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Wenn Paare Eltern werden

Die Beziehung zwischen Frau und Mann nach der Geburt ihres Kindes

AutorHermann Bullinger
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783688103508
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Das Glück scheint vollkommen, wenn ein Kind erwartet wird, ein Wunschkind. Die Vorfreude läßt Mann und Frau die Zeit der Schwangerschaft ganz besonders genießen, auch ihre Liebe zueinander. Dann ist er da, der neue kleine Mensch, und macht aus der Zweierbeziehung eine Familie, macht aus dem Liebespaar ein Elternpaar. Er braucht Kraft, Zeit und Zuneigung und greift beharrlich ein in den sensiblen Raum der Zweisamkeit, der bisher nur Mann und Frau gehörte. «Alles kam ganz anders, als wir gedacht hatten»; fast alle Paare geraten in eine Krise, wenn ihr Kind beginnt, ihr Leben zu bestimmen.

Hermann Bullinger, Diplompädagoge und Vater, wurde 1948 geboren.Veröffentlichungen u.a.: «Wenn Männer Väter werden. Schwangerschaft, Geburt und die Zeit danach im Erleben von Männern» und «Wenn Paare Eltern werden. Die Beziehung zwischen Frau und Mann nach der Geburt ihres Kindes».

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Leseprobe

2. Autonomie und Abhängigkeit


Der Traum von der totalen Liebesbeziehung und die Näheangst sind in ihren heutigen Ausprägungen etwas Neues. Dasselbe gilt auch für Autonomie und Abhängigkeit in Paarbeziehungen. Wirtschaftliche und soziale Abhängigkeiten haben immer mehr an Bedeutung verloren. Mann und Frau sind in der Gestaltung ihrer Beziehungen freier geworden. Viele Freiheiten, die früher nur dem Mann vorbehalten waren, haben sich Frauen nach und nach angeeignet. Abgeschlossene Berufsausbildung und ökonomische Selbständigkeit sowie die verbesserten Möglichkeiten der Empfängnisverhütung haben vor allem die Chancen eines selbständigen und selbstbestimmten Lebens für die Frauen wachsen lassen.

Für die Rollenverteilung in Zweierbeziehungen hat die neue Autonomie der Frauen vielfältige Konsequenzen mit sich gebracht. Die Forderung nach einer Teilung von Haus- und Kinderarbeit ist entstanden. Für den Mann bedeutet dies die Konfrontation mit neuen Ansprüchen und, sofern er auf die Forderungen eingeht, den Verlust eines traditionell männlichen Privilegs, frei von Haus- und Kinderpflichten zu sein. Es bedeutet aber für ihn auch die Befreiung von einer sehr viel verantwortungsschwereren Last: Er ist nicht mehr allein für die materielle Versorgung von Frau und Kindern verantwortlich. Das hat natürlich zur Folge, daß auch die Frau mit lebenslanger Berufstätigkeit rechnen muß. Ihre materielle Unabhängigkeit läßt das Konzept der lebenslangen Ehe als durch die Wirklichkeit überholt erscheinen.

Autonomie, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung sind heute für viele Männer und Frauen bewußt bejahte und angestrebte Leitbilder auch in Paarbeziehungen, und denjenigen, die sich nicht an diesen Leitbildern orientieren wollen, bleibt faktisch keine Wahl mehr. Die Umstände zwingen sie dazu, ihr Leben und ihre Beziehungen «unabhängig» zu gestalten.

Frauen und Männer stellen sich in ihrer Lebensplanung heute zunehmend auf diese Tatsachen ein.

«Je häufiger Scheidungen werden, desto mehr bilden sich Lebensformen heraus, die die Möglichkeit eines späteren Alleinlebens vorgängig offenhalten. Vor diesem Hintergrund sind eine Reihe von Verhaltensweisen zu verstehen: Eltern, die auch deshalb bereit sind, der Tochter eine qualifizierte Ausbildung zu ermöglichen; Frauen, die eine möglichst durchgängige Berufstätigkeit planen; Paare, die das Zusammenleben ohne Trauschein vorziehen, den Kinderwunsch aufschieben oder ganz auf Kinder verzichten. So gesehen besteht ein komplexes Wechselverhältnis zwischen steigenden Scheidungszahlen und wachsender Selbständigkeit. Die Planung eines eigenen Lebens und der Zwang zu einem eigenen Leben: beides greift ineinander.»[1]

Hält der heutige Trend an, bewegen wir uns immer mehr auf eine Gesellschaft von Singles zu. Da man sein Leben so eingerichtet hat, daß man jederzeit auch allein leben könnte, bleibt man auch innerhalb einer Zweierbeziehung in gewisser Hinsicht ein Single. Die positive Seite dieser Entwicklung besteht darin, daß die verschiedenen Verantwortlichkeiten nicht mehr so ungleich zwischen Mann und Frau verteilt sind. Keiner ist mehr Dienstmagd (Hausfrau) bzw. Dienstknecht (Ernährer) des anderen. Materielle Motive spielen bei der Aufrechterhaltung einer Beziehung keine oder nur eine untergeordnete Rolle.

Gleichzeitig «produzieren» die neuen Leitbilder aber eine ganze Reihe innerer Widersprüche. Mit dem Schwinden materieller Abhängigkeit ist die emotionale Abhängigkeit deutlicher und klarer ins Bewußtsein gerückt und offizieller geworden. Das Erleben, Empfinden, die Gefühle, das Unbewußte – hält mit diesen Veränderungen nicht Schritt.

Emotionale Abhängigkeit kann die verschiedensten Formen annehmen. Sie wird von Männern und Frauen in unterschiedlicher Weise erlebt. Die amerikanische Publizistin Colette Dowling beschreibt dies für Frauen in ihrem Buch ‹Der Cinderella-Komplex›. Ihre Hauptthese lautet, daß Frauen Angst vor Unabhängigkeit haben. Diese Angst durchzieht ihr ganzes Leben und ist einer der Gründe, warum Frauen oftmals auch in Beziehungen ausharren, die sie nicht zufriedenstellen.

«Wir wachsen mit der Vorstellung auf, von einem Mann abhängig zu sein und uns ohne Mann nackt zu fühlen und zu fürchten. Man brachte uns bei, daß eine Frau allein in der Welt nicht bestehen kann; man sagte uns, sie sei zerbrechlich, zu zart und schutzbedürftig. Heute, in unserer aufgeklärten Zeit verlangt unser Intellekt von uns, daß wir auf eigenen Füßen stehen; aber das unbewältigte Erbe zieht uns nach unten. Während wir uns danach sehnen, ungebunden und frei zu sein, sehnen wir uns gleichzeitig danach, umsorgt zu werden.»[2]

Das Bedürfnis nach Sicherheit und die Angst vor Unabhängigkeit haben ihre Wurzeln in der geschlechtsspezifischen Erziehung. Kleine Mädchen werden von ihren Eltern stärker beschützt als Jungen. Mädchen lernen nicht in dem Maße wie Jungen zu konkurrieren und sich zu behaupten. Das Vorbild der auch heute meist noch materiell vom Vater abhängigen Mutter prägt. Frauen können als Mädchen nur selten lernen, auf ihre eigenen Fähigkeiten zu vertrauen.

Ihre geschlechtsspezifische Sozialisation bewirkt, daß auch Frauen, die bewußt nach Unabhängigkeit von Männern streben, unbewußte Abhängigkeitswünsche haben. Männern gegenüber äußern sich diese nicht selten in widersprüchlichem Verhalten. Sie werden von Frauen unbewußt in die Rolle des Überlegenen, Souveränen, Sicheren, des Mackers gedrängt. Nimmt der Mann diese Rolle nicht ein, kann die Frau ihn nicht akzeptieren. Füllt er die Rolle aus, wehrt sich die Frau erbittert gegen ihre Unterdrückung und Mißachtung.

«Die meisten von uns haben noch keine echte Entscheidung über ihr Leben getroffen. Der Versuch, eine Situation aufrechtzuerhalten, in der wir weder unsere Unabhängigkeit noch Abhängigkeit aufgeben, entzieht uns Energie. Wir beschuldigen die Männer, weil sie sich nicht verändern, aber unbewußt sind wir bereit, sie hinzunehmen wie sie sind.»[3]

Um nicht in dieser Widersprüchlichkeit befangen zu bleiben, müssen Frauen sich ihre unbewußten Abhängigkeitswünsche bewußtmachen und sich Schritt für Schritt daraus befreien. Frauen, denen das noch nicht gelungen ist und die sich gleichzeitig an dem Idealbild der autonomen, selbstbewußten Frau orientieren, sind oft zwanghaft bemüht, sich autonom zu geben. Ihre zur Schau getragene, zwanghafte Autonomie kann sich unter bestimmten Bedingungen jedoch schnell wieder in Abhängigkeit verwandeln. Wenn sie diese Erfahrung öfter gemacht haben, vermeiden sie Abhängigkeitssituationen in der Folge um so nachhaltiger.

«Wie es seit eh und je Männer gibt, die sich eine Geliebte halten, halten sich heute viele Frauen den Geliebten vom Leib … Selber frustriert von schlechten Erfahrungen mit Männern, haben sie zudem im Kopf eine Mischung aus Emma und Carmen und tief im Herzen den Cinderella-Komplex, sprich: den fatalen Hang, sich trotz aller erreichten Autonomie als Aschenputtel zu fühlen, das auf Erlösung durch den Märchenprinzen wartet. Und finden keinen Mann mehr, der es ihnen recht machen kann.»[4]

Wenn Männer mit solchen Verhaltensweisen von Frauen konfrontiert werden, werden ihnen ihre eigenen, verdrängten Abhängigkeitswünsche schmerzlich bewußt, die sonst von Frauen (von der Mutter angefangen) kontinuierlich und selbstverständlich befriedigt werden. Männer können sich in emotionaler Hinsicht deswegen so autonom, unabhängig und sicher verhalten, weil sie sich darauf verlassen können, daß ihre emotionalen Bedürfnisse von Frauen immer zufriedengestellt werden. Wenn Frauen jetzt die Zuwendung verweigern, wird den Männern die Macht deutlich, die Frauen ausüben können.

Frauen haben gelernt, Männer an dem wunden Punkt ihrer emotionalen Abhängigkeit zu manipulieren. Ihre Mütter haben ihnen beigebracht, daß auch erwachsene Männer wie Kinder sind, aber nicht offen als solche behandelt werden dürfen, weil sonst ihr Selbstbewußtsein beschädigt wird.

Viele Männer packt die große Wut, wenn sie auf dieses Frauenverhalten angesprochen werden. Männer sind an diesem Punkt so zu treffen, daß es zu Gewaltausbrüchen kommen kann. Oder aber sie versuchen, Frauen ebenfalls in ihrem Selbstwertgefühl zu treffen und zu erniedrigen. Oder aber sie ziehen sich auf sich selbst zurück.

Daß Männer zuwenig Gefühle zeigen, ist ein heute gängiger Vorwurf der Frauen. Auch der Mann soll sich angreifbar zeigen. Tut er es freilich, provoziert er bei Frauen widersprüchliche Gefühle. Schließlich weiß er gar nicht mehr, wie er sich verhalten soll. Und so zieht er sich auf seine Scheinautonomie zurück.

Hier treffen sich Männer und Frauen wieder: In der zwanghaften Vermeidung von Abhängigkeitsverhältnissen begegnen sie sich als scheinbar autonome Individuen, die ihre wirklichen Sehnsüchte voreinander verbergen.

Es wird deutlich, daß unaufgearbeitete Abhängigkeitsbedürfnisse zusammen mit den neuen Leitbildern autonomer Partnerschaft eine verhängnisvolle Verbindung eingehen können. Der Psychotherapeut Jürg Willi beschreibt dies so:

«Das, was mit Unabhängigkeit und Selbstbestimmung im Bereich Familie, aber auch Arbeit und Freizeit angestrebt wird, führt oft zu Frustrationen, welche nun ihrerseits die Tendenz zum Rückzug auf sich selbst verstärken, nun allerdings nicht mehr im Sinne eines konstruktiven Entwicklungsschritts, sondern als Schutzhaltung.»[5]

Eine solche Schutzhaltung kann sich heute schon in früher Kindheit herausbilden. Da Kinder immer häufiger von Scheidungen oder Trennungen ihrer Eltern betroffen sind, kann ihre...

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