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E-Book

Wenn Kinder krank werden

Eine kleine Psychosomatik von Husten, Schnupfen, Heiserkeit

AutorHans Hopf
VerlagMabuse-Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9783863212544
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Wenn Kinder an Fieber, Durchfall, einer Infektion oder an Schlafstörungen leiden, denken wir zunächst an alte Hausmittel, an wirksame Medikamente und erhoffen schnelle Hilfe durch einen Besuch beim Arzt. Manchmal ist eine Krankheit aber auch ein Hinweis auf Entwicklungsschwierigkeiten des Kindes oder Ausdruck von Konflikten im sozialen Umfeld. Die Fallgeschichten des erfahrenen Kinderpsychoanalytikers Hans Hopf sensibilisieren Eltern und ErzieherInnen für solche Zusammenhänge, die aus unserem Erziehungsalltag oft ausgeklammert werden. Das Buch zeigt uns, wie wir lernen, genauer in das Kind hineinzuhorchen und seine Erkrankungen besser zu verstehen.

Hans Hopf, analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, arbeitete bis 1995 in eigener Praxis und bis 2003 als Therapeutischer Leiter im Therapiezentrum Osterhof, Baiersbronn. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und Artikel zu den Schwerpunkten Aggression, Traum, Spezielle Neurosenlehre bei Kindern und Jugendlichen, ADHS und Jungen.

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Leseprobe

1. Kapitel:


Kranke Kinder sind wieder ganz kleine Kinder


Vor längerer Zeit besuchte ich einen Bekannten, der an einer fiebrigen Angina erkrankt war. Herr S., ein dynamischer Mann von 37 Jahren, arbeitet üblicherweise bis zu vierzehn Stunden am Tag.

Nachdem ich geläutet hatte, wurde ich von der Ehefrau empfangen. Sie trug ein sorgenvolles Gesicht und bedeutete mir mit flüsternder Stimme, nur nicht so laut zu sein. Dann führte sie mich ins Zimmer des Kranken. Da lag Herr S. auf dem Rücken, die Augen halb geschlossen, und die Jalousien waren halb heruntergelassen. Auf dem Nachttisch stand neben einer Batterie von Medikamenten ein Haustelefon, mit welchem die Ehefrau oder die Kinder herbeizitiert werden konnten, sobald Herr S. irgendwelche Bedürfnisse verspürte. Ganz in sich gekehrt lag der sonst so aktive Mann da. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass es nur eine Angina war, hätte ich das Allerschlimmste vermutet.

Wir unterhielten uns ein wenig. Und etwas später bat mich Herr S., ihm den Telefonhörer zu reichen. Mit flüsternder Stimme gab er durch, seine Frau möge ihm einen Tee aufbrühen, weil er sehr durstig sei. Der Tee wurde rasch gebracht und Frau S. legte den Arm um den Hals ihres Mannes, stützte seinen Kopf und Herr S. trank mit kleinen Schlucken aus der Schnabeltasse, welche seine Frau ihm reichte.

Da lag er, der sonst so kühle, überlegene Geschäftsmann, war wieder zum Kleinkind geworden und ließ sich von einer gütigen Mutter füttern.

Kranke Männer von der Art des Herrn S. sind nicht selten zu finden. Besonders „männliche“ Männer scheinen es von Zeit zu Zeit nötig zu haben und zu genießen, gehätschelt und gepflegt zu werden. Was wir am Beispiel des Herrn S. sehr schön beobachten können: Er zeigt Verhaltensweisen, die er eigentlich längst „überwunden“ hat; er ist zu einer Lebensstufe zurückgekehrt, welche er in seiner Entwicklung eigentlich längst verlassen hatte. Die Krankenrolle hat viel mit der eines sehr kleinen Kindes zu tun.

Bei Kindern ist das nicht anders. Sie verhalten sich dann oft so, wie wenn sie sehr müde sind: Zornanfälle nehmen zu, das Kind wird reizbar und tyrannisch. Aber es gibt noch weitere Verhaltensweisen, an denen abzulesen ist, dass kranke Kinder wieder zu ganz kleinen Kindern werden: Beim kranken Kind gewinnt der Körper – ähnlich wie beim einschlafenden Kind – im Vergleich zur Umwelt wieder an Bedeutung. Oft kommt es in der Krankheit zu ähnlichen Ritualen wie beim Einschlafen: Schaukeln, Daumenlutschen und manche Kinder verlangen wieder nach dem Schnuller, den sie sonst längst als Attribut des Kleinkindes „verachten“. Oder sie wollen – oft sogar Schulkinder – ihren Tee oder Kakao wieder aus einer Flasche mit Sauger trinken. Der Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald W. Winnicott sprach in diesem Zusammenhang auch von Übergangsobjekten und Übergangsphänomenen: Erworbene Fähigkeiten, wie die Kontrolle über Blase und Darm, können wieder verloren gehen: Kinder, welche längst sauber und trocken sind, nässen oder koten wieder ein, was in den meisten Fällen gar nichts direkt mit der Krankheit zu tun hat, sondern zum damit einhergehenden „Rückfall“ in kleinkindhafte Verhaltensweisen gehört.

Was ist Regression?

Nach Sigmund Freud kommt es auf dem Entwicklungsweg eines Menschen immer wieder dazu, dass frühe Entwicklungskonflikte ungelöst bleiben. Freud beschreibt das so, als ob ein Volk an verschiedenen Stationen seiner Wanderung Abteilungen zurückgelassen hätte. Kommt es beim Voranschreiten zu Problemen, so liegt es nahe, sich mit den Vorgerückten wieder an die zurückliegenden Stationen zurückzuziehen, um dort gemeinsam Energien zu sammeln und kraftvoll wieder voranzuschreiten. Diesen Rückzug nennt man innerhalb der Psychoanalyse auch „Regression“. Wurden einst zu viele Abteilungen zurückgelassen, kommt es zwangsläufig zu häufigeren Regressionen, weil das durchmarschierende Volk für erfolgreiche Auseinandersetzungen zu schwach wird. Mit Regression bezeichnet man also ein Zurück – von einem bereits erreichten Punkt aus – bis zu einem rückwärts gelegenen Punkt. Es ist eine Rückkehr zu Etappen, die bereits überschritten sind: Regression ist ein Rückfall in bereits überwundene Verhaltensweisen.

Viele Eltern merken, dass ihr Kind krank wird, noch ehe sich Krankheitszeichen melden, wenn es nicht mehr von ihrer Seite weicht oder nicht mehr von ihrem Schoß runter will: Die Selbstständigkeit, welche das Kind in vielen Bereichen mittlerweile gewonnen hat, wird aufgegeben und mit einem Male spielen die Mutter oder der Vater wieder eine ganz wichtige Rolle.

Dieser Rückzug in frühkindliche Phasen ist oft auch nach der Krankheit des Kindes nicht sofort überwunden, sondern dauert nicht selten einige Zeit an: kleinkindhaftes Klammern an die Mutter, passive Haltung, Einnässen oder Einkoten, Trennungsängste usw. Dieser Rückzug ist ein Ergebnis von Hilflosigkeit, die durch starken inneren oder äußeren Schmerz hervorgerufen wird.

Dass ein starker äußerer Schmerz einen Rückfall in kleinkindhafte Verhaltensweisen auslösen kann, konnte ich bei meinem damals sechs Jahre alten Sohn Michael beobachten: Während des Abendessens kroch er plötzlich wortlos unter den Tisch, dann unter die Eckbank und verharrte dort regungslos mit dem Kopf gegen die Wand. Wir wussten nicht, was passiert war. Auf alle unsere Fragen und ungeschickten Tröstungen gab er keine Antwort, was uns reichlich hilflos machte. Plötzlich kam er wild hervorgeschossen und begann zu toben und zu schreien. Er hatte beim Essen auf etwas Hartes gebissen und plötzlich heftige Zahnschmerzen bekommen. Michael war erst kleinkindhaft stumm geworden und hatte sich verkrochen. Dann jedoch löste der Schmerz heftige Wut und Racheimpulse aus: Er wollte den jüngeren Bruder schlagen, welcher den Vorfall beobachtet und ein wenig hilflos lächelnd zugesehen hatte.

Typisch ist auch, dass Kinder, welche unter heftigen Schmerzen leiden und zunächst weinen und schreien, auf dem Schoß einschlafen, denn dort genießen sie Schutz und Sicherheit. Das Kind kann sich zurückfallen lassen und im Rückzug neue Kräfte sammeln.

So weit also einige Hinweise, wie sich der Rückzug kranker Kinder auf frühere, schon „abgelegte“ Verhaltensweisen zeigt – im Grunde also in ganz vergleichbarer Weise, wie ich es bei Herrn S. beobachten konnte.

Aber was beim Erwachsenen eher zum Schmunzeln Anlass gibt, was besonders dem „schwer arbeitenden und gestressten Mann“ nachsichtig zugestanden wird, ist für Kinder nicht immer selbstverständlich: Nur zu oft werden ähnliche Verhaltensweisen von kranken Kindern als „Unbeherrschtheit“ oder als der Versuch erlebt, „die Umwelt zu tyrannisieren“.

Kranke Kinder sind schwierig und der Umgang mit ihnen ist schwer. Ein krankes Kind ist nicht nur selbst hilflos, es bringt auch nicht selten über die Eltern große Hilflosigkeit, insbesondere, wenn die Krankheit mit hohem Fieber oder schlimmen Symptomen wie Erbrechen usw. einhergeht. Da richtet sich dann oft die ganze Hoffnung auf den Arzt, wie in folgendem Beispiel:

„Wenn doch der Arzt schon da wäre …“


Eine Familie ist in ein kleines Schwarzwalddorf gefahren, um Urlaub zu machen. Dort angekommen, wirkt die fünfjährige Tochter sehr müde und apathisch, was von den Eltern zunächst auf die lange und anstrengende Fahrt zurückgeführt wird. Aber am nächsten Morgen hat das Kind Fieber und mag nicht essen, weil es ihm so sehr im Mund weh tut. Noch glauben die Eltern, dass sich alles bald zum Guten wenden wird. Am Abend aber ist das Fieber auf 40° gestiegen und die Eltern sind voller Angst, was daraus wohl werden soll. Sie rufen einen Arzt an. Der vermutet am Telefon, dass es sich um „Mundfäule“ handeln könne. Er kann aber wegen der Schneeverhältnisse jetzt nachts nicht kommen, zumal er der einzige Dienst habende Arzt weit und breit ist. Er sagt zu, ganz früh am Morgen nach dem Kind zu schauen. Inzwischen schreit die Kleine nicht mehr, sondern liegt nur noch apathisch mit starren Augen da und verweigert sowohl das Essen wie auch das Trinken.

Die Angst der Eltern steigt. Eine Situation, die so manche Eltern schon einmal erlebt haben dürften. Die gemischten Gefühle, Angst um das Kind, aber auch der – wenn auch beiseite geschobene – Ärger über den verpatzten Urlaub, erzeugen eine hilflose Unfähigkeit, selbst etwas zur Bereinigung der Situation zu tun. Alle Hoffnung richtet sich auf den Arzt, der diagnostizieren, helfen und heilen soll.

Der kommt am Morgen – das Fieber ist inzwischen ein bisschen zurückgegangen –, schimpft über die schlechten Straßenverhältnisse, erklärt gleich, dass er es eilig hat, weiß ein Wort für die Krankheit – es ist „Mundfäule“ –, verschreibt...

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