December
Ankommen auf dem Fahrradhighway
Ich erwog ernsthaft, mir einen Seitenspiegel an mein altes, immerhin kostenfrei importiertes Mountainbike zu schrauben, um meine ersten Radelversuche in Kopenhagen unbeschadet zu überstehen. Direkt vor unserer Haustür verlief die Nørrebrogade, die geradewegs in die Innenstadt führt. Vor einigen Jahren ließ die Stadt Kopenhagen sie zu einer Art Fahrradhighway ausbauen: Die Autos mussten auf eine einzige Mittelspur weichen, Fahrrädern steht dafür ein Radweg zur Verfügung, der so breit ist, dass auch ein Kleinwagen bequem darauf fahren könnte. Dort radelt man dann in zwei Spuren, überholt wird links, ganz forsche Radfahrer überholen auch die Überholenden noch weiter links. Dabei gilt: Unbedingt vorm Ausscheren einen Blick über die Schulter werfen! Bei meinen ersten Fahrversuchen kam der erhöhte Puls eindeutig nicht vom Pedaletreten.
Niels fand, ich müsse dringend Leute kennenlernen – und was sei dafür besser geeignet als ein Fest? Von November bis Mitte Januar veranstalten Dänen aller Altersgruppen bevorzugt Weihnachtsfeiern. Was aber so harmlos bis langweilig klingt, kann von der tatsächlich öden Betriebsweihnachtsfeier, wie man sie aus Deutschland kennt, bis zur rauschenden Party mit roter Zipfelmütze alles sein.
An einem Freitag Mitte Dezember besorgten wir zwei Weihnachtsmützen, die hier „nissehue“ heißen und benannt sind nach dem „nisse“, einer Art kleinem Kobold, der Dänemark offenbar seit Jahrhunderten ungesehen bevölkert. Mit Mützen, Bier und verschiedenen Gläsern Hering bewaffnet machten wir uns mit dem Fahrrad auf den Weg zu einem solchen „julefrokost“, einem Weihnachtsessen bei Niels’ ehemaligen Mitbewohnern.
Das dänische Wort „frokost“ verwirrte mich anfangs: Warum sagten sie Frühstück zum Mittagessen, und warum aßen sie ihr meist kaltes Mittagessen an Weihnachten abends? Niels’ Mutter hatte mir einmal erklärt, dass viele ältere Menschen mittags noch warm essen, so wie es früher war. Dann nennen sie ihre Mahlzeit auch „middag“ und nicht „frokost“. Die meisten Dänen essen mittags aber inzwischen belegte Brote und abends, wenn die Familie gemeinsam am Tisch sitzt, warme Gerichte. Dann sagt man mittags „frokost“ und abends „middag“. Weil beim traditionellen „julefrokost“ jedoch belegtes Brot auf dem Menü steht, heißt es „frokost“. – Merkwürdig nur, dass die schwedischen Nachbarn das Konzept nicht vollständig übernommen haben. Dort gibt es morgens „frukost“, mittags „lunch“ und abends „middag“…
In den vergangenen zwei Wochen hatte Niels schon zwei Weihnachtsfeiern absolviert – mit den alten Studienkameraden in Aarhus und feuchtfröhlich mit der ehemaligen Band –, und normalerweise nahm man den Partner dazu nicht mit. Um die Weihnachtszeit verbreiteten die Medien regelmäßig Gerüchte darüber, dass die traditionsreichen Weihnachtsfeiern mit ihrem ungehemmten Bier- und Schnapskonsum alljährlich die Scheidungsrate in die Höhe schnellen ließen. Weil ich aber inzwischen lang genug von Hamburg aus in Niels’ alte Wohngemeinschaft gependelt war, konnte man in meinem Fall offenbar ein Auge zudrücken. Um zu dem kleinen, gelben Einfamilienhaus auf der Insel Amager zu gelangen, würden wir die gesamte Innenstadt durchqueren und über den 1619 von König Christian IV. im wortwörtlichen Sinn aus dem Sumpf gestampften Stadtteil Christianshavn nach Amager radeln müssen.
„Ein Seitenspiegel? Das ist doch uncool“, rief Niels und lachte mich aus. Der Spiegel blieb vorerst in der Werkzeugkiste. Ohne Fahrradhelm loszuziehen konnte sich Niels allerdings nicht vorstellen. Obwohl es erst später Nachmittag war, lag die Stadt bereits im Dunkeln. Auf den selbst in Seitenstraßen gut beleuchteten Radwegen kommen die meisten Einheimischen jedoch mit zwei minimalistischen Blinklichtern am Fahrrad aus – vorn ein weißes, hinten ein rotes. Als Autofahrer muss man in dieser Stadt beim Abbiegen ganz genau hinsehen!
In Kopenhagen gibt es mehr Fahrräder als Einwohner. Über die Hälfte der Kopenhagener ist täglich auf dem Rad unterwegs, und die Parteien schreiben sich bevorzugt in die Wahlprogramme, diesen Anteil noch zu erhöhen. An verschiedenen Stellen werden seit 2009 die vorbeirasenden „cyklister“ automatisch gezählt. Selbst im Winter kommen an Werktagen gerne 12 000 bis 14 000 Radler über die Dronning-Louises-Brücke zwischen Nørrebro und Innenstadt, und dabei werden nur alle die gezählt, die stadtauswärts unterwegs sind!
Apropos Winter: Eigentlich ist Dänemark nicht gerade als Bastion des Wintersports bekannt. Die ersten beiden verschneiten Dezemberwochen in Dänemark belehrten mich aber, dass es durchaus Ausnahmejahre geben kann. Auch die Dänen schienen darauf nicht vorbereitet zu sein, denn auf mich wirkte es, als fehlte es an Streusalz wie Schneepflügen gleichermaßen. Wo Norweger und Schweden aber die Skier hervorholen, fahren die Dänen seelenruhig weiter Fahrrad – getreu der alten skandinavischen Volksweisheit: „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung.“ Also rein in die langen Unterhosen, dicken Thermohosen, zwei Paar Handschuhe und Ohrenschützer. Der dänische Radfahrerbund Cyklistforbundet bietet auf seiner Website sogar Tipps und Übungen, wie man auf zwei Rädern sicher durch den Winter kommt und ein „ørn“ (Adler) im Radfahren auf Glatteis wird. Wer im Dänischen sprichwörtlich ein Adler ist, gilt als Meister seines Fachs. Interessante Vorstellung, die windschnittig durch den Schnee radelnden Greifvögel! Todesmutig zuckeln die Kopenhagener dann auch durch Schneewehen und über vereiste Kreuzungen. Die meisten Ausländer schauen ihnen dabei aus den Fenstern der beheizten Stadtbusse kopfschüttelnd zu und wünschen einen guten Rutsch.
Während ich noch unsicher in gemäßigtem Tempo auf der rechten Spur des Radwegs schlich, überholten mich Herren in gut sitzenden schwarzen Anzügen und wehenden Schals, die Aktentaschen auf die Gepäckträger geklemmt. Über sechzig Prozent der dänischen Regierungsabgeordneten radeln ihrem Volk mit guten Beispiel voraus, indem sie täglich mit dem Drahtesel zur Arbeit nach Christiansborg kommen. – Überhaupt sind die Dänen sehr „hurtig“ unterwegs, sodass ich manchmal den Eindruck gewann, diesem Völkchen sei im Laufe der Evolution ein zusätzlicher Beinmuskel gewachsen. Sogar Hochschwangere und Rentner rasten erst einmal an mir vorbei.
Kein Wunder, dass die dänischen Hauptstadtradler schnell ungeduldig werden, wenn sie an roten Ampeln halten müssen. Seit einigen Jahren gibt es auf den großen „Bro“-Straßen – Nørrebrogade, Østerbrogade, Vesterbrogade, Amagerbrogade –, die von den Stadtvierteln ins Zentrum führen, für Radfahrer eine grüne Welle. Wer rund zwanzig Stundenkilometer schafft, kommt bei grünem Licht über die Kreuzungen und damit meist sogar schneller als die Stadtbusse in die Innenstadt. Niels drosselte seufzend das Tempo, als wir es mal wieder nicht mehr mit über eine Ampel schafften.
Wer wie wir an diesem Nachmittag in der „myldretid“, der Hauptverkehrszeit, durch Kopenhagen radeln will, muss sich darauf gefasst machen, mit Dutzenden anderen Fahrrädern im Konvoi zu fahren. Anfangs war mir das noch unheimlich, wie ein Tour-de-France-Profi mit so vielen Leuten fast Schulter an Schulter zu rollen, aber ich lernte die ungeschriebenen Regeln schnell: Wer in nächster Zeit anhalten will, hebe die Hand. Beim Überholen unbedingt vorher einen Blick über die Schulter werfen. Für Linksabbieger gibt es an großen Kreuzungen oft gesonderte Fahrspuren, auf gar keinen Fall darf man jedoch der direkten Fahrtlinie der Autos folgen, sondern muss erst einmal geradeaus über die Kreuzung fahren und sich dann auf dem gegenüberliegenden Radweg einordnen. Wer bei roter Ampel einfach rechts abbiegt und erwischt wird, den erwarten 1000 Kronen (rund 135 Euro) Bußgeld – eine Bekannte hat dies bereits ausprobiert und sich auf Facebook, dem aktuellen Lieblingsnetzwerk der Dänen, lautstark über die Folgen beschwert.
Nicht nur langsam nebeneinander fahrende Touristen können den so optimierten Verkehrsfluss auf den Kopenhagener Radwegen ins Stocken bringen, stellte ich fest, als der ganze Konvoi Feierabend-Fahrer vor mir ins Stocken geriet. Eine rote Ampel war nicht in Sicht. Stattdessen überholten die Leute vor mir mühsam einer nach dem anderen eine breite, rollende Holzkiste, die von einer Frau auf einem Fahrradsattel gelenkt wurde. In der Kiste hockten drei Kinder, deren Skaterhelme das Aussehen von Melonen nachahmten, und stritten sich um einen Tablet-Computer, auf dem Ramasjang, der dänische Kinderkanal, lief. Als wir gerade am Märchenschloss-ähnlichen Rosenborg Slott vorbeirollten, in dem heute unter anderem die Kronjuwelen ausgestellt sind, befand ich mich direkt hinter diesem typisch dänischen Fahrzeug. Weil der Radweg in der Gothersgade nicht so breit wie der auf Nørrebro ist, blieb mir zum Überholen nur ein schmaler Streifen. Den Lenker fest umklammert, beeilte ich mich vorbeizufahren.
Die Christiania-Bikes und andere Lastenräder aller Couleur, die mehr als eine Spur des Radwegs einnehmen, sorgen auf dem Kopenhagener „Fahrradhighway“ immer wieder für Stau, weil sie schwer zu überholen sind. Beim Überholen sollte man grundsätzlich auf heraushängende Kinderarme und -beine und herumfliegende Spielsachen gefasst sein. Laut Zahlen der Kopenhagener Touristinformation Visit Copenhagen haben 25 Prozent der Familien mit zwei Kindern ein Lastenrad. Inzwischen wusste ich auch, dass so ein „Christianiacykel“ in meiner neuen Wahlheimat die Familienkutsche schlechthin ist und dass es mit Preisen zwischen 10 000 und 20 000 Kronen, je nach Ausstattung, auch entsprechend kostet. Die...