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E-Book

Wie Inklusion in der Schule gelingen kann - und warum manche Versuche scheitern

Interviews mit führenden Experten

AutorKatja Irle
VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl141 Seiten
ISBN9783407293206
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
In diesem Buch kommen führende Experten aus den Bereichen Bildung und Gesellschaft zur aktuellen Inklusionsdebatte zu Wort. Kersten Reich, Bernd Ahrbeck, Annedore Prengel, Heinz Klippert, Rainer Schmidt u.a. schildern in Interviews ihre Haltung zur Inklusion und die Bedeutung von Schule für ihre Umsetzung. Gleichzeitig benennen sie Probleme und Risiken. Lehrer/innen erhalten so in gut lesbarer Form einen fundierten Einblick in die verschiedenen Perspektiven zu diesem Thema. Inklusion - mit diesem Begriff sind alle Lehrer/innen konfrontiert. Von ihnen wird erwartet, dass sie zum zentralen Thema der aktuellen bildungspolitischen Debatte Stellung beziehen. Doch die Meinungsbildung zur größten Reform-Baustelle in der Schulpolitik kann angesichts ihrer Unübersichtlichkeit schwerfallen. In diesem Buch werden Inklusionsexperten aus Praxis und Theorie befragt, wobei der Expertenbegriff weit gefasst ist: Bildungsforscher, Lehrer, Schulleiter, ein Kabarettist und viele andere stellen ihre Position dar und benennen im Hinblick auf die Zukunft des Bildungssystems die Herausforderungen der Gegenwart. Lehrer/innen erhalten so einen gut lesbaren Überblick zu kontrovers diskutierten Aspekten von Inklusion.

Katja Irle war langjährige Redakteurin der »Frankfurter Rundschau« und verantwortlich für die »Wissen«-Seite. Heute arbeitet sie als freie Journalistin für verschiedene Zeitungen und andere Kultur-Formate.

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Leseprobe

Heinz Klippert

Chronische Überforderung


Der Unterrichtsentwickler und Lehrerfortbilder Heinz Klippert erlebt, dass viele Lehrer sich mit der Inklusion schwer tun. Er hat dafür Verständnis. Es sei unmöglich, eine ganze Klasse nach Lehrplan unterrichten zu müssen und gleichzeitig jedes einzelne Kind individuell zu betreuen, sagt der Methodiker – und verlangt eine Qualifizierungsoffensive.

Als Lehrerfortbildner sind Sie bundesweit an Schulen unterwegs. Wie kommen die Lehrer nach Ihren Beobachtungen mit der Umsetzung der Inklusion zurecht?

Viele tun sich sehr schwer. Sie sind als Fachlehrer ausgebildet und auf das Unterrichten im Klassenverband vorbereitet worden und sollen nun plötzlich individualisierte Förder-, Diagnose- und Betreuungsarbeit leisten. Dabei sollen sie möglichst alle Kinder differenziert und typgerecht ansprechen, beobachten, beraten und begleiten. Individualisierung, Differenzierung und umfassende Lernberatung sind die neuen Zauberworte – verbunden mit der Forderung nach zieldifferenten Aufgaben, Materialien und Lernhilfen. Dieser Individualisierungsanspruch ist nicht nur ungewohnt und höchst vorbereitungsintensiv; er wird von vielen Lehrern auch als chronische Überforderung wahrgenommen.

Was genau löst diese Überforderungsgefühle aus?

Da gibt es verschiedene Ursachen: Da sind erstens die höchst unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schüler, die Lehrer überbrücken müssen. Da ist zweitens der enorme Differenzierungsaufwand, der durch das Erstellen unterschiedlichster Materialien und Aufgaben für ein und dieselbe Klasse entsteht. Und da sind drittens die geradezu uferlosen Beobachtungs-, Diagnose-, Dokumentations- und Beratungsaufgaben, die der propagierte Individualisierungsanspruch vorsieht. Das alles beschert den Lehrern nicht nur erdrückende Mehrarbeit. Es ist über weite Strecken auch recht unrealistisch, was ihnen da an Zusatzleistungen abverlangt wird.

Warum unrealistisch?

Weil es nun einmal unmöglich ist, einerseits 25 oder mehr Schüler lehrplangebunden zu unterrichten, andererseits zeitgleich auch noch jedes einzelne Kind für sich zu betreuen. Wie soll das gehen? Diese neue Rollenzuschreibung für Inklusionslehrer macht viele Lehrer ratlos, manche auch zornig. Sie fühlen sich verheizt, alleingelassen, überfordert. Daran ändert auch der phasenweise Einsatz zusätzlicher Betreuungslehrer nur wenig.

Aber integrativen Unterricht gibt es in Deutschland doch schon seit langem. Hat das gar keine Spuren hinterlassen?

Bei einzelnen Lehrkräften ganz sicher. Es gibt in allen Schularten und Schulstufen einzelne Lehrer, die es mit großem persönlichem Engagement und Geschick schaffen, erfreuliche Integrationserfolge in ihren Klassen zu erzielen. Die Frage ist nur, ob sich diese punktuellen Integrationserfolge verallgemeinern lassen. Ich bin da skeptisch.

Warum?

Das liegt zum einen daran, dass die Integrationsbemühungen häufig derart vorbereitungsintensiv ausfallen, dass sie weder durchzuhalten sind, noch ansteckend auf andere Kollegen wirken. Das Aufwand-Ertrags-Verhältnis stimmt einfach nicht. Der zweite Grund ist der, dass Deutschlands Schulen nach wie vor sehr stark auf Selektion und weniger auf Integration setzen. Das gilt im Kern für alle Schularten – selbst für die meisten integrierten Gesamtschulen oder Gemeinschaftsschulen. Spätestens nach Jahrgangsstufe sechs ist äußere Differenzierung in A-, B- oder C-Kurse beziehungsweise Haupt- und Realschulzweige angesagt, was mit dem erklärten Integrationsanspruch nur schwer in Einklang zu bringen ist. Erst wenn dieser Widerspruch überwunden wird, hat Inklusion eine echte Chance.

Sie trennen zwischen Integration und Inklusion. Worin sehen Sie die entscheidenden Unterschiede?

Inklusion ist für mich die Hochform der Integration. Integration setzt niederschwelliger an, denn sie geht von der Prämisse aus, dass die Kinder einer Klasse von ihren geistigen, gesundheitlichen und/oder sozial-emotionalen Lernvoraussetzungen her potenziell anschlussfähig sind.

Was heißt das konkret?

Anschlussfähigkeit heißt, dass sie im Klassenverband ernsthaft mitmachen können. Dann kann von einer tragfähigen Integrationsfähigkeit der Schüler gesprochen werden. Die Bandbreite der Schülerbegabungen und/oder -beeinträchtigungen ist also limitiert, während sie in den neueren Inklusionsklassen deutlich weiter gefasst ist. Das erklärt, warum inklusiver Unterricht wesentlich höhere Anforderungen an die Lehrkräfte stellt als die gängige Integrationsarbeit in „Normalklassen“. Das gilt selbst dann, wenn diese Integrationsarbeit verstärkt auf Kinder mit den Förderschwerpunkten Lernen sowie emotionale und soziale Entwicklung ausgedehnt wird, die traditionell eher auf Förderschulen abgeschoben werden. Die meisten dieser „Problemschüler“ sind intellektuell durchaus anschlussfähig und können von daher mehrheitlich in den Regelklassen mitmachen – vorausgesetzt, sie werden frühzeitig und konsequent genug gefördert und gefordert.

Heißt das, dass Sie den Inklusionsanspruch solange zurückstellen wollen, bis die Lehrer die Integrationsarbeit im Griff haben?

Da die Bundesrepublik die UN-Konvention zum gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern bereits unterzeichnet hat, kann die Inklusion natürlich nicht einfach zurückgestellt werden. Mit zusätzlichen Förderlehrern lässt sich manches erreichen. Gleichwohl bleibt die Frage, wie der besagte Anspruch wirkungsvoll in die Tat umgesetzt werden kann. Wenn Inklusion über die Bereitstellung niedrigschwelliger Sonderaufgaben oder spezieller Betreuungsangebote durch Förderlehrer hinausgehen soll, dann muss es das Ziel sein, die Inklusionskinder möglichst oft und konsequent in den regulären Fachunterricht einzubinden und an den laufenden Arbeits- und Interaktionsprozessen teilhaben zu lassen. Das sichert gemeinsames Lernen. Das aber wird nur dann gelingen, wenn die zuständigen Fachlehrer bereit und in der Lage sind, integrationsfördernd zu unterrichten. Ihre Integrationskompetenz ist also die entscheidende Stütze gelingender Inklusion. Daher gebührt der Integrationsarbeit besonderes Augenmerk. Das gilt für die Bildungspolitik wie für die praktische Unterrichtsarbeit der Lehrer.

Was bedeutet für Sie „Integrationskompetenz“ der Lehrer und wie kann sie durch die Lehrerbildung aufgebaut werden?

Integrationskompetenz meint die Bereitschaft und Fähigkeit der Lehrer, gemeinsames Lernen in heterogenen „Standardklassen“ so zu kultivieren, dass kein Schüler ausgegrenzt wird und alle Kinder ihre unterschiedlichen Talente einbringen können. Das Problem ist nur, dass viele Lehrer ihre Integrationsaufgabe deutlich anders sehen und meinen, sie müssten sich ganz persönlich um alles und jeden kümmern, damit sich die Schüler auch hinreichend anstrengen und einbringen. Dieses Rollenverständnis ist deshalb so fatal, weil es zwangsläufig in die Überforderung führt. Wer dieser Gefahr entgehen will, der muss anders ansetzen und stärker auf die Schülerqualifizierung abstellen.

Wie kann das in der Praxis aussehen?

Schülerintegration gelingt dann am besten, wenn die Schüler fit gemacht werden, selbstständig und methodenbewusst zu arbeiten und zu lernen – alleine, zu zweit oder auch in größeren Gruppen. Das ist die Kernaufgabe der Lehrer. Die entsprechenden Lehr-, Lern- und Trainingsverfahren müssen in den Hochschulen, Studienseminaren und Lehrerfortbildungseinrichtungen verstärkt vermittelt werden. Dabei helfen praktische Übungen, Hospitationen, Reflexionen, Unterrichtsbeispiele, Workshops, Filme und andere Formen des Erfahrungslernens. Diagnosetipps und sonstige wissenschaftsbasierte Instruktionen alleine reichen nicht.

Wie könnte eine solche Qualifizierungsoffensive auf den Weg gebracht und finanziert werden?

Kern dieser Qualifizierungsoffensive muss es sein, den Lehrern handfeste Verfahren an die Hand zu geben, die eine wirksame Integrationsarbeit begünstigen. Wie vermittele ich den Schülern Lernkompetenz und Kooperationskompetenz? Wie stelle ich sicher, dass im Fachunterricht Mut machende Tätigkeitsvielfalt und konsequente Methoden-, Aufgaben- und Lernpartnerwechsel stattfinden, die den Schülern Anschlussmöglichkeiten und Erfolgsaussichten eröffnen? Wie bilde ich Gruppen so, dass jeder Schüler seinen Platz findet? Wie plane und dokumentiere ich entsprechende Unterrichtsstunden? Welche Regeln und Rituale führe ich ein, damit kein Schüler dauerhaft ins Abseits gerät? Wie stelle ich sicher, dass Schüler die Zusammenarbeit...

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