehabt haben; alle Organe scheinen feiner gewesen zu sein, besonders das Ohr, auch bei Griechen und Germanen. Der große Flexionsreichtum muß spätestens schon zugleich mit dem sachlichen Sprachschatz, ja vielleicht schon früher vorhanden gewesen sein, und so wird man das Werkzeug in seiner Vollkommenheit schon vor dem Gebrauche besessen haben, so daß man schon alles Mögliche hätte sagen können, als man nur erst wenig zu sagen hatte. Erst das rauhe, geschichtliche Leben und die Überwältigung der Sprache durch die Sachen, durch den Gebrauch, stumpften sie ab.
Enorm ist aber auch die Rückwirkung der einmal vorhandenen Sprache auf die Geistesgeschichte der einzelnen Völker.
Nach Lasaulx (S. 28) wäre die Reihenfolge in der Kultur die gewesen, daß auf den Bergbau (d.h. irgend einen Grad der Metallbereitung), Viehzucht, Ackerbau, Schiffahrt, Handel, Gewerbe, bürgerlicher Wohlstand gefolgt wären; dann erst wären aus dem Handwerk die Künste und aus diesen zuletzt die Wissenschaften entstanden. Dies ist eine scheinbare Vermengung, indem die einen dieser Dinge ihren Ursprung im materiellen, die anderen im geistigen Bedürfnis haben. Allein der Zusammenhang ist in der Tat ein sehr enger und die Dinge nicht zu sondern. Bei allem mit selbständigem Eifer, nicht rein knechtisch betriebenen materiellen Tun entbindet sich ein, wenn auch oft nur geringer, geistiger Überschuß. Dasselbe Vermögen funktioniert also rasch nacheinander in zweierlei Dienst.
"Das ist's ja, was den Menschen zieret,
Und dazu ward ihm der Verstand,
Daß er im innern Herzen spüret,
Was er erschafft mit seiner Hand."
(Schillers Glocke)
Und dieser geistige Überschuß kommt entweder der Form des Geschaffenen zugute als Schmuck, als möglichste äußere Vollendung; – die Waffen und Geräte bei Homer sind herrlich, bevor von einem Götterbilde die Rede ist; – oder er wird bewußter Geist, Reflexion, Vergleichung, Rede – Kunstwerk; – und ehe es der Mensch selber weiß, ist ein ganz anderes Bedürfnis in ihm wach als das, womit er seine Arbeit begonnen, und dieses greift und wirkt dann weiter. Im Menschen ist überhaupt nie bloß eine Seite ausschließlich, sondern immer das Ganze tätig, wenn auch einzelne Seiten desselben nur schwächer, unbewußt.
Ohnehin sind diese Dinge nicht nach der unendlichen Arbeitsteilung und Spezialisierung unserer Zeit zu beurteilen, sondern nach dem Bilde von Zeiten, da noch alles näher beisammen war.
Und endlich ist nicht nötig, für die Entbindung jedes Geistigen einen materiellen Anlaß als Basis aufzufinden, obwohl er sich am Ende fände. Wenn der Geist sich einmal seiner selbst bewußt geworden, bildet er von sich aus seine Welt weiter.
Das Außerordentlichste sind jedenfalls die Künste, rätselhafter als die Wissenschaften; die drei bildenden Künste machen hier keinen Unterschied neben Poesie und Musik.
Alle fünf sind scheinbar entweder aus dem Kultus hervorgegangen oder doch in früher Zeit mit ihm verbunden gewesen, aber doch auch vor ihm und ohne ihn vorhanden. GIücklicherweise sind wir auch hier der Spekulation über die Anfänge enthoben.
Nicht ganz abschließend für die Stellung der Kunst in der Weltkultur sind Schillers "Künstler". Es reicht nicht, daß das Schöne als Durchgangspunkt und Erziehung zum Wahren dargestellt wird; denn die Kunst ist in hohem Grade um ihrer selbst willen vorhanden.
Die Wissenschaften sind teils die geistige Seite des praktisch Unentbehrlichen und die systematische Seite des Unendlich-Vielen, d.h. die großen Sammlerinnen und Ordnerinnen dessen, was auch ohne ihr Zutun tatsächlich vorhanden ist, – teils dringen sie voran und entdecken dasselbe, sei es Einzelheit oder Gesetz, – endlich versucht die Philosophie die höchsten Gesetze alles Seienden zu ergründen, aber wiederum als auch ohne sie und vor ihr, nämlich ewig, bestehende.
Ganz anders die Künste; sie haben es nicht mit dem auch ohne sie Vorhandenen zu tun, auch keine Gesetze zu ermitteln (weil sie eben keine Wissenschaften sind), sondern ein höheres Leben darzustellen, welches ohne sie nicht vorhanden wäre.
Sie beruhen auf geheimnisvollen Schwingungen, in welche die Seele versetzt wird. Was sich durch diese Schwingungen entbindet, ist dann nicht mehr individuell und zeitlich, sondern sinnbildlich bedeutungsvoll und unvergänglich.
Die großen Alten wußten nichts von uns, und wie weit sie selber an die Nachwelt dachten, mag fraglich bleiben; aber
... "Wer den Besten seiner Zeit genug getan,
Der hat gelebt für alle Zeiten!"
Aus Welt, Zeit und Natur sammeln Kunst und Poesie allgültige, allverständliche Bilder, die das einzig irdisch Bleibende sind, eine zweite ideale Schöpfung, der bestimmten einzelnen Zeitlichkeit enthoben, irdisch-unsterblich, eine Sprache für alle Nationen. Sie sind damit ein größter Exponent der betreffenden Zeitalter, so gut wie die Philosophie. Äußerlich sind ihre Werke den Schicksalen alles Irdischen und Überlieferten unterworfen, aber es lebt genug davon weiter, um die spätesten Jahrtausende zu befreien, zu begeistern und geistig zu vereinigen.
Und hiebei kommt uns Spätem glücklich zu Hilfe unsere restaurierende Fähigkeit, welche aus Fragmenten mit Hilfe der Analogie das Ganze errät. Die Kunst wirkt eben noch im Exzerpt, in der Kontur, in der bloßen Andeutung, ja noch sehr stark im Fragment, seien es antike Skulpturen oder Stücke von Melodien.
Von unserer Voraussetzung des Glückes bei den Schaffenden soll später die Rede sein.
Bei den meisten Künsten, selbst bei der Poesie, kann freilich noch der Sachinhalt (das Wünschbare, das Schreckliche, das sinnlich Begehrenswerte) in hohem Grade mitwirken, sowohl auf den Künstler als auf den Betrachtenden. Ja die meisten Leute glauben, die Kunst sei die Nachahmung des physisch Vorhandenen, Einzelnen, Gebrechlichen und eigentlich dazu da, um das, was ihnen aus anderen Gründen wichtig ist, recht eindringlich darzustellen und zu "verewigen". Glücklicherweise aber gibt es eine Architektur, in welcher sich reiner als sonst irgendwo, und unabhängig von jenem allem, ein idealer Wille ausdrückt. Hier zeigt sich am deutlichsten, was Kunst ist trotz ihrer freilich nicht zu leugnenden großen Abhängigkeit vom Zweck und ihres oft langen Ausruhens auf konventionellen Wiederholungen.
Die Architektur beweist nun, wie frei von jenen stofflichen Nebenabsichten jede andere Kunst ist oder sein kann. Ihre spezielle Parallele hierin ist...