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Wenn Kinder Schicksal tragen

Kindliches Verhalten aus systemischer Sicht verstehen. Mit einem Vorwort von Bert Hellinger

AutorIngrid Dykstra
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl Seiten
ISBN9783641161057
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Kindertherapie auf der Grundlage systemischer Ordnungen
Wenn Kinder körperlich oder seelisch aus dem Gleichgewicht fallen, entwickeln sie Entwicklungsstörungen oder so genannte Verhaltensauffälligkeiten. Einfühlsam zeigt Ingrid Dykstra mögliche Hintergründe solcher »Störungen« auf und stellt Angebote vor, wie das verloren gegangene Gleichgewicht zurückgewonnen werden kann.

Ingrid Dykstra, geb. 1958, ist systemische Familientherapeutin, Motopädin und Gymnastiklehrerin. Mit Melanie Niepel leitet Sie in Hamburg das Institut für Systemische Familienordnungen (ISFO), in dem sie u.a. Kinder und Jugendliche in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördert und Eltern und andere Erziehungsberechtigte berät und unterstützt.

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Vorwort


Wer von uns Erwachsenen kennt sie nicht, die Stürme des Lebens, die uns manchmal ziemlich unvorbereitet treffen und durcheinander wirbeln. Wir verlieren für kurz oder länger den Boden unter den Füßen, verlieren das Gleichgewicht. Viele von uns raffen sich danach wieder auf und gehen vielleicht sogar gestärkt daraus hervor. Es gibt aber auch viele, die der Hilfestellung bedürfen, sei es durch Freunde, die zur Stelle sind, sei es durch professionelle Hilfe, die vielfältig angeboten wird. Und manche fallen so tief, dass sie gar nicht mehr auf die Beine kommen.

Aus dem Gleichgewicht fallen, wie auch immer, ist jedes Mal aufs Neue eine Aufforderung, nach Wegen und Lösungen zu suchen, damit wir wieder in unsere Mitte finden. Menschen, die nur auf der Sonnenseite des Lebens laufen, gibt es nicht. Jeden erwischt einmal auch die dunkle Seite. Und doch sind es manchmal gerade solche Phasen, die im Rückblick betrachtet etwas in uns freisetzen, was wir unter anderen Umständen nie von uns oder anderen erfahren hätten.

Auch ich habe die dunkle Seite des Lebens kennen gelernt, und ich kann aus meiner Erfahrung sagen, dass sie die wichtigste Zeit für mich war, um zu mir und zu anderen Menschen zu finden. Ich war früher eine Traumtänzerin, etwas abgehoben und immer auf der Suche nach dem »Außergewöhnlichen«. Erst Krankheit und Krise haben mich gelehrt, den Wert des ganz »Gewöhnlichen« schätzen zu lernen, zu sehen, dass ganz »gewöhnliche« Menschen mich unterstützten, mir zuhörten, mich ernst nahmen und mir halfen, mich selbst ernst zu nehmen. Bodenständige Erfahrungen, die für mich letztendlich der Motor waren, mich beruflich dem therapeutischen Feld für Kinder und Familien zuzuwenden.

Meine erste Stelle führte mich in den Schwarzwald, in ein Kinderheim, in dem schwersttraumatisierte Kinder und Jugendliche in der Altersspanne zwischen zwei bis siebzehn, achtzehn Jahren lebten. Sie wurden dort heilpädagogisch und gestalttherapeutisch betreut und auf ein selbstständiges Leben vorbereitet. Es waren Kinder mit den verschiedensten, meistens tragischen Hintergrundgeschichten, die dort eine Schicksalsgemeinschaft bildeten: Kinder, die keiner haben wollte, Kinder, die halb verhungert und verwahrlost in letzter Minute von Jugendämtern weggeholt wurden, Kinder von Prostituierten, die fast immer nur alleine gewesen waren, Kinder, die keine Eltern mehr hatten etc. Für sie war ihr Leben unschuldig aus dem Gleichgewicht geraten.

Ich war als Bewegungstherapeutin dort eingestellt worden, hatte viel über kindliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen, über Wahrnehmung und Wahrnehmungsförderung, über Verhaltensauffälligkeiten und therapeutische Konzepte gelernt. Und musste die Erfahrung machen, dass mir das alles nicht allzu viel nutzte. Die Schwere der Schicksale dieser Kinder und die Kraft und die Würde, mit der sie sie trugen, haben mich anfangs häufig an meine Grenzen gebracht. Diese Kinder hatten zuallererst ein Recht darauf, ein offenes menschliches Gegenüber in mir zu haben. Was helfen Wahrnehmungsförderungsprogramme, wenn, wie schon in den ersten Tagen meiner Anstellung geschehen, die Tür zu meinem »Turnraum« aufgeht und zwei Kinder hereingeschoben werden, die vor zwei Stunden angekommen waren, gerade mal ihre Koffer ausgepackt hatten und offensichtlich total neben sich standen.

Ein Geschwisterpaar, Sven, zehn Jahre alt, und Martina, sieben Jahre alt. So standen sie nun da, mit großen, ungläubigen Augen die für sie fremde Umgebung und mich musternd und alles doch in keinster Weise einordnen könnend. Sven fing schließlich an zu reden und erzählte mir, dass sie gestern nach Hause gekommen wären und ihre Mutter tot in der Küche gefunden hätten. Sie hätte sich aufgehängt und sie beide hätten sie abgeschnitten, weil kein Nachbar da gewesen wäre. Einen Vater hätten sie nicht, der sei schon vor langer Zeit verschwunden. So hätten sie dann mit der Mutter gewartet, bis sie die Nachbarin gehört hätten. Er erzählte es so, als wäre es jemand anderem passiert, mit einem verlegenen Lächeln. Seine Schwester stand totenblass daneben. Ihr Verhalten war für die Kinder in dem Moment wahrscheinlich die einzige Möglichkeit zu überleben.

Ich sagte ihnen, wie tapfer sie mit dieser schweren Situation umgegangen wären und dass in diesem Heim alles dafür getan würde, damit sie gut überleben könnten. Ich erzählte auch, dass viele Kinder, mit denen sie nun zusammenleben würden, so ein schweres Schicksal hätten, dass es ihnen nach einiger Zeit ganz gut gegangen wäre und dass ich glauben würde, dass es bei ihnen auch so wäre ... Mehr konnte ich ihnen in der Situation nicht geben, außer ihnen zu zeigen und zu signalisieren, dass ich sie mit ihrer Bürde wahrnehme und mit ihnen auf das Entsetzliche schauen kann. Viel wichtiger waren dann die Heimkinder, die die beiden ohne viele Fragen mitnahmen, um ihnen alles zu zeigen, und die durch ihr eigenes Schicksal in diesem Moment wohl auch kompetenter waren ...

Nach diesem Erlebnis – und es folgten noch viele dieser Art – verschoben sich die Wertigkeiten in meinem Leben wieder einmal. Die Kinder haben mich durch die Art, wie sie es mit ihrem Leben aufnahmen, Demut meinem Leben und dem Leben an sich gegenüber gelehrt. Jedes Kind, das in diesem Kinderheim war, brachte so eine Bürde mit, und da ich immer versucht habe, das Kind mit all dem, was zu ihm gehört, zu erfassen, und da ein Kind immer Repräsentant seines Elternsystems ist, bin ich mit einer ganz anderen Tiefe des Lebens in Berührung gekommen. So manches Mal habe ich mich völlig hilflos gefühlt mit dem, was ich geben konnte, und so manchen Abend war ich total ausgelaugt, weil ich das Maß dessen, was ich geben konnte, auch überschritten hatte. Und oft hat mich auch Verzweiflung erfasst und die große Frage nach dem »Warum?«.

Erst durch die Lehre Bert Hellingers, auf die ich auf meiner immer währenden Suche nach Verstehen erst einige Jahre später gestoßen bin, als ich schon gar nicht mehr in diesem Heim arbeitete, erhielten die vielen Fragen eine Antwort. Durch die Einsicht, dass jeder Mensch in sein System und sein Schicksal eingebunden ist und dass jeder Mensch durch eine oftmals verborgene Ordnung gesteuert wird, die ein Gleichgewicht in dem System, wie immer es auch äußerlich aussehen mag, herstellt, kann ich Menschen und ihre Schicksale ganz anders betrachten und auch ganz anders hilfreich sein. Das Wissen darum, dass Kinder aus einer tiefen Bindungsliebe heraus für ihre Eltern alles tun, sogar sterben, lässt mich so manch eine vermeintliche Störung des Kindes mit ganz anderen Augen sehen. Und auch das Zurückdenken an die Kinder im Kinderheim hat die Schwere verloren, die ich nach meinem berufsbedingten Weggang dort verspürt hatte. So etwas wie eine Art schlechtes Gewissen, die Kinder, die sowieso schon so ein schlimmes Schicksal haben, verlassen zu haben beziehungsweise ihnen vielleicht nicht das Richtige oder zu wenig gegeben zu haben, war immer irgendwo in mir vergraben. Heute weiß ich, dass ich den Kindern durch solche Gedanken etwas von ihrer Größe und ihrer Würde, ihr Schicksal zu tragen, nehmen würde, und so ist nur ein tiefes Gefühl der Liebe und Dankbarkeit diesen Kindern gegenüber geblieben.

Mein weiterer Weg führte mich nach Hamburg. Dort gibt es ein Zentrum für Kindesentwicklung unter der Leitung von Dr. Inge Flehmig, die sich auf dem Gebiet der Therapie mit entwicklungsverzögerten, wahrnehmungsgestörten und verhaltensauffälligen Kindern weit über Deutschland hinaus einen Namen gemacht hat. Auch in diesem Zentrum werden Kinder behandelt, die aus dem Gleichgewicht geraten sind, und ich lernte dort eine Vielzahl von Störungen der kindlichen Entwicklung kennen, erkennen und behandeln. In dieser Einrichtung ist mir zunehmend die Wichtigkeit der Hinzunahme oder zumindest das In-den-Blick-Nehmen des gesamten Familiensystems bewusst geworden, da ich auch viel auf dem Gebiet der Elternberatungen beziehungsweise Erziehungsberatungen tätig war. Also habe ich mich auch familientherapeutisch weiterorientiert. Aber selbst unter Hinzunahme familientherapeutischer Maßnahmen waren einige »Fälle« für mich nicht lösbar, aus welchen Gründen auch immer. Das Kind wurde bestens betreut, die Eltern bemühten sich nach Kräften um Mitarbeit und Selbstreflexion, und doch kamen wir nicht an den eigentlichen Punkt, den ich zu der Zeit immer nur als Gefühl wahrgenommen habe, der aber nicht konkret greifbar wurde.

Wie schon vorweggenommen, erlebte ich dann 1997 in Kassel das erste Mal ein Seminar mit Bert Hellinger und seiner Arbeit, dem Familien-Stellen, und mein Suchen auf einer tiefen seelischen Ebene hatte ein Ende. Die nach Gleichgewicht strebende Familienseele – nie hat mich in meinem Leben etwas nachhaltig mehr berührt und erreicht als das, was ich dort kennen lernte. Das hatte Konsequenzen für mich persönlich, ich musste noch einmal viele alte Bilder überprüfen und einiges aus meinem bisherigen Lebenskonzept konnte dem nicht mehr standhalten. Für meine berufliche Tätigkeit bedeutete das noch einmal eine immense Erweiterung, ich konnte mit den Eltern auf einer ganz anderen Ebene arbeiten und hilfreich sein. Und ich sah, wie die »Ordnungen der Liebe« bei den Kindern wirkten. Ich konnte generationsübergreifende Verstrickungen bis hin zu dem Kind, mit dem ich arbeitete, erfassen. So hat sich mir das Thema Gleichgewicht von vielen Ebenen her erschlossen, und ich bin dankbar dafür.

Um der Fülle der verschiedensten Anliegen, die mit der Zeit auf mich zugekommen sind, von der Kindertherapie über die Familientherapie, Erziehungsberatungen, Therapeuten- und Pädagogenfortbildungen, Familienaufstellungen etc., adäquat begegnen zu können, ist mir der berufliche Rahmen im...

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