Kapitel 1 »Menschen mit zwei Armen, zwei Beinen, einem Kopf«
Erste Erkundungen in Königs Wusterhausen
Königs Wusterhausen? Ach ja, das war einer der Namen auf der Skala des Blaupunkt-Radios, das in den fünfziger Jahren bei uns zu Hause auf dem Sims neben dem klobigen Sofa stand. Man streifte ihn, wenn man, in fiebriger Erwartung der Hitparade, nach dem britischen Soldatensender BBC suchte. And number one: Bill Haily – Rock around the clock.
Ein halbes Jahrhundert später irrt mein Zeigefinger auf der Autokarte durch die Mark Brandenburg, bis er irgendwo zwischen Berlin und Fürstenwalde endlich auf Königs Wusterhausen stößt. In Berlin kamen während des Zweiten Weltkriegs meine Großeltern, mütterlicherseits, bei einem Bombenangriff ums Leben. In Fürstenwalde wurde ich, als mein Vater am Frankreichfeldzug teilnahm, 1940 geboren. 1933, mit 25, war er in die NSDAP eingetreten.
Seine Kriegskameraden blieben auch nach dem Krieg die engsten Freunde meines Vaters. Einer von ihnen, der »schöne Erich«, hatte es sogar bis in die Waffen-SS gebracht. Wenn die Männer in unserem Wohnzimmer bei Bier, Korn und Mettbrötchen zusammensaßen, erzählten sie, wieder und wieder, von Lumpi, dem Regimentshund, den sie bei Perpignan aufgegriffen hatten, klagten sie, Mal um Mal, über die Zustände im amerikanischen Gefangenenlager von Remagen am Rhein und die Zumutung ihrer Entnazifizierung, sangen sie, nun schon betrunken, das Marschlied ihrer Landserjahre: »Oh, Du schö-hö-hö-ner We-he-hester-wald, über Deine Höhen pfeift der Wind so kalt; und schon der kleinste Sonnenschein dringt tief ins Herz hinein.«
Meine Mutter sprach selten über die Nazi-Zeit. Als sie es einmal tat, fiel auch der Begriff »Juden«. Das Arztehepaar, bei dem sie als Haushaltshilfe gearbeitet habe, sagte sie, sei »ganz plötzlich« verschwunden. Wohin? Achselzucken. Seitdem wurde das Wort »Juden« bei uns nie wieder erwähnt.
Königs Wusterhausen also. Bevor ich meinen Termin in der Jüdischen Gemeinde wahrnehme, schlendere ich, mich dem Zufall der Eindrücke überlassend, durch das Städtchen. Träge fließt, von Trauerweiden gesäumt und Schwänen bewohnt, die Dahme durch seine Mitte. Auf der Weihnachtspyramide im Schaufenster des Geschenkeshops blähen die lackierten Engel aus dem Erzgebirge zwei Monate vor dem Fest die Bäckchen zum Fanfarenstoß.
Der »Wernersgrüner Keller« lockt mit »Karaoke jeden Donnerstag ab 20.00 Uhr«. Für die Gäste heißt das: »Singen, bis die Luft knapp wird«. Bröckelnde Buchstaben weisen ein Gebäude am Schlosspark noch immer als »VEB Kreismühlenbetrieb« aus. Der Frisiersalon schräg gegenüber heißt »hair meets fashion«, das Sonnenstudio nebenan »beauty sun«, das Bürgerhaus im Zentrum »Hanns Eisler«.
Die wichtigsten Straßen sind nach Pionieren des Sozialismus benannt: Karl-Marx-Straße, Karl-Liebknecht-Straße oder Friedrich-Engels-Straße, die mich in ein gutbürgerliches Viertel führt. Die Häuser, nur wenige höher als zwei Stockwerke, halten gebührenden Abstand zueinander. An ihren Fassaden rankt sich herbstlich buntes Weinlaub empor. Vogelbeeren leuchten in der Mittagssonne. In den Blumenkästen blühen die robusten Begonien.
Vor dem Grundstück 10 a/b hat man zwei Platten in den Bürgersteig eingelassen, so genannte Stolpersteine. »Hier wohnte Saly Jacob, Jahrgang 1882, deportiert 1941, Riga«. Und: »Rosa Jacob, Jahrgang 1887, deportiert 1941, Riga«. Unter diese Angaben sind drei Fragezeichen graviert. Sie bedeuten: Man weiß nicht, was aus den Schwestern wurde.
Von dem Opfer, dem die Gedenktafel vor der nur wenige Meter entfernten katholischen Kirche gewidmet ist, weiß man’s. »28.2.1937. Grundsteinlegung durch Bernhard Lichtenberg, Dompropst an St. Hedwig in Berlin, gestorben am 05.11.1943 auf dem Transport ins KZ Dachau«.
Die Losung für den Monat Oktober, ausgehängt neben der Kirchenpforte, lautet:
Dankbar mich verneigen
Voll Staunen voll tiefer Liebe
Zur Schöpfung
Dankbar mich verneigen
Voll Erinnerungen an all das Gute
Das Du bewirkst
Hinter dem Bahnhof, von wo die Züge nach Berlin und Fürstenwalde fahren und vor dessen Kiosk einige glatzköpfige Jugendliche Halt an ihren Bierflaschen und Zigaretten suchen, gerate ich in ein Labyrinth aus Schrebergärten, Kleinbetrieben, Lagerhallen. Am Fliederweg entdecke ich wieder eine Tafel. So schlicht wirkt sie, dass sie verkünden könnte: »Betreten der Baustelle verboten!« Oder: »Besucher, bitte beim Pförtner melden!« Doch ich lese:
»1944–1945, Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Auf diesem Gelände zwischen ehemaliger Senziger Landstraße und Priestergraben befand sich das KZ-Außenlager Königs Wusterhausen. In diesem Lager mussten jüdische KZ-Häftlinge polnischer und ungarischer Nationalität Zwangsarbeit leisten.«
Einige Wochen zuvor habe ich die Holocaust-Gedenkstätte in Berlin besucht. Diese unscheinbare Tafel in der Vorstadtöde von Königs Wusterhausen, die von der Einbettung des Verbrechens in den Alltag berichtet, berührt mich mehr als die Stelen im Herzen Berlins, deren Monumentalität, so wirkt es zumindest auf mich, auch Distanz erzeugt zu den Todesfabriken, an die sie erinnern sollen. KZ Dachau, wohin die Nazis den Propst von Sankt Hedwig verfrachten wollten … KZ Sachsenhausen, das in Königs Wusterhausen jüdische Zwangsarbeiter ausbeutete … KZ Buchenwald, Bergen-Belsen, Theresienstadt, Neuengamme, Stutthof, Esterwegen, Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück, Mittelbau Dora, Auschwitz … Nach Auschwitz, hat der Philosoph Theodor W. Adorno, ein Jude, gesagt, könne man keine Gedichte mehr schreiben.
Der Lyriker Paul Celan, ein Jude, schreibt nicht lange nach Auschwitz ein Gedicht. Er nennt es »Todesfuge«. Seine Botschaft: »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland!« Seine Freundin Rose Ausländer, eine Jüdin, die Celan in einem osteuropäischen Ghetto kennenlernte, presst ihre Fassungslosigkeit in zwei Verse:
Mein
aus der Verzweiflung
geborenes Wort
Aus der verzweifelten Hoffnung
dass Dichten
noch möglich sei
Die Juden, die das Glück haben, der Vernichtungsmaschinerie zu entrinnen, stehen nach ihrer Befreiung ohne Heimat da. »Für uns Juden aus Deutschland«, resigniert der hochangesehene Rabbiner Leo Baeck 1945 wenige Monate nach seiner Befreiung aus dem KZ Theresienstadt, »ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wann immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muss. Unser Glaube war es, dass deutscher Geist und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen werden können. Dies war eine Illusion – die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei.«
Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer urteilt: »Die abendländische Aufklärung ist gescheitert.«
1946, ein Jahr nach der Befreiung der Konzentrationslager, befindet der jüdische Publizist Robert Weltsch: »Hier riecht es nach Leichen, nach Gaskammern und nach Folterzellen. Deutschland ist kein Boden für Juden.« In seiner Ausgabe vom 15. September 1947 bezeichnet das Jüdische Mitteilungsblatt Deutschland als »Friedhof des jüdischen Volkes«. Zwei Jahre später verkündet der Jüdische Weltkongress, dass »kein Jude mehr deutschen Boden betreten« werde. Als sich 1950 der »Zentralrat der Juden in Deutschland« gründet, gehört es zu seinen Zielen, den 15000 bis 20000 Juden, die trotz allem im Land der Mörder blieben, bei der Auswanderung behilflich zu sein.
Im brandenburgischen Königs Wusterhausen gibt es seit dem Frühjahr 2000 wieder eine jüdische Gemeinde, eine der kleinsten in der Bundesrepublik. 51 Mitglieder hat sie. Das sind elf mehr als vor der Nazi-Diktatur. Auf dem Weg ins Obergeschoss eines kommunalen Zentrums, wo sie unter einem Dach mit der Drogenberatung und der Selbsthilfegruppe »Angst und Depression« residiert, überkommt mich selbst Angst – Schwellenangst. Ihre Symptome sind ein Kreisen in der Magengrube, ein Kribbeln ums Herz, ein Chaos im Kopf.
Mein Gott, als die Juden deportiert und umgebracht wurden und dein Vater als Soldat seine schreckliche Pflicht tat, warst du ein Kleinkind … Musst du also Schuldgefühle haben? Nein. Fürchtest du, deine jüdischen Gesprächspartner könnten trotzdem Vorbehalte gegen dich, den älteren Deutschen, haben? Ja. Tragen die Zeugnisse des Verbrechens, mit denen du gerade in Königs Wusterhausen konfrontiert wurdest, zu deinen Skrupeln bei? Wahrscheinlich. Liegt deine Verunsicherung auch daran, dass du, obwohl du dich mit seinen Ursachen beschäftigst hast, die Dimension dieses Verbrechens bis heute nicht begreifst und wohl auch nie begreifen wirst? Ganz sicher.
Fürchtest du, dass du deine Unsicherheit durch Philosemitismus kompensierst und aus Gründen der political correctness alles von deinen Protagonisten fernhältst, was ihre Integrität beschädigen könnte, dass du sie also idealisierst? Auch das. Nur eine...