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E-Book

Arthur und Lilly

Das Mädchen und der Holocaust-Überlebende - Zwei Leben, eine Geschichte

AutorLilly Maier
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783641228644
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Was uns die Vergangenheit zu erzählen hat
'Ich hatte ein tolles Leben', erzählt Arthur Kern und meint seine Kindheit in Wien - bis zu jenem Moment, als er 1939, gerade mal zehn Jahre alt, jäh von seiner Familie getrennt wird. In der Hoffnung, ihn vor dem Holocaust zu bewahren, schicken ihn seine jüdischen Eltern mit einem Kindertransport in die Fremde - ein traumatisches Erlebnis für den Zehnjährigen. Zwar kann er sich über Frankreich nach Amerika retten, doch seine Familie wird er nicht mehr wiedersehen.

60 Jahre später: Bei einem Besuch der Wiener Wohnung seiner Kindertage lernt Arthur die elfjährige Lilly Maier kennen. Eine schicksalhafte Begegnung für beide, die nicht nur Lillys weiteres Leben prägt, sondern auch dazu führt, dass Arthur ein spätes Vermächtnis seiner Eltern zuteil wird ...



Lilly Maier, Jahrgang 1992, studierte in München Geschichte und an der New York University in Amerika Journalismus. Ihre Abschlussarbeit über die langfristigen Nachwirkungen der Kindertransporte, wurde mit dem 'Forscherpreis für exzellente Studierende 2014' ausgezeichnet. Sie arbeitet als Referentin in der KZ-Gedenkstätte Dachau und stellt ihre Forschung regelmäßig in Vorträgen vor. Als freiberufliche Journalistin schreibt sie u. a. für FOCUS Online, Kurier, The Forward, The Columbus Dispatch, Die StadtSpionin und PolitiFact.com.

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Leseprobe

Prolog

Ich schreibe dieses Buch fast fünfzehn Jahre nach meinem ersten Treffen mit Arthur und Trudie Kern. Von Zeit zu Zeit denke ich gerne an jenen Märztag zurück, an dem die Vögel sangen und die Knospen an den Bäumen den Frühling ankündigten. Niemand von uns wusste damals, wie sehr diese Begegnung unser aller Leben beeinflussen würde – und wie eine Wohnung in Wien unsere Familien für immer verbinden würde.

Arthur nannte unser erstes Treffen später »eines der Highlights seines Lebens«. Im Englischen gibt es die nostalgische Redewendung »you can never go home again«, du kannst niemals wieder nach Hause gehen. Gemeint ist damit nicht eine örtliche Beschreibung, sondern ein Gefühl von Vergänglichkeit, das es uns nicht erlaubt, in unsere Vergangenheit zurückzukehren. »Aber ich kehrte zurück«, erzählte Arthur mir vor einigen Jahren mit einem Strahlen im Gesicht. »Und es war wunderbar.«

***

Die Gussenbauergasse in Wien ist eine verschlafene, kleine Straße im Alsergrund, dem 9. Gemeindebezirk. Selbst die Taxler, wie man Taxifahrer in Wien nennt, kennen die nach dem Chirurgen Carl Gussenbauer benannte Gasse nur selten. In wenigen Minuten geht man von hier zu Fuß zum Donaukanal oder zum Palais Liechtenstein, einem der vielen Prachtbauten, die Wien seinen imperialen Charme verleihen. Die Gussenbauergasse selbst besteht nur aus sechs Häusern, fünf von ihnen wurden um die Jahrhundertwende erbaut, in den 1920ern folgte dann noch ein großer Gemeindebau, der Sigmund-Freud-Hof. Von außen betrachtet am prunkvollsten ist die Gussenbauergasse 1, ein 1911 erbautes Eckhaus mit steinernen Verzierungen. Wie in alten Wiener Häusern üblich, heißt der erste Stock hier Mezzanin, sodass das fünfstöckige Gebäude offiziell nur vier Etagen zählt und die Erbauer bei der um 1900 gängigen Stockwerksteuer sparen konnten. Das Haus hat schon bessere Tage gesehen, aber die Wohnungen protzen noch immer mit hohen Wänden, weitläufigen Räumen und stuckverzierten Decken.

Von 1999 bis 2011 – meine gesamte Schulzeit über – habe ich gemeinsam mit meiner Mutter im Mezzanin in der Gussenbauergasse 1 gewohnt. Am Anfang war unser Zuhause eine ganz normale Wohnung – doch all das änderte sich am 30. März 2003, dem Tag, als uns Arthur und Trudie Kern besuchten.

***

Der 30. März 2003 war ein Sonntag und einer der ersten warmen Frühlingstage des Jahres. Wohin man auch blickte, unsere ganze Wohnung glänzte – bis hin zu meinem Kinderzimmer, das ich in langwieriger Arbeit vom Chaos einer Elfjährigen in ein Paradebeispiel an Ordentlichkeit verwandelt hatte. All meine Bücher standen gerade in meinem Regal, meine Kuscheltiere saßen aufgereiht auf meinem Stockbett, und die frisch gewaschenen roten Leinenvorhänge verströmten einen feinen Geruch nach Waschmittel. Meine Mutter und ich waren gerade auf dem Weg in die Küche, da läutete es auch schon: Trudie und Arthur Kern standen vor der Tür.

Arthur sah aus wie ein typischer 75-jähriger Amerikaner: Ein kurzer weißer Haarkranz umrundete seine Halbglatze, er trug eine marineblaue Hose, eine Brille mit großen runden Gläsern und ein grau gestreiftes Poloshirt, das seine kalifornische Bräune zur Geltung brachte. Dass er gerade einen Transkontinentalflug hinter sich hatte, merkte man dem pensionierten Raketentechniker überhaupt nicht an. Stattdessen leuchteten seine Augen, als er kurz nach der Begrüßung mit kräftigen Schritten durch unsere Wohnung ging. »Das war das Klavierzimmer!«, rief er begeistert, als er mein Kinderzimmer betrat.

Mein Kinderzimmer war tatsächlich einmal ein Klavierzimmer gewesen – in den 1930er-Jahren. Als kleiner Junge wuchs Arthur in derselben Wohnung auf, in die meine Mutter und ich Jahrzehnte später zogen. Und nach über sechzig Jahren sah er die Räume nun zum ersten Mal wieder!

Für den Amerikaner stellte der Besuch seiner alten Wohnung eine Reise in die Vergangenheit dar, eine Erinnerung an eine idyllische Kindheit auf einem anderen Kontinent und in einer anderen Zeit. Einer Zeit, zu der er noch einen anderen Namen trug: Oswald Kernberg.

***

Oswald Kernberg, oder Ossi, wie er von seiner Familie gerufen wurde, wohnte in der Gussenbauergasse 1 gemeinsam mit seinem älteren Bruder Fritz, seinen Eltern Frieda und Hermann und einem Kindermädchen. Die Kernbergs führten das gute Leben einer wohlhabenden jüdischen Bürgerfamilie im Wien der Zwischenkriegszeit. Hermann Kernberg besaß und leitete eine Strickwarenfabrik, in der auch seine Frau Frieda arbeitete. Die Familie reiste viel – zum Skifahren an den Semmering, auf Kur oder zum Sommerurlaub nach Italien. Doch all das änderte sich schlagartig mit dem »Anschluss« Österreichs an Nazideutschland. Nur das jüngste Mitglied der Familie, Oswald, sollte den Holocaust überleben.

1941 wurden Frieda und Hermann gemeinsam mit ihrem ältesten Sohn Fritz nach Opole in Polen deportiert. Bereits zwei Jahre zuvor war es den Eltern jedoch gelungen, den jüngsten Sohn Ossi auf einem sogenannten Kindertransport in die Freiheit zu schicken. Der Zehnjährige kam alleine nach Frankreich, wo er gemeinsam mit anderen jüdischen Flüchtlingskindern in verschiedenen Kinderheimen lebte. Französische Adelsfamilien finanzierten die Heime, der österreichische Exilpädagoge Ernst Papanek leitete sie.

Als die deutsche Wehrmacht in Frankreich einfiel, evakuierte man die Kinder hastig in den unbesetzten Süden des Landes. Aber auch dort waren sie nicht sicher. Unter größter Anstrengung gelang es internationalen Hilfsorganisationen schließlich, Oswald und 250 weitere Kinder auf einem zweiten Kindertransport nach Amerika zu retten. 1941 reiste der Junge von Portugal aus nach New York, auf einem der letzten Schiffe, das Europa noch verlassen konnte.

Kurz nach seiner Ankunft in New York erhielt Ossi einen Brief von seiner Familie, der Glückwünsche zu seinem 13. Geburtstag und zu seiner Bar-Mizwa enthielt. »Und nun mein goldiges süßes Burli, bitte ich meine innigsten Gratulations- und Segenswünsche zu diesem Deinem grossen Festtage entgegen nehmen zu wollen«, schrieb Hermann Kernberg seinem Sohn aus dem Ghetto in Polen. »Möge dir Dein Glück so leuchten und scheinen wie die Sterne am Himmel, und möge es uns beschieden sein, Dich in unsere Arme baldigst schließen zu können, und Dir das Leben so zu verschönern, wie wir es immer dir zu verschönern bemüht waren.«

Dieser Brief war das letzte Lebenszeichen von Oswalds Familie.

***

Über sechzig Jahre später erzählte uns Arthur, der damals schon lange nicht mehr Oswald hieß, während unseres gemeinsamen Rundgangs durch unsere Wohnung seine Familiengeschichte. In einem kleinen Notizbuch notierte sich Arthur gewissenhaft jedes Detail der Wohnung und erweckte mit seinen Beschreibungen die Räume seiner Kindheit zum Leben. Mein Zimmer war in den 1930ern das Klavierzimmer gewesen, das Büro meiner Mutter beherbergte damals das Esszimmer, in unserem Wohnzimmer schliefen einst Frieda und Hermann Kernberg, und der schmale angrenzende Raum, den meine Mutter als Schlafzimmer nutzte, diente früher als Kinderzimmer. In dem Zimmer links von der Küche lebte einst das Kindermädchen, und die langen Flure, die typisch für Wiener Altbauwohnungen sind, wurden von Ossi gerne als Fahrradstrecke verwendet, allerdings nur, wenn seine Mutter nicht in der Nähe war.

Zurück in meinem Kinderzimmer ertönte plötzlich Für Elise, Beethovens berühmtes Klavierstück, das er zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Wien komponiert hatte. Über sechzig Jahre nachdem die Kernbergs mit Gewalt gezwungen worden waren, ihre Wohnung zu verlassen, füllte wieder Musik das ehemalige »Klavierzimmer«. Die Melodie kam aus einer Spieluhr in Form eines kleinen goldverzierten Pianos. Dicke Barockengelchen mit weißen Flügeln, pinken Gesichtern und dick aufgetragenem Lächeln bewegten sich zur Musik. Sobald die Musik aufhörte und die Engelchen stillstanden, brauchte es nur drei oder vier Umdrehungen, um die Spieluhr wieder zum Laufen zu bringen. Trudie und Arthur hatten sie mir mitgebracht – als Erinnerung an das Klavier, das einst in meinem Zimmer gestanden hatte.

Schließlich gingen wir ins Wohnzimmer, um den Marmorkuchen zu essen, den meine Mutter gebacken hatte. An unserem Esstisch erzählte uns Arthur seine Geschichte. Das dreistündige Gespräch fand in einem lustigen Sprachenmix aus Deutsch und Englisch statt: Ich lernte damals erst seit einem Jahr Englisch, und Trudie war zwar wie ihr Ehemann gebürtige Wienerin, erinnerte sich aber nach einem halben Jahrhundert in Amerika kaum noch an die deutsche Sprache. »Speak German«, forderte Arthur seine Frau immer wieder auf. Er selbst beherrschte seine Muttersprache noch fast fließend, auch wenn er mit einem Schmunzeln im Gesicht erklärte, dass er das Vokabular eines Zehnjährigen besaß – das Alter, in dem er Wien verlassen musste.

Jener Märztag im Jahr 2003 war schon Arthurs zweiter Versuch, die Wohnung seiner Kindheit wiederzusehen. Bei seinem ersten Wienbesuch in den 1970ern hatte er es nicht einmal geschafft, in das Gebäude hineinzukommen. Als er nun eine zweite Reise nach Wien plante, bat er ein befreundetes österreichisches Ehepaar, das er auf einer Reise in die Türkei kennengelernt hatte, um Hilfe. Im Herbst 2002 standen Brigitte und Fritz Kodras dann unangemeldet vor unserer Tür und brachten das Anliegen ihres Freundes vor. Meine Mutter lud Arthur und Trudie daraufhin sofort zu uns ein. Wir wussten, dass ein Besuch seiner alten Wohnung für Arthur wichtig und emotional sein würde, und für meine Mutter kam es gar nicht infrage, so eine Bitte abzuschlagen. Wir wussten aber nun auch, dass wir in einer Wohnung lebten, deren ehemalige Bewohner bis auf den jüngsten...

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