2 Theoretische Grundlagen des Controllings
Da wir für das Controlling eine eigenständige, auch aus theoretischer Sicht rechtfertigbare und auf die Praxis übertragbare Daseinsberechtigung sehen und diese auch argumentativ belegen möchten, wollen wir im Folgenden die wichtigsten theoretischen Grundlagen der Controlling-Forschung darstellen. Dies tun wir auch in Folge der Kriterien von Küpper (2008, S. 6 f.), der für eine Controlling-Konzeption (hierzu Kap. 3.1) unter anderem eine theoretische Fundierung fordert.
Als Theorie verstehen wir in der Folge ein sog. axiomatisiertes Aussagensystem, wobei Axiome wiederum als Spitzenausprägung der Theorien – anders als andere Elemente von Theorien – nicht eigens deduktiv oder anderweitig argumentativ abgeleitet werden müssen (vgl. Bochenski 1993, S. 73 ff.). Im bisherigen Verlauf des Buchs hat sich in den Kap. 1.4 und Kap. 1.5 bereits gezeigt, dass sich eine einheitliche Sicht auf das Controlling im deutschsprachigen Raum noch nicht durchsetzen konnte. Dies bezieht sich auch auf die Tatsache, dass die verschiedenen Vertreter der Controlling-Forschung und -lehre in Deutschland ihre Ansätze auf z. T. sehr unterschiedliche Theoriebasen beziehen (vgl. Wall 2008, S. 463 ff.). Anders ist dies jedoch im angloamerikanischen Sprachraum. Aus der Perspektive der Accounting bzw. Management Accounting-Forschung spielen einige wichtige Theorien eine Rolle, aus deren Perspektive auch Fragestellungen des Controllings näher erläutert werden können (vgl. Weber/Schäffer 2011, S. 27 ff.).
Da unser Buch eine sehr anwendungsorientierte Sicht verfolgt, werden wir uns im Rahmen der Darstellung der Theorien auf die aus unserer Sicht wichtigsten Theorien der Controlling-Forschung konzentrieren und v. a. die Anwendung auf den Objektbereich des Controllings besonders herausstellen. Hierbei werden wir sowohl klassische als auch moderne Ansätze einer Controllingtheorie diskutieren. Dies sind im Folgenden für die klassischen Ansätze die Systemtheorie, der Situative Ansatz, die Neue Institutionenökonomik und die Verhaltenswissenschaften, für die modernen Ansätze beispielhaft der Soziologische Institutionalismus.
2.1 Systemtheorie
Grundgedanken der Systemtheorie
Der grundlegende Unterschied systemorientierten Denkens im Vergleich zum ›traditionellen Denken‹ ist darin zu sehen, dass der bisher als ›großes Ganzes‹ betrachtete Organismus ›Unternehmen‹ nun als Ansammlung vieler kleiner Elemente und der Beziehung dieser Elemente untereinander, d. h. als ›System‹, betrachtet wird. Hierbei leitet sich der Begriff des Systems aus dem Griechischen ab und steht für ›das Gebilde, Zusammengestellte, Verbundene‹. Hieraus wird bereits die Bedeutung der Vernetzung einzelner Elemente im Rahmen eines Systems deutlich. Letztlich wollen alle Vertreter der Systemtheorie jedoch eine allgemeine Theorie über soziale Systeme im Allgemeinen bereitstellen (vgl. Willke 1993). Systeme zeichnen sich durch fünf konstitutive Merkmale aus (vgl. Wolf 2008, S. 158 ff.):
• Elemente: Systeme bestehen aus ›Elementen‹ oder ›Merkmalen‹. Diese weisen ganz bestimmte Eigenschaften auf und machen es möglich, ein System von anderen Systemen abzugrenzen.
• Hierarchische Gliederung: Innerhalb der Gesamtzahl der Systemelemente gibt es hierarchische Unter- und Überordnungsverhältnisse.
• Beziehungsvielfalt: Zwischen Elementen, Subsystemen und Merkmalen finden sich vielfältige und zahlreiche Beziehungen, die sequenziell, reziprok oder interdependent sein können.
• Systemzustände: Die genannten Elemente, Subsysteme und Merkmale bestimmen die Zustände, die ein System einnehmen kann. Diese Zustände determinieren wiederum das Verhalten des Systems in einer stochastischen und somit eingeschränkt vorhersehbaren Art und Weise.
• Systemstruktur: Das Beziehungsgefüge aller Unterelemente des Systems ist nicht unstrukturiert, sondern zeigt ein strukturiertes und somit auch analysierbares strukturelles Gefüge.
Die Gedanken der Systemtheorie (vgl. u. a. Bleicher 1970) sind in ihrem Grundsatz stark kybernetisch geprägt, so dass von systemtheoretisch-kybernetischen Aussagensystemen gesprochen werden kann. Kybernetisch geht als Begriff auf Norbert Wiener zurück und befasste sich ursprünglich mit der Steuerung und Regelung von Maschinen, was schnell auf Organisationen im Allgemeinen und Unternehmen im Speziellen übertragen wurde. Während die allgemeine Systemtheorie auf Bertalanffy (1968) zurückgeht, ist Ulrich (1970) der Begründer der systemorientierten Betriebswirtschaftslehre. Systemisches Denken versteht Unternehmen als offene, sozio-technische und produktive Systeme, die in engen Austauschbeziehungen mit der Unternehmensumwelt stehen. Wichtiger Bestandteil einer systemorientierten Betrachtungsweise ist die Aufteilung von verschiedenen Sphären, z. B. des Unternehmens oder auch der Unternehmensumwelt, in einzelne Subsysteme, die ihrerseits wiederum in Subsysteme zerlegt werden können und an deren Schnittstellen Wechselwirkungen – v. a. Kommunikationsbeziehungen – bestehen.
Der Hauptanspruch der Systemtheorie liegt in der Nachfolge von Luhmann (1968) darin, Komplexität in und im Kontext von Organisationen handhabbar zu machen. Dies ist in einer Zeit steigender Unternehmenszahlen und -größen nicht verwunderlich. Die Systemtheorie zeigt eine Vielzahl von Stärken, u. a. eine sehr strukturierte Vorgehensweise mit Fokussierung auf eine erklärende Wissenschaft. Schwächen zeigt sie u. a. in ihrer Abstraktheit, die weder eine genaue Konkretisierung noch eine leichte Übertragbarkeit von Befunden auf andere als die untersuchten Kontexte zulässt. Zudem lassen sich viele der in der Systemtheorie untersuchten Variablen nur sehr schwer operationalisieren.
Die Systemtheorie in der Controlling-Forschung
Aus Sicht der Controlling-Forschung ist die Systemtheorie tendenziell eher ein übergeordneter Metaansatz, der einen interdisziplinären Ansatz zur Analyse von komplexenWirkungszusammenhängen liefern kann und monokausalem Denken vorbeugt. Aus diesem Grund wird die Systemtheorie auch häufig als Grundlage von organisations- und unternehmensbezogenen Arbeiten verwendet, obgleich die mehrheitlich deskriptive Anlage der Theorie an sich kritisiert werden kann. In der Controlling-Forschung wird das Unternehmen als System verstanden, das in verschiedene Subsysteme (z. B. Führungs- und Ausführungssystem, siehe Kap. 3.2) unterteilt werden kann. Das Controllingsystem ist hierbei in einer systemtheoretischen Sichtweise ein Subsystem der Führung, das Wechselwirkungen und Schnittstellen mit anderen Führungsteilsystemen wie z. B. dem Planungs- und Kontrollsystem aufweist. Wahrnehmbaren Niederschlag findet die Systemtheorie als grundlegender Analyserahmen dieses Buches immer dort, wo wir aus forschungsseitigen oder didaktischen Gründen komplexe Zusammenhänge durch Unterteilung in Subsysteme handhabbar machen möchten, um dem praxeologischen Anspruch der Komplexitätsreduktion für die Unternehmenspraxis Genüge zu tun. Dieser Grundanspruch der Systemtheorie in ihrer Weiterentwicklung zur Kybernetik ist auch der uns eigenen Sicht auf das Controlling nahe – das Controlling soll einen wesentlichen Beitrag zur Handhabung von Komplexität leisten. Ob dies jedoch immer eine Reduktion der Komplexität bedeuten muss, lassen wir an dieser Stelle offen. Gemäß Ashbys (1956) ›law of requisite variety‹, das sich mit dem optimalen Maß an Subsystembildung befasst, darf die Eigenkomplexität eines Systems weder höher noch niedriger als die Umweltkomplexität sein. Aus Sicht von Unternehmensführung und Controlling kann die Systemtheorie deshalb auch zu dem Zweck verwendet werden, den optimalen Komplexitätsgrad eines Steuerungs- und Regelungssystems zu ermitteln. Dieser wird i. d. R. deutlich über dem aktuellen Ist-Komplexitätsgrad der meisten Unternehmen in der Praxis liegen.
Während die Systemtheorie einen grundlegenden Meta-Rahmen unseres Buches darstellt, der sich nicht zuletzt in der Darstellung der allgemeinen Elemente einer Controlling-Konzeption in Kap. 3.1 äußert, werden wir uns im Folgenden nun einigen inhaltlichen Organisationstheorien widmen, die auch zur Analyse von Controlling-Fragestellungen verwendet...