Einleitung – Hunger nach Leben
Essstörungen äußern sich durch ein gestörtes Verhältnis zum Essen und zum eigenen Körper. Es gibt verschiedene Formen von Essstörungen, wobei Mischformen häufig sind.
Im Folgenden sollen die drei bekanntesten Essstörungen kurz beschrieben werden:
Steckbrief Magersucht
- Gewicht: extremes Untergewicht (BMI unter 17,5)
- Essverhalten: restriktiv (Gewichtsverlust durch Nahrungsreduktion und erhöhte sportliche Betätigung) oder purgativ (Gewichtsverlust durch Erbrechen oder den Gebrauch von Abführmitteln und/oder entwässernden Medikamenten)
- Weitere Merkmale: Gestörtes Körperschema, hohe Leistungsansprüche, Denken und Handeln drehen sich nur um den Gewichtsverlust
„Anorexia nervosa“ bedeutet übersetzt so viel wie „nervlich bedingte Appetitlosigkeit“. Es handelt sich dabei um weit mehr als um ein Zeitgeist-Phänomen. Magersucht ist schon aus früheren Jahrhunderten bekannt und wurde bereits im 17. Jahrhundert beschrieben. Als erste prominente Betroffene wird häufig Sisi, die Kaiserin von Österreich, genannt, die in einem Teufelskreis aus Fasten und exzessiver körperlicher Betätigung gesteckt haben soll. Die erste wissenschaftliche Beschreibung der Magersucht wird William Gull zugeschrieben, der 1868 drei Fallberichte der damals als „Anorexia hysterica“ bezeichneten Krankheit aufschrieb.
Magersucht ist die vermutlich bekannteste und äußerlich auffälligste Essstörung. Sie tritt am häufigsten bei jungen Mädchen auf (sogar schon im Grundschulalter), wobei die Zahl männlicher Patienten mittlerweile zunimmt. Die Krankheitsdauer kann völlig unterschiedlich sein. Es gibt Betroffene, die schon nach wenigen Monaten wieder geheilt werden können aber auch zahlreiche Fälle, bei denen die Magersucht chronisch wird und weit ins Erwachsenenalter hineinreicht. Bei bis zu 15 % der Betroffenen führt die Magersucht zum Tod.
Patienten mit Magersucht fallen in ihrem Essverhalten dadurch auf, dass sie ungern in Gesellschaft anderer essen, Essen häufig als Ritual zelebrieren und nur sehr langsam essen. Viele Betroffene kochen gerne für andere, essen aber selbst nichts von den zubereiteten Speisen. Sie wählen ihre Lebensmittel streng nach Fett- oder Kaloriengehalt aus und kennen den Kaloriengehalt der meisten Lebensmittel auswendig.
Magersucht und das gestörte Körperschema
Selbstbild:
- Den eigenen Körper als „fett“ empfinden
- Im Spiegel ewig lang angebliche Problemzonen betrachten
Außenwirkung:
- Erscheinen als beängstigend dünn
- Werden besorgt auf das Untergewicht angesprochen
Gegenmaßnahme:
- Weite Kleidung, um den ungeliebten Körper zu verstecken
- Körperbetonende Kleidungsstücke verbannen
- Keine nackte Haut zeigen und Schwimmbäder, Saunabesuche und Arzttermine meiden
Steckbrief Bulimie
- Gewicht: Unter- oder Normal-, selten auch Übergewicht
- Essverhalten: Fressanfälle mit anschließenden, rückgängig machenden Methoden
- Neben Erbrechen auch Missbrauch von Abführmitteln, Appetitzüglern oder Entwässerungsmitteln
- Weitere Merkmale: tiefes Schamgefühl, sehr schlankes Körperideal, nach außen gesund und normal wirkend
Betroffene verzichten im Alltag auf viele geliebte Lebensmittel, die sie bei einem anfallsartigen Kontrollverlust in großen Mengen in sich hineinstopfen. Um nicht zuzunehmen, erbrechen sie sich anschließend.
Monatlich werden nicht selten bis zu 1000 Euro oder noch mehr auf diese Weise die Toilette runtergespült.
Der Begriff „Bulimie“ kommt vom griechischen „bulimos“, was „Ochsenhunger“ bedeutet. Erste Berichte, die diese Krankheit beschreiben, könnten sogar schon aus der Antike stammen. Eine wichtige Veröffentlichung zu dem Krankheitsbild stammt von Professor Gerald Russel (1979), der erstmals die Bezeichnung „Bulimia nervosa“ für die Krankheit verwendet hat und diese wissenschaftlich beschrieb.
Etwa 95 % aller an Bulimie erkrankten Menschen sind weiblich. Angaben zur Häufigkeit sind jedoch wegen der hohen Dunkelziffer schwierig. Schätzungen gehen von zwei bis vier Prozent in der Risikogruppe der 18- bis 35-jährigen Frauen aus. Das Alter bei Erkrankungsbeginn ist in der Regel etwas höher als bei der Magersucht.
Kennzeichnend für das Essverhalten sind zwei Bedürfnisse, die sich nicht vereinen lassen. Bulimiker lieben einerseits das Essen und haben das Verlangen, hemmungslos zu essen, wollen dabei aber unbedingt dünn bleiben. Wiederholte Attacken von Heißhunger („Ess-“ oder „Fressattacken“) treten auf, gefolgt von selbst herbeigeführtem Erbrechen. Für die Fressattacken werden vor allem die hochkalorischen und normalerweise „verbotenen“ Nahrungsmittel gewählt, also fett- und kohlenhydratreiche Esswaren. Mehrere Tausend Kalorien können pro Attacke verschlungen werden. Die Häufigkeit der Fress- und Brechanfälle schwankt zwischen ein bis zwei Mal pro Woche bis mehrmals pro Tag. Dazwischen gibt es oft Phasen des absoluten Fastens und Diäthaltens, häufig getrieben vom schlechten Gewissen, „über die Stränge geschlagen zu haben“.
Typisch ist, dass die Patienten alles daran setzen, die Attacken vor dem Partner, Familienangehörigen und Freunden zu verheimlichen. Dies ist meist in ihrem hohen Schamgefühl begründet. Die Betroffenen beschäftigen sich zwanghaft und fast permanent mit allem, was mit Essen, Kalorien, Körpergewicht, Diät, Figur etc. zu tun hat. Rasche Gefühlsschwankungen treten auf, immer wieder kommen Versagensgefühle hervor. Nicht selten haben die Betroffenen finanzielle Probleme. Manche Patienten nehmen gar hohe Schulden auf sich, um die Lebensmittelmengen weiterhin finanzieren zu können. Selbst „Mundraub“ aus den Lebensmittelvorräten von Freunden, der Familie oder gar im Supermarkt kommt vor.
Äußerlich geben die Betroffenen ein recht souveränes Bild ab: Sie sind oftmals sehr kontrolliert und haben ihr Leben scheinbar gut im Griff. Meist sind sie recht erfolgreich in ihren Bereichen, funktionieren gut im Beruf und im Alltag. Sie sind für Freunde beliebte „Kummerkästen“ und Ratgeber. Innerlich jedoch sieht es ganz anders aus.
Die gesamte Gefühlswelt ist durch das bulimische Verhalten stark beeinflusst. Die Patienten leiden unter einem niedrigen Selbstwertgefühl, das mit zunehmender Krankheitsdauer und dem immer wieder aufkehrenden schlechten Gewissen noch tiefer sinkt. Es droht Einsamkeit trotz scheinbarer sozialer Integration. Nicht wenige Patienten entwickeln im Verlauf ihrer Erkrankung weitere Suchterkrankungen wie der Alkohol- oder Arzneimittelabhängigkeit. Es wird häufig von Anfällen von selbstverletzendem Verhalten berichtet. Zudem ist die Krankheit eine immense Belastung für partnerschaftliche Beziehungen.
Steckbrief Binge-Eating-Disorder
- Gewicht: Normal-, meist Übergewicht
- Essverhalten: Unkontrollierte Essanfälle ohne rückgängig machende Maßnahmen wie anschließendes Erbrechen
- Weitere Merkmale: Essen als Stimmungsaufheller und oft aus Einsamkeit, danach Schuldgefühle und Selbstekel
Betroffene der Binge-Eating-Disorder haben eher wenige Freunde und fühlen sich einsam. Um gegen die innere Leere anzukämpfen, verschlingen sie anfallartig riesige Mengen Nahrungsmittel. Dies ist auch der auffälligste Unterschied zur „normalen“ Adipositas: Während „nur“ übergewichtige Menschen immer zu viel essen, weisen viele Menschen mit Binge-Eating-Disorder ein eher normales Essverhalten zwischen den Essanfällen auf.
Essen ist für diese Patienten häufig Trost und die einzige Freude, der zu bestimmten Anlässen nachgegeben wird. Nichtsdestoweniger leiden sie unter den unkontrollierten Essanfällen und begegnen der eigenen Figur wegen des Übergewichts mit Hassgefühlen.
„Binge-Eating“ bedeutet übersetzt „Essgelage“. Das Essverhalten der Betroffenen zeichnet sich dadurch aus, dass sie riesige Mengen Nahrungsmittel mit einem Mal in sich hineinstopfen und nicht mehr aufhören können. Während dem Essen fühlen sie sich gut und genießen die Nahrungsmittel.
Die Binge-Eating-Disorder ist noch nicht als eigenständiges Krankheitsbild klassifiziert und wird in den internationalen medizinischen Klassifikationssystemen (ICD, DSM) nur unter den „unspezifischen Essstörungen“ erwähnt. Der Aufklärungs- und Forschungsbedarf bei dieser Störung ist noch hoch.
Zur Prävalenz wird angeben, dass die Binge-Eating-Disorder häufiger als Magersucht und Bulimie vorkommt. Man geht von ca. 0,7–4 Prozent der Bevölkerung aus. Etwa 40 Prozent der Betroffenen sind Männer, was zeigt, dass der Anteil an Männern hier um etliches größer ist als bei anderen Essstörungen. Der Erkrankungsbeginn liegt zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr, ein weiterer Altersgipfel liegt zwischen dem 45. und 55. Lebensjahr. Die durchschnittliche Krankheitsdauer beträgt Untersuchungen zufolge 11 Jahre.
Wichtig ist die Unterscheidung zur Adipositas: Adipositas ist eine medizinische Diagnose und bezeichnet nur das Übergewicht an...