Das Thema Armut von Kindern wurde in der Sonderpädagogik erstmals durch Heinrich Ernst Stötzner im Jahr 1864 in seiner Schrift „Schulen für schwachbefähigte Kinder“ aufgegriffen. Der spätere Gründer der ersten Hilfsschule verwies damals sachlich und in positiver Absicht auf den Zusammenhang von Armut und Lernproblemen ( vgl. Weiß 2001, S. 352). Zur Zeit des Nationalsozialismus wurden Kinder in Hilfsschulen und deren Familien zunehmend diffamiert. So stellt Wiegand 1932 die so genannte Drift-Hypothese auf, in der er einen eindeutigen Kausalzusammenhang zwischen der Schwachbegabung, sozialen Unangepasstheit und dem moralischen Fehlverhalten der Hilfsschüler einerseits und deren Armut und sozialer Benachteiligung andererseits, herstellte. Er postulierte damit eine „(…) Korrelation zwischen wirtschaftlicher Lage und Schwachsinn (…)“ (Wiegand 1932, zitiert nach Weiß 2001, S. 352).
In der Folgezeit, so kritisieren Iben, Böhm und andere Wissenschaftler im Bereich der Sonderpädagogik (vgl. Iben 1996, S. 450), hätten Politiker und Pädagogen über Jahrzehnte das Thema Armut in der Sonderpädagogik ignoriert. So warf Böhm 1996 die Frage auf: „Wann wird die derzeitige Sonderpädagogik der Armut von Kindern eine Stimme geben?“ und sorgte damit in der Fachwelt für Aufruhr. Tatsächlich stößt man bei Recherchen zu diesem Thema nur vereinzelt auf ältere Literatur, die sich sachlich mit dem familiären und sozialen Umfeld sowie der Armut von Förderschülern auseinandersetzt (vgl. Begemann, Hiller, Iben, Gehreckes, Jantzen).
Erst seit rund 10 Jahren häufen sich Beiträge zum Thema Armut und auch der fast vergessene Begriff der sozialen Benachteiligung aus den 1970er Jahren wird wiederbelebt (vgl. beispielsweise Willand 2000). Eine Begründung für das verhaltene Forschungsinteresse innerhalb der Sonderpädagogik sieht Albers in der Vielschichtigkeit des Phänomens Kinderarmut und der damit verbundenen Schwierigkeit der Definition von Kinderarmut, auf die in Kapitel 2.1 weiter eingegangen wird. Weiter merkt er an, dass gerade die sozialen, kulturellen und emotionalen Dimensionen von Armut schwer empirisch zu erfassen und zu operationalisieren seien. Gerade diese „(…) sind für (sonder)pädagogische Handlungsprozesse der Diagnostik, Förderung und Unterrichtsgestaltung aber entscheidend, da sie an eine größtmögliche Annäherung an die Lebenswelt der Kinder gebunden sind.“ (Albers 2008, S.5).
Während die Sonderpädagogik die Bedeutung der Problematik also seit rund 10 Jahren wieder erkannt und die Forschungsarbeit wieder aufgenommen hat, wurde die Politik hingegen erst in den letzten Jahren auf das Problem der Armut in Deutschland aufmerksam und behauptete bis dato, dass die Einführung der staatlichen Transferleistungen im Jahr 1962 die Armut seither in ausreichendem Maße bekämpfe. Seit einigen Jahren erscheinen erste Studien von verschiedenen Stellen, die nun auch das Thema Kinderarmut in Deutschland ins Blickfeld rücken.
Tatsächlich lässt sich aktuell eine „Infantilisierung der Armut“[1] in Deutschland feststellen. Der Begriff „Infantilisierung der Armut“ verweist auf die Tatsache, dass Kinder heute die am häufigsten und am stärksten von Armut betroffene Altersgruppe darstellen.
„Wie empfinden Schülerinnen und Schüler der Förderschule Lernen Armut und soziale Benachteiligung?“
Anhand der oben aufgeführten Fakten und Daten wird die Relevanz des Themas der Kinderarmut für die Sonderpädagogik deutlich. Doch wie leben Schüler der Förderschule Lernen wirklich? Wie gehen Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf im Bereich Lernen mit Armut um? Wie nehmen sie Armut und soziale Benachteiligung selbst wahr? Welche Bewältigungs-, Kompensations- oder gar Anpassungsstrategien nutzen sie? In der Tat gibt es nur wenige Studien, die sich mit dieser Problematik beschäftigen. Vielmehr geht es häufig darum, wie Lehrer Armut bei ihren Schülern wahrnehmen und welche Maßnahmen sie zur Unterstützung und Förderung der betroffenen Schüler ergreifen. „Weniger erforscht sind (…) Fragestellungen, die sich auf die kindliche Wahrnehmung und Bewältigung benachteiligter Lebenslagen sowie auf den spezifischen Beitrag von Kindern zur Gestaltung ihrer Lebenswelt beziehen.“ (Butterwegge/ Holm/ Zander 2003, S.74).
Mit der Veröffentlichung der breit angelegten Studie Leben in Europa (vgl. www.destatis.de) wurden im Jahr 2005 erstmals international vergleichbare Daten vorgelegt, die aufzeigen, wie viele Menschen und welche Menschen in Deutschland und Europa von Armut betroffen oder bedroht sind. Die oben genannte Studie liefert Daten aus dem Jahr 2004, auf die im zweiten Kapitel weiter eingegangen wird.
Im Hinblick auf die kindliche Wahrnehmung und Bewältigung von Armut und sozialer Benachteiligung legte Hölscher im Jahr 2003 eine Studie vor, in der 756 dortmunder Gesamtschüler im Alter zwischen 12 und 16 Jahren zu ihren Lebenslagen befragt wurden. 15 Jugendliche, die nach den Kriterien dieser Studie in Armut lebten, wurden mit Hilfe von qualitativen Interviews zur Wahrnehmung und Bewältigung ihrer Armut befragt (Hölscher, 2003). Im selben Jahr wurde die AWO-ISS-Längsschnittstudie veröffentlicht, die sich mit der Wahrnehmung und Bewältigung von Armut im frühen Grundschulalter befasst. Zander verweist in diesem Zusammenhang gleich auf mehrere Forschungsprojekte in den letzten Jahren, in denen Kinder im Grundschulalter zur Wahrnehmung und Bewältigung von Armut befragt wurden. Im Herbst 2007 wurde dann die Worldvision-Kinderstudie veröffentlicht, bei der im größeren Umfang auch Kinder zu ihrer Wahrnehmung des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland befragt wurden. Dabei wurde am Rande auch das Thema Armut behandelt (vgl. dazu Kap.4). Vergleichbare Studien stellen das LBS-Kinderbarometer Deutschland 2007 und das DJI- Kinderpanel dar. Darüber hinaus organisierte die UNICEF im Jahr 2006 ein Filmprojekt für von Armut betroffene Jugendliche aus dem Ruhrgebiet, die in einmütigen Filmen der breiten Öffentlichkeit ihre Sicht auf Armut und soziale Benachteiligung zeigen konnten.
Keine einzige Studie wurde jedoch bisher in Deutschland veröffentlicht, bei der es sich bei den Befragten um von Armut betroffene Jugendliche an der Förderschule Lernen handelt. Bei der von mir gewählten Thematik handelt es sich also um eine Forschungslücke, die unbedingt geschlossen werden muss, um neue Förderkonzepte zu entwickeln, die dazu beitragen, betroffene Kinder und Jugendliche bei der Bewältigung von Armut zu unterstützen und positive Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Im ersten Kapitel wurde die Relevanz der Problematik Armut und soziale Benachteiligung innerhalb der Sonderpädagogik dargestellt. Durch die Darlegung einiger Forschungsergebnisse wird im zweiten Kapitel die Problematik der Infantilisierung von Armut aufgegriffen. Es wird aufgezeigt, welche Menschen besonders häufig oder besonders stark von Armut betroffen oder bedroht sind. Darüber hinaus werden verschiedene Definitionen, Sichtweisen und Forschungsansätze dargelegt, die aufzeigen, wie schwierig es ist, das Phänomen der Armut in seiner Komplexität zu erfassen. Mit Hilfe des systemisch-interaktionistischen Modells „Pentagon der Armut“ werden mögliche Erklärungsansätze sowie mögliche Folgen von Armut und sozialer Benachteiligung aufgezeigt und anschließend die Folgen von Armut in unterschiedlichen Dimensionen erläutert. Aus dem Kapitel geht hervor, wie vielschichtig und komplex sich das Phänomen der Armut darstellt.
Im dritten Kapitel wird Armut und soziale Benachteiligung im Kontext der Förderschule Lernen beleuchtet. Hier werden die Bedürfnispyramide nach Maslow und das Prinzip der erlernten Hilflosigkeit nach Seligman wichtige Hinweise auf den Zusammenhang von Armut und Lernbehinderung geben. Es folgt die Sicht der Förderschullehrer auf Armut und soziale Benachteiligung bei ihren Schülern.
Im vierten Kapitel werden erste Forschungsergebnisse aus den (wenigen) bisher veröffentlichten Studien dargestellt, die sich mit der kindlichen Wahrnehmung von Armut und sozialer Benachteiligung befasst haben. Hierbei wird dargelegt, inwieweit Kinder Armut in der Gesellschaft wahrnehmen, was sie mit dem Begriff „Armut“ verbinden und wie betroffene Kinder ihre eigene Situation sehen. Auf diese Ergebnisse wird im fünften Kapitel bei der Interpretation der von mir erhobenen Daten zurückgegriffen, da sie entscheidende Erkenntnisse für das Antwortverhalten der Stichprobe liefern. Im Anschluss werden Forschungsergebnisse aus der Resilienzforschung dargestellt, die aufzeigen, welche Faktoren dazu beitragen, dass Armut und soziale Benachteiligung einen negativen Einfluss auf die Entwicklung des betroffenen Kindes haben bzw. welche Faktoren andererseits zu einer positiven Entwicklung beitragen können. Abschließend wird aufgezeigt, welche...