Eine Kultur der
Nicht-Akzeptanz
Wer will schon gerne annehmen?
Kein Lebewesen, weder Mensch noch Tier, möchte gerne unangenehme Empfindungen haben. Wir alle wünschen uns das Angenehme und Schöne. Angenehm bedeutet, dass uns etwas gefällt und unsere Bedürfnisse erfüllt sind. Sobald dies der Fall ist, geht es uns gut. Wenn wir hungrig sind und etwas zu essen bekommen, was vielleicht auch noch gut schmeckt, empfinden wir das als angenehm. Fühlen wir uns alleine und der beste Freund steht plötzlich vor der Tür, freuen wir uns über seinen Besuch. Es ist stinknormal, dass wir angenehme Empfindungen suchen und unangenehmen aus dem Weg gehen, und auch ziemlich gesund, denn es sichert unser Überleben. Wenn wir zwischen einem richtig leckeren Drei-Gänge-Menü oder trockenem Brot wählen können, werden wohl die allermeisten von uns sich eher für die drei Gänge entscheiden.
Angenehmes zu suchen und Unangenehmes loswerden zu wollen, gehört wohl schon immer zum Menschsein dazu. Bereits vor 2600 Jahren hat sich Buddha mit diesem Thema beschäftigt. Er sprach unter anderem von Gier und Anhaftung. Gier ist die Suche nach dem Angenehmen und Anhaftung der Wunsch, das Angenehme festhalten zu wollen. In der Lehre des Buddha gelten Gier und Anhaftung als Grundstein für das menschliche Leid. Denn oft bekommen wir nicht, was wir wollen, sondern stattdessen etwas, was wir uns nun wirklich nicht gewünscht haben. Dagegen kämpfen wir an, und genau das ist es, was uns unglücklich macht. Wir wollen das Angenehme erzwingen und dem Unangenehmen am liebsten für den Rest unseres Lebens aus dem Weg gehen. Es sind nicht die tatsächlichen äußeren Umstände, die uns unglücklich machen, sondern unsere innere Reaktion darauf.
Wenn wir nun aber unzufrieden sind, weil wir etwas nicht bekommen, was wir uns wünschen, oder weil wir bekommen, was wir nicht wollten, machen wir uns abhängig vom Außen. Unser Befinden hängt hochgradig davon ab, was uns widerfährt. Das kann es doch nicht sein, oder?
Zwölf-Zonen-Matratze und
Persönlichkeitsoptimierung
Über Jahrtausende hatten Menschen quasi keine andere Wahl als anzunehmen, was ihnen das Leben schenkte oder zumutete, denn die Einflussmöglichkeiten waren gering. Sie waren konfrontiert mit vielem, was sie nicht beeinflussen konnten und was ihr Leben massiv beeinträchtigte: Harte Winter, denen sie zunächst in klammen Höhlen und später in zugigen Häusern zu trotzen versuchten; Missernten, die monatelange Hungerphasen zur Folge hatten; Seuchen, die die Bewohner ganzer Landstriche dahinrafften. All dem konnten die Menschen lange gar nichts oder nur wenig entgegensetzen. Sie waren diesen äußeren Gewalten fast machtlos ausgeliefert und hatten nur eine Möglichkeit, damit zurechtzukommen: Sie mussten sie als nun mal gegeben annehmen. Hätten sie nicht nur Hunger gelitten, sondern innerlich auch noch dagegen rebelliert, sie hätten doppelt gelitten. Denn wer sich gegen das Unveränderliche aufbäumt, dem geht es nur noch schlechter, der vergeudet seine Energie und kann doch nichts bewirken.
Geholfen hat den Menschen in dieser schwierigen Situation ihre Religion. Sie hat ihnen ein Erklärungsmodell für unkontrollierbare Geschehnisse geboten, sodass sie sich nicht mehr ganz so ausgeliefert und ohnmächtig fühlen mussten. Wenn ein Gewitter und ein Blitzeinschlag nicht einfach nur ein Naturereignis sind, sondern eine Antwort Gottes auf das eigene Verhalten, dann kann man doch etwas tun und ist seinem Schicksal nicht ausgeliefert. Wer viel betet und ein gottgefälliges Leben führt, der schützt sich so davor, dass sein Haus abbrennt.
Mit fortschreitender technischer Entwicklung haben die Menschen immer mehr Anstrengungen unternommen, um das Unvermeidliche doch vermeidbar zu machen. Die Folge davon: Wir müssen heute weniger Unangenehmes und Leidvolles ertragen als frühere Generationen. Technik und zivilisatorischer Fortschritt haben dazu geführt, dass unser Alltag deutlich angenehmer ist als früher. In vielen Regionen der Welt sind die Menschen vor Hunger und Epidemien geschützt. Das medizinische Behandlungssystem hat viele Krankheiten kontrollierbar gemacht oder sogar vollständig besiegt. Die Kindersterblichkeit konnte in den meisten Ländern deutlich verringert werden und die Lebenserwartung steigt schon seit Jahrhunderten an.
Das menschliche Bemühen, Unangenehmes zu reduzieren und Angenehmes zu fördern, nimmt immer extremere Ausmaße an. Wir sind bestrebt, alle Bereiche des Lebens zu kontrollieren und treiben alles, was eben möglich ist, zur Perfektion. Wir schlafen auf Zwölf-Zonen-Spezialmatratzen, sitzen in Autos mit Sitz-, Lenkrad- und Armlehnenheizung (die gibt es wirklich!) und tragen Komfortschuhe mit Mehrfachdämpfung. Wir versuchen, möglichst viel aus dem Leben und aus uns selbst herauszuholen.
Es scheint, als würden wir in einer toleranten Gesellschaft leben, in der jeder so sein darf, wie er oder sie nun mal ist. In Wirklichkeit ist unser Verhaltensspielraum in vielen Bereichen enger geworden, weil wir immer perfekter sein müssen. Heute gibt es 14-jährige Mädchen, die Geld sparen, um Schönheitsoperationen machen zu lassen. Wir müssen nicht nur schön sein, sondern auch die richtige Schule besuchen, in der richtigen Gegend wohnen, ein cooles Auto fahren, tolle Freunde haben (auf die all die perfekten Kriterien auch zutreffen). Wenn wir heiraten, sind wir zwei Jahre mit den Planungen beschäftigt und haben mindestens drei Hochzeitsmessen besucht. Ein Kindergeburtstag ist heute ein Eventfeuerwerk, bei dem sich die Eltern zu übertrumpfen versuchen. Mittlerweile lassen nicht nur Menschen Schönheitsoperationen vornehmen, sondern sogar Haustiere müssen leiden, nur weil Herrchen oder Frauchen das eine Ohr gerne etwas größer oder die Zitzen nach dem ersten Wurf gerne kleiner hätte. Das ist momentan in Europa zwar noch verpönt, in anderen Ländern jedoch, beispielsweise den USA, bieten sich Tierärzte massenhaft an, um solche Operationen durchzuführen.
Wir verbessern nicht nur die Dinge um uns herum, sondern unser ganzes Leben und vor allem uns selbst. Wir müssen uns heute gesund ernähren, genug Sport treiben und auf genügend Vitamin D achten. Ohne Yoga, Achtsamkeit und Meditation geht in bestimmten Kreisen sowieso gar nichts mehr. Nicht zuletzt müssen wir heute auch auf der psychologischen Ebene einiges auf die Reihe kriegen. Wir müssen »unser wahres Wesen« erkennen und unserer »Berufung« folgen. Wir müssen »unsere Träume leben« und den »tieferen Sinn« unseres Lebens finden. Dabei sollen wir aber ganz und gar »authentisch sein«, uns »voll entfalten« und uns »selbst verwirklichen«. Auf jeden Fall sollten wir achtsam sein, selbstreflektiert, kritikfähig und ausgesöhnt mit der eigenen Biografie. Jedes weitere Ratgeberbuch fügt dieser Liste noch weitere Aufgaben hinzu. Wenn du ein Buch über Positive Psychologie liest, wird dir vermittelt, dass du für dein Glück viele Flow-Erlebnisse brauchst. Wenn du ein esoterisches Buch liest, heißt es da womöglich, dass du gemäß deiner dir von der Weltordnung gegebenen Aufgabe leben solltest.
Die meisten dieser Begriffe sind so schwammig, dass wir noch nicht einmal wissen, wann wir das jeweilige Ziel erreicht haben. Aber das ist auch egal, denn es ist ja eh eine »lebenslange Aufgabe«. Auf jeden Fall müssen wir kräftig an uns arbeiten, um unsere Macken und »suboptimalen« Persönlichkeitsanteile endlich in den Griff zu kriegen. Wir werden nie fertig, unser innerer Wachstumsprozess endet wohl erst auf dem Sterbebett. Aber da sollten wir am besten gar nicht erst hinkommen, denn wir sollten »Alt werden, ohne alt zu sein« (so ein Buchtitel) und »Erfolgreich altern« (so ein noch verrückterer Buchtitel).
Das Prinzip hinter all diesem Tun und dieser Daueranstrengung ist immer das gleiche: So wie es jetzt ist, ist es nicht gut genug, und es muss noch besser werden. Es ist letztlich das Prinzip des Kapitalismus, der Wachstum braucht, um sich am Leben zu halten. Dieses Wirtschaftsprinzip haben wir in den letzten Jahrzehnten unmerklich auf uns selbst und auf unser inneres Erleben angewandt. In der Soziologie wird diese Bewegung als Optimierungs- und Selbstoptimierungskultur bezeichnet: der Trend hin zu einem immer perfekteren Leben. Optimierung und Selbstoptimierung bedeuten vor allem, dass wir uns und unser Leben nach unseren eigenen Vorstellungen gestalten. Wir nehmen nicht an, was gegeben ist, sondern wir ändern das, was ist, so wie wir es gerne hätten.
»Geht nicht, gibt’s nicht«, »Gedanken versetzen Berge«, »Man muss es nur genug wollen, dann kann man alles schaffen«, solche Sprüche sind heute in Managerkreisen, im Positiven Denken und in der Esoterikszene gleichermaßen selbstverständlich. Unter dem Titel »Beunstoppable« (zu deutsch: Sei nicht aufzuhalten!) startete die französische Mineralwasserfirma VOLVIC vor einiger Zeit eine Werbekampagne. Mit Mineralwasser aus der französischen Auvergne wird man zum, wie es in der Kampagne heißt, »Gipfelbezwinger«, »Ziel-Hoch-Setzer« und »Grenzen-Überwinder«. Die Suggestion lautet: Wir können alles erreichen, wenn wir nur wirklich wollen (und nicht vergessen, dabei das richtige Mineralwasser zu trinken). VOLVIC ist nicht blöd. Wir wären eben gerne Grenzen-Überwinder und Ziel-Hoch-Setzer, daher funktioniert die Werbung mit diesen Versprechen. Am liebsten würden wir jeden Bereich unseres Lebens ganz nach unserer Vorstellung gestalten, natürlich würden wir gerne mit unseren Gedanken Berge versetzen. Die Wissenschaft arbeitet dran, das Unmögliche doch möglich zu machen. Es dauert nicht mehr lange und die Eigenschaften unserer Kinder werden vor der Zeugung geplant und im Reagenzglas entsprechend zusammengefügt. Forscher denken...