200 v. Chr. bis 300 n. Chr.
Optimum und Imperium: Von der Blüte Roms ins »dunkle Zeitalter«
Im Jahr 98 unserer Zeitrechnung schrieb der römische Historiker Tacitus über eine der fernsten Provinzen des Imperium Romanum: »Caelum crebris imbribus ac nebulis foedum; asperitas frigorum abest« – etwas frei übersetzt: »Der Himmel ist durch häufigen Regen und Nebel verschleiert, aber es wird nicht bitterkalt.« Er sprach über die Insel Britannicum, wo die römischen Besitzungen das heutige England und Wales umfassten.
Heute erfreut sich Rom, zu Tacitus Zeiten die Hauptstadt eines Weltreiches, im Schnitt an etwa 2500 Stunden Sonnenschein pro Jahr, während London mit 1500 auskommen muss. In manchen Monaten ist der Unterschied noch deutlicher: Im Januar sind es durchschnittlich 130 Sonnenscheinstunden in Rom und nur 45 in London. Damals, vor fast zweitausend Jahren, war es sehr ähnlich. Tacitus mag die Dauer des Regens in Kombination mit niedrigen Temperaturen befremdet haben, doch selbst eine der klimatisch eher weniger einladenden Provinzen des Imperium Romanum wurde nach seiner Beobachtung nicht von harten Wintern heimgesucht. Regen, wenngleich nicht so häufig wie in Britannien, war Tacitus aus Rom und dem Mittelmeerraum gewohnt – der Niederschlag war in aller Regel jedoch mit warmen, angenehmen Temperaturen verbunden. Die Blütezeit des Römischen Reiches in den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten war durch ein überwiegend stabiles Klima geprägt, dessen Temperaturen den heutigen – also eines Zeitalters globaler Erwärmung – entsprachen. Gleichzeitig waren Niederschläge zumindest so regelmäßig, dass nennenswerte Dürreperioden in Italien und auch in anderen mediterranen Regionen ausblieben, was vor allem für die römischen Provinzen Africa (dem heutigen Tunesien und dem Küstenstreifen Libyen) und Aegyptus galt, von denen vor allem Letztere für die Ernährung der übervölkerten Metropole Rom eine entscheidende Rolle spielte.
Tacitus war ein penibler Beobachter, der sich Gedanken über die Zusammenhänge von Klima und Ökonomie machte. Seine Beschreibung Britanniens lässt auf klimatische Bedingungen auf der Insel schließen, die noch höhere Jahresdurchschnittstemperaturen aufwiesen als in unserer Zeit: »Der Boden kann, abgesehen vom Olivenbaum, der Weinrebe und den übrigen Pflanzen, die gewöhnlich nur in heißeren Gegenden wachsen, Feldfrüchte tragen und ist reich an Vieh: langsam werden sie reif, schnell kommen sie hervor; der Grund für beides ist derselbe: die hohe Feuchtigkeit von Boden und Himmel.« (Tacitus. Agricola XII) Olivenbäume in Sussex? Weinreben entlang der Themse? Wenn es im Süden Englands und Wales heute wieder zaghaften Weinbau gibt, wird dies auf die aktuelle Klimaerwärmung zurückgeführt. (Die britische Weinwirtschaft gehört wahrscheinlich zu jenen wenigen Institutionen, die – wenngleich nicht allzu outspoken – im Klimawandel etwas Erfreuliches mit der Aussicht auf wirtschaftliche Expansion der eigenen Branche sehen.) Die Gesamtzahl der meist sehr kleinen Winzereien und Weingärten dürfte bei etwa 400 liegen. Olivenbäume findet man im heutigen United Kingdom allenfalls in dem wohl temperierten und feucht-schwül gehaltenen Gewächshaus eines Botanischen Gartens. Britannien muss Tacitus als ein klimatisches Paradies erschienen sein, vergleicht man seine Beschreibung der Insel mit der einer anderen Region, einem Gebiet, dessen Bewohner sich wiederholt der Eroberung durch Rom widersetzt hatten: dem Territorium, das heute Deutschland ausmacht. In seinem Werk Germania versammelte Tacitus wenig einladende Attribute zum dortigen Klima: raue Wälder, furchtbare Sümpfe, stürmisches Wetter und ein Boden, auf dem keine Obstbäume und nur kleinwüchsige Rinder gedeihen.
Das Jahr 98, in dem Tacitus wahrscheinlich seine Charakterisierung Britanniens als Teil der Biografie seines Schwiegervaters, des Senators und Feldherrn Gnaeius Julius Agricola, verfasste, fiel in eine historisch bedeutsame Zeit: dem Regierungsantritt von Trajan. Dieser Herrscher, mit vollem Namen Marcus Ulpius Traianus, gilt als einer der »guten Kaiser« (98–117), neben Hadrian (117–138), Antoninus Pius (138–161) und Marc Aurel (161–180). Selbst unter ihnen ragt Trajan heraus; eine Historiografie nennt ihn gar den besten princeps seit Einführung des Kaisertums, des Prinzipats, durch Augustus (27 v. Chr.–14 n. Chr.). Trajan war der erste Imperator, der aus der Provinz stammte, auch wenn der Nachfahre römischer Siedler in Südspanien überwiegend in Rom aufwuchs, wo sein Vater Karriere in der Politik machte. Vor allem aber: Mit Trajan und seiner Regierungszeit ist die größte Ausdehnung des römischen Reiches verbunden. Es erstreckte sich von der Atlantikküste bis zum Euphrat, die gesamte nordafrikanische Küstenregion gehörte ebenso zum Imperium Romanum wie weite Teile des heute als Naher Osten bezeichneten Gebietes; das weiteste Vordringen gen Orient führte römische Legionäre für kurze Zeit bis an den Persischen Golf. Von den modernen europäischen Nationalstaaten waren unter anderem Spanien, Frankreich, Portugal, die Schweiz, Österreich, Rumänien und Griechenland in ihren heutigen Grenzen gänzlich unter Roms Kontrolle. Markant, vor allem mit Blick auf die weitere Entwicklung, sind die Grenzen, an die das Imperium im geografischen wie symbolischen Sinne stieß. Im Osten widersetzten sich die Parther im Gebiet des heutigen Iran der Eroberung – Partherkriege waren für viele Kaiser fester Bestandteil der Außenpolitik. Undenkbar war zur Trajanschen Blütezeit indes, dass später ein Kaiser, Gordian III., im Kampf gegen die Parther im Jahr 244 den Tod finden und ein anderer sogar noch schmählicher in deren Gefangenschaft sterben würde, wie Valerian nach 260. Auch an Germanien scheiterten die Eroberungs- und Kultivierungsbemühungen der Römer. So versuchten sie, das eigene Territorium gegen die oft rastlosen Völkerschaften östlich des Rheins und der Elbe mit einer Verteidigungsanlage, dem Limes, zu schützen. Eine ähnliche Strategie verfolgten sie auch im regnerischen und mäßig kalten Britannien: Trajans Nachfolger Hadrian ließ einen steinernen Wall zur Abgrenzung gegen die feindlichen Völkerschaften im heutigen Schottland anlegen, der seinen Namen trägt und dessen Überreste heute eines der beeindruckendsten archäologischen Dokumente des Imperium Romanum darstellen.
Zum Siegeszug des Römischen Reichs und zur Konsolidierung seiner Herrschaft auf nicht weniger als drei Kontinenten trugen zahlreiche Faktoren bei. Die hochentwickelte Schrift- und Dokumentationskultur Roms ermöglichte Verwaltungsstrukturen, die bei der Expansion, die in der aufsteigenden Republik begonnen hatte, unerlässlich waren. Unzweifelhaft waren Roms Fähigkeiten, seine militärische Macht zu organisieren und auszubauen, mitentscheidend zunächst für die Niederringung des Rivalen Karthago in den drei Punischen Kriegen im dritten und zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Die Berufsarmee, die gut gedrillten und (meist) kompetent geführten Legionen, zeigten sich den meisten weit weniger strukturierten Streitkräften der Epoche als überlegen. Den Legionären winkten für ihren Dienst und ihre Opfer Lohn: die Belohnung mit Land, meist in den Provinzen, die damit latinisiert wurden, oft auch das römische Bürgerrecht. Gerade das Rechtssystem machte Rom attraktiv, auch für die zunächst mit Gewalt unterworfenen Völkerschaften. Im Römischen Reich gab es eine Rechtssicherheit, die zwar weit entfernt vom heutigen Verständnis des Begriffs ist, aber hoch über den archaischen Verhältnissen anderer Enthnien stand. In der zunehmenden Öffnung gegenüber anderen kulturellen Einflüssen kann ein weiterer Aspekt gesehen werden, dem Rom seinen Aufstieg verdankt. Vor allem der Einfluss des noch zu Zeiten der Republik eroberten Griechenlands hinterließ bei der römischen Elite Spuren und war ein Segen für das römische Bildungssystem. Auch der Austausch mit anderen, teilweise deutlich älteren Kulturen wie jener Ägyptens wirkte befruchtend.
Undenkbar wäre der Aufstieg Roms indes ohne politische und wirtschaftliche Stabilität gewesen. Beides hing, vor allem in einer schließlich die Millionengrenze an Einwohnern erreichenden Metropole wie Rom, von der Versorgungslage ab: Der plebs brauchte panem et circenses, musste mit Entertainment und einem gefüllten Magen und Unterhaltung bei Laune gehalten werden. Dies gelang über viele Dekaden, weil Schiffe aus Ägypten, der »Brotkammer des Reiches«, Rom mit Korn versorgten. Die Fruchtbarkeit des Niltals und die außerordentlich günstigen klimatischen Verhältnisse in anderen Teilen des Reiches sowie der Bau von Strassen und die Anlage von Städten waren für das Gedeihen der Landwirtschaft...