1. Kapitel: Wie die Zeit in die Welt kam
Herr Fusi ist 42 Jahre alt und hat einen kleinen Friseurladen inmitten einer kleinen italienischen Stadt. Jeden Tag kommen die Menschen zu ihm, lassen sich die Haare schneiden oder den Bart rasieren. Bei der Arbeit plätschert die Zeit so vor sich hin. Der Beruf des Friseurs ist schon automatisch ein Leben im Hier und Jetzt, in dem nur das Haupthaar zählt, das gerade geschnitten wird. Eigentlich mag Herr Fusi seinen Job, er hält es für eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, Menschen schöner aus dem Laden herausgehen zu lassen, als sie hereingekommen sind. Dabei kann viel schiefgehen. Viele seiner Kunden wissen seine Arbeit zu schätzen. Trotzdem ist er manchmal unzufrieden, etwa wenn sein Laden leer ist und er auf Kundschaft wartet. Dann kommt er ins Grübeln. Er schaut auf seinen Scherenkasten, sieht, wie die Scheren dort so unordentlich und nutzlos herumliegen, und fragt sich nach dem Sinn des Lebens. Oder noch schlimmer: nach dem Sinn seines Lebens.
Eines Tages jedoch geschieht etwas Sonderbares. Während Herr Fusi wieder einmal wartet und über sich und sein Leben nachgrübelt, fährt ein graues Auto vor. Heraus steigt ein Mann im grauen Anzug. Kein einziges Haar ziert seinen Kopf oder sein Kinn und trotzdem steuert er zielgerade auf Herrn Fusis Laden zu. Er wolle gar keinen Haarschnitt, sagt er, sobald er den Laden betreten hat. Er sei rein geschäftlich hier. Denn er ist Agent einer Zeitsparkasse und in wichtiger Angelegenheit unterwegs. Seine Kunden will er daran hindern, weiter unablässig auf völlig unverantwortliche Art und Weise ihre Zeit zu verschwenden. Viel besser sei es, Zeit zu sparen.
Kunden wie Fusi zu überzeugen ist nicht sonderlich schwer, meist ist ohnehin schon eine gewisse Unzufriedenheit vorhanden. Wer führt schon das Leben, das er gerne hätte? Die Notwendigkeit, etwas zu ändern, sieht jeder ein, der einmal eine vernünftige Rechnung aufgestellt hat. Jeder, der weiß, wie viele Sekunden er sinnlos im Bett herumliegt und mit Schlaf verschwendet, mit Essen und mit kontraproduktiven Gedankenspielen, die nirgendwo hinführen und nur aufhalten. «Herr Fusi», sagt der graue Herr eindringlich, «Sie vergeuden Ihr Leben mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum. Wenn Sie sterben, wäre es, als hätte es Sie nie gegeben.»
Auch bei Herrn Fusi braucht es nicht viel, um ihn davon zu überzeugen, dass er sein Leben gerade auf das Lächerlichste verschwendet. Eine simple Rechnung mit der erwarteten und der bereits verpassten Lebenszeit lässt ihn erblassen. Deshalb eröffnet er ein Konto bei diesem sonderbaren grauen Herrn der Zeitsparkasse und nimmt sich vor, künftig Zeit zu sparen. Warum? «Für das richtige Leben muss man Zeit haben», sagt ihm der graue Herr, und letztlich ahnt er das ja längst schon selbst. Fortan schläft er also kürzer, schneidet schneller und redet weniger, um für sein richtiges Leben Zeit zu schaffen.
Genau wie alle anderen Menschen in der Stadt merkt Herr Fusi allerdings nicht, dass das schöne Zeitspar-Versprechen nicht gehalten werden kann. Das liegt in der Natur der Sache. Wer Zeit spart, hat sie schon verloren. Sein Leben rast an ihm vorbei, und jetzt hat Herr Fusi nicht einmal mehr die Zeit, darüber zu grübeln, ob sein Leben voller Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum wirklich so vergeudet ist, dass er es ändern müsste. Er wüsste ohnehin nicht, wie, denn dazu müsste er sich Zeit nehmen, um nachzudenken, und die hat er nicht mehr.
Michael Ende dagegen wusste genau, dass das alles so nicht funktionieren kann, deshalb hat er Herrn Fusi und die grauen Herren für seinen Klassiker Momo geschaffen, ein Kinderbuch voller Kapitalismuskritik. Es war Anfang der 1970er Jahre, als der Bestsellerautor Michael Ende so lange und so gehaltvoll über die Zeit nachgrübelte, dass sie gleich in eine herbe Modernitätskritik an Rationalisierung und Leistungsdruck mündete.
Gerade war Michael Ende aus seiner Geburtsstadt München mit seiner Frau in das italienische Städtchen Genzano in der Nähe von Rom gezogen, als er sich in das Schreiben dieses Werkes vertiefte. Schon damals trieb ihn die Frage um, warum die Menschen in der Moderne trotz aller zeitsparenden Rationalisierungen keine Zeit haben. Da war das Smartphone noch gar nicht erfunden, jenes wunderbare Teufelsgerät, das uns das Leben so viel einfacher macht und gleichzeitig so viel mehr Beschäftigung bringt. Anfang der siebziger Jahre stellten sich andere gesellschaftliche Probleme: Die Rebellion der Jungen war in vollem Gange, und gerade hatte sich die Terrorgruppe RAF gegründet.
Doch anders als das Thema suggerieren könnte, war Momo keineswegs der Befreiungsschlag eines von Stress und Leistungsdruck geplagten Romanautors und schon gar keine Verzweiflungstat. Im Gegenteil: Seine Biographin Birgit Dankert beschreibt Michael Ende als jemanden, der während seiner Arbeit in einem langen, disziplinierten Arbeitsprozess auf die glücklichste Weise bei sich selbst war. Nur so konnte es ihm womöglich gelingen, in erstaunlich plastischer Weise die wichtigsten Zeittheorien der europäischen Philosophie in einem von Jung und Alt geliebten Roman aufleben zu lassen.
Die Tücken im Umgang mit der Zeit stellen uns keineswegs erst seit kurzem vor gravierende Probleme. Nahezu jede Epoche hat immer wieder aufs Neue mit der Beschleunigung und der damit verbundenen Zeitknappheit gehadert. Doch wie kam es überhaupt so weit, dass die Zeit über unser Leben regiert? Und warum beschäftigt es uns immer wieder auf so unterschiedliche Art und Weise? «Die Uhr, nicht die Dampfmaschine ist die wichtigste Maschine des Industriezeitalters», resümierte einst der amerikanische Kulturkritiker Lewis Mumford.
Die Sonne gibt den Takt vor
Schon vor mehr als 5000 Jahren starrten die Menschen nicht einfach nur hinauf zur Sonne. Sie wunderten sich über ihren Lauf und entdeckten den Schatten, der entsteht, wenn sie auf einen Stock trifft, der im Sand steckt. Und zwar jeden Tag wieder. Diese Beobachtung führte zur Sonnenuhr, der ersten Möglichkeit in der Geschichte der Menschheit, die Zeit zu messen. Erstmals waren damit auch Verabredungen denkbar. Immer ausgefeilter und aufwändiger wurden die Konstruktionen.
Den Babyloniern haben wir unsere Zeiteinteilung zu verdanken, denn sie waren ein Volk der Mathematiker und geradezu besessen von der Zahl 60. Sie lässt sich wie keine andere teilen und ist deshalb so praktisch. Die Babylonier legten fest, dass ein Kreis 360 Grad hat und eine Stunde 60 Minuten. Dass sich der Uhrzeigersinn rechtsherum dreht, liegt daran, dass die Sonnenuhr auf der nördlichen Erdhalbkugel erfunden wurde. Hätten die australischen Ureinwohner daran gefeilt, liefe der Uhrzeigersinn in die entgegengesetzte Richtung.
Aber an dem Hauptproblem konnten diese Sonnenuhren nichts ändern: Sobald es regnete oder die Sonne hinter den Wolken verschwand, wurden sie unbrauchbar. Noch Hunderte von Jahren sollte es dauern, bis die Menschen die nächste Stufe der Zeiterfassung erklommen haben: Sie bauten Wasseruhren, indem sie Löcher in den Boden eines Gefäßes schlugen und das Wasser langsam heraustropfen ließen. Die Ägypter nutzten Alabastergefäße mit einer innen aufgezeichneten Skala und einem einzigen Loch im Boden. Während das Wasser aus dem Loch tropfte, sank der Wasserspiegel von einer Markierung zur nächsten.
Die Wasseruhr hat eine lange und bemerkenswerte Geschichte. Über Jahrtausende war sie das genaueste Zeitmessgerät, wie der amerikanische Autor Robert Levine in seinem Buch Eine Landkarte der Zeit schreibt. Sie strukturierte das soziale Leben in den frühen Gesellschaften des alten Rom und Ägypten. Die Redner im Senat mussten sich dem Takt des tropfenden Wassers genauso unterordnen wie Rechtsanwälte, die vor Gericht für ihre Mandanten plädierten.
So verrann die Zeit und einige Jahrtausende lang lebte es sich zumindest in dieser Hinsicht gemütlich. Man konnte die Zeit in gewissem Maße nachvollziehen, aber alles war noch so hoffnungslos ungenau, dass daraus noch keine Tyrannei der exakten Zeiteinteilung wurde, wie Herr Fusi sie nach seinem Deal mit der Zeitsparkasse erlebt. Und trotzdem machten sich die Menschen schon früh Gedanken über die Zeit und über den richtigen Umgang mit ihr. Oft zitiert ist der christliche Philosoph Augustinus, der zwischen 354 und 430 lebte. Unvergessen sein Grübeln in seinen Bekenntnissen darüber, wie schwer die Zeit zu fassen ist: «Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiß ich’s nicht.»
Damals war es weniger die Zeiteinteilung als vielmehr die...