Was heißt hier jung? Was heißt hier alt?
Von einem „Seniorengipfel der Extraklasse“ sprach die Presse, als der 84-jährige Kabarettist Dieter Hildebrandt und der 85-jährige SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel auf einem Podium zusammentrafen, um darüber zu reden, was das eigentlich sei: Altwerden. Der Politiker erzählte, wie er als junger Mann anfing, Pfeife zu rauchen. Nicht dass es ihm geschmeckt hätte. Er wollte als 34-jähriger Münchener OB-Kandidat einfach älter und seriöser wirken. Er hat es bald wieder aufgeben, weil er es nicht mehr nötig hatte – und weil es ihm nicht schmeckte. Jetzt sei er alt, aber immer noch mitten im Leben. „Alt ist der“, so seine Definition, „der jeden Prospekt liest, der ins Haus flattert und allen erzählt, dass früher alles besser war.“ Der Kabarettist konterte mit einer eigenen Erfahrung: „Man merkt es an den Gliedern, wenn man nicht mehr so jungenhaft aufsteht – um sich vor einem Älteren zu verneigen.“ Und im Übrigen: Sei früher nicht wirklich alles besser gewesen? Als Vogel dem professionellen Zeitkritiker schlagfertig konterte: „Alleine das aus Ihrem Mund hat unser Gespräch schon gelohnt“, war das Gelächter im Saal groß beim vor allem jugendlichen Publikum.
Biologische Jugend ist nun wirklich kein Fetisch. Und Lebendigkeit ist nicht an das Geburtsjahr gebunden.
„Alt ist, wer mit 50 Prozent seiner Gedanken in der Vergangenheit ist, jung ist, wer mit 50 Prozent seiner Gedanken in der Zukunft ist.“ Als ich diesen Satz zum ersten Mal hörte, habe ich erst einmal gestutzt. Aber er hat was. Er stammt von Klaus Dörner, einem Psychiater, der schon vor Jahren die Mauern der psychiatrischen Institutionen geöffnet hat, zwei Jahre älter als ich, dabei noch umtriebiger – und einer, der nicht nur redet, sondern Überzeugungen lebt. Er bestärkt Menschen und ermutigt sie, ihre Bedeutung in der Zuwendung zu anderen zu finden.
Das Altwerden, mein eigenes, aber auch das, was man den demographischen Wandel unserer Gesellschaft nennt, beschäftigt mich seit Langem. Genauso wie ich auf das Leben neugierig bin, möchte ich auch auf das Alter neugierig bleiben – auch auf die Übergänge, auf die Zukunft.
Wer älter wird, sollte nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern mit offenen Augen in die Welt schauen. Er blickt immerhin auf ein Leben zurück, auf sein eigenes Leben und auf das Leben mit anderen. Er kann die Erfahrungen, die er gemacht hat, einbringen. Er kann über Lektionen, die das Leben erteilt hat, nachdenken. Sie betreffen einen in aller Regel nicht allein.
„Worin könnte der Sinn, die Fruchtbarkeit des Alters bestehen?“ hat mich jemand einmal gefragt. Meine spontane Antwort: „Die vielen kostbaren Lebenserkenntnisse und Lebenserträge weiterzugeben.“ Fruchtbarkeit, Saft und Frische – sie liegen gerade darin.
Es fängt schon an mit der Frage: Was ist eigentlich alt? Ich tue mich schwer mit einer Antwort, und ich denke, obwohl über 70, ich bin selber noch gar nicht alt. Ich rede über Alter nicht im Sinne einer Gegenwartsbeschreibung, sondern einer Perspektive. Auch bei uns im Haus, in unserer WG, sagen manche zu mir: „Was redest du denn über das Alter, du weißt ja gar nicht, was das ist! Du bist fit, gut aufgelegt und anerkannt. Du hast doch keine Ahnung, wie das wirklich ist.“
Aber wie ist es wirklich? Es gibt Junge, die von sich sagen, sie hätten Angst vor dem Altwerden. Und sie meinen damit das Leben mit 35 oder 40. Und es gibt 92-Jährige, die mehr Leben ausstrahlen als mancher 29-Jährige.
Wie soll man Alter definieren? Oder den Sinn des Älterwerdens? Ich kenne hochbetagte Menschen, die fröhlich, lebendig und so wach sind, dass ich Schwierigkeiten habe, ihnen das herkömmliche Attribut „alt“ aufzukleben. Sie sind so gegen den Strich gebürstet, nehmen sich ungeahnte Freiheit heraus, ja sie haben die Freiheit jetzt erst richtig entdeckt, leisten sich Meinungen, die sie sich selber früher nie erlaubt hätten und kommen auf eine ganz neue Weise zu sich, dass ich ganz begeistert bin, dass es so etwas gibt.
Wer in dieser Freiheit alt wird, der muss keine Rücksicht auf Konventionen mehr nehmen, und er muss auch keine Angst haben. Soll ich von Menschen, die eine solche Selbstständigkeit haben, sagen: Das sind alte Leute? Oder sind es nicht vielmehr Menschen, die jung geblieben sind?
Das Alter ist im Übrigen keine Ausnahmesituation, es ist normal. Nicht nur, weil Altern mit der Geburt beginnt. Die allermeisten von uns werden alt, und jeder anders. Ich wehre mich gegen die Vorstellung, es gebe nur einen Typus des Altwerdens. Das stimmt einfach nicht. Normalität hat eine große Bandbreite. Da ist Begeisterung möglich und Verzweiflung. Es gibt Enttäuschte und jung Verliebte, Leute, die sich neu entdecken und ihre Kreativität jetzt entfalten. Da gibt es Abhängigkeit und Freiheit, Leute, die aktiv sind und das Heft in der Hand halten, die ihr Leben selbst bestimmen – und solche, bei denen das nicht mehr geht. Wer will da eine Grenze ziehen?
Um auf die Frage zu antworten, was einen das Leben lehren kann, ist es nicht schlecht, eine gewisse Strecke zu überblicken. Was macht das Leben – mein Leben – aus? Was hält ein Leben – mein Leben – zusammen? Was macht eine Biografie überhaupt sinnvoll, gelungen oder gar erfolgreich?
Wer auf sein Leben zurückschaut, wird feststellen: Das Leben selbst liefert die spannendste, unterhaltsamste und lehrreichste Anschauung. Kann man das weitergeben? Zeigen sich Spuren, die auch für andere von Interesse sein könnten, wenn sie ihren eigenen Weg suchen?
Ich jedenfalls entdecke mich über andere. Antworten auf existentielle Fragen gewinnt man nicht für sich allein und nicht aus sich allein. Ich denke an eine alte Frau, die ich kenne. Sie ist inzwischen über 90 und Mitglied einer religiösen Gemeinschaft. Natürlich ist sie auch durch ihren Glauben so stark geworden. Und sie fühlt sich da, wo sie lebt, auch zu Hause. Am richtigen Platz. Sie ist bei sich, aber ausgerichtet auf andere. Sie lebt für ihre Gemeinschaft. Für andere nimmt sie sich Zeit, sie tröstet, auch wenn sie selber eigentlich Trost braucht. Und weil sie andere tröstet, bekommt sie gerade dadurch wieder viel Kraft zurück. Sie hilft dadurch auch sich selbst. Ein wunderbarer Mensch. Wenn man ihr persönlich eine Freude machen will, wird sie wahrscheinlich sagen: Nein, das dürft ihr nicht, so viel Aufwand für mich … Und wird sich trotzdem freuen.
Leben ist wertvoll, wenn es gemeinschaftlich gelebt wird. Erst im Spiegel der anderen erfahre ich, wer ich bin und wozu ich lebe. Ich jedenfalls habe mich selber immer wieder über andere entdeckt. Nicht durch Grübeln bin ich zu mir gekommen, sondern dadurch, dass ich Menschen gefunden habe, die an mir interessiert waren und an denen ich selber auch interessiert war – wenn wir versucht haben, etwas Gemeinsames zu machen.
Die Frage nach meinem Selbstverständnis und meinem Sinn – „warum gibt es mich eigentlich?“ – ist nicht zu beantworten, indem ich mich vergrabe oder als Einsiedler durch die Welt ziehe. Darin, dass ich die Grenzen meines eigenen kleinen Ego überspringe, also im bewussten Leben mit anderen, liegt für mich ein Elixier von Lebendigkeit: nicht nur von Intensität, sondern auch von Sinn für die eigene Existenz. Wenn ich mich so überschreite, dann kann ich mich auch selber annehmen und bin mit mir im Einklang. Das ist nicht so einfach, wie es klingt. Das kann anstrengend sein.
Willy Brandt soll sich auf seinen Grabstein den Spruch gewünscht haben: „Man hat sich bemüht.“ Wer ihn kannte, weiß: Das war gepflegte Bescheidenheitsattitude. Mir würde vielleicht der Satz aus dem Galaterbrief einfallen: „Einer trage des anderen Last“. Das ist der Trauspruch, den unser Pastor damals für meine Frau und mich aussuchte und der uns unser Leben lang begleitet hat. Wenn man die vielfältigen Erfahrungen, die man in seinem Leben macht, durch ein Sieb rüttelt und sieht, was durch die Ritzen fällt und was bleibt – dann ist dies ein Satz, der zusammenfasst, was uns zu tun bleibt in der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung steht, in diesem Wimpernschlag der Geschichte, in dem unser Leben sich abspielt. Was bleibt, ist eine große Zahl von Begegnungen und gemeinsamen Erfahrungen, von denen hoffentlich nicht nur ich lebe und zehre, sondern die hoffentlich auch anderen etwas gegeben haben und bedeuten: Dass wir uns getroffen haben in dieser winzigen Spanne Zeit und voneinander gelernt und uns respektiert haben. Dass wir gemeinsam die Erfahrung gemacht haben: Es ist sinnvoll, nach den Menschen zu sehen und ihnen nahe zu sein. Es macht Sinn, immer wieder neue Anläufe zu machen, nicht aufzugeben, sondern nach vorne zu schauen. Es macht Sinn, sich auf Hoffnung einzulassen, und zwar gemeinsam. Sich darüber auszutauschen und sich gegenseitig zu bestärken.
Wenn das gelungen ist, ist es wunderbar.
Wenn es nicht gelingt, dann ist das noch lange kein Grund, es nicht immer neu zu versuchen. Ein zur Hälfte gefülltes Glas ist – je nach Perspektive – halb voll oder halb leer. Für mich persönlich gibt es nur halb volle Gläser.
Diese Sichtweise hat mir auf meinem Weg immer noch geholfen, auch wenn es schwierig war.
Und schwierige Situationen bleiben nicht aus, Fehler macht jeder, und wer glaubt, irrtumsfrei leben zu können, der ist weltfremd. Kein Leben verläuft ganz glatt. Auch das Scheitern ist eine Chance, etwas zu lernen. Entscheidend ist, welche Konsequenzen man aus Irrtümern und Niederlagen...