Imperiales und hegemoniales Regieren – das einprogrammierte Scheitern
Imperien sind in der Geschichte periodisch aufgetreten. Das Perserreich, das römische Imperium, die Mongolenherrschaft, das Osmanische Reich und das britische Empire sind die bekanntesten Beispiele: Einem weit entwickelten, seiner Umgebung überlegenen Zentrum gelingt es, dieser seine Herrschaft aufzudrücken. Über die Zeit hinweg entwickelt sich eine mehr oder weniger gut funktionierende Gefolgschaft. An der Peripherie entstehen jedoch immer neue Herausforderungen, zum Beispiel durch ferne Eroberer, die das Imperium zur weiteren Ausdehnung zwingen. Die Kombination von reichlichen Ressourcen, guter Verwaltung, militärischer Überlegenheit (durch Organisation, Technik, Disziplin und Strategie) und verlässlicher Gefolgschaft erlaubt es, riesige Gebiete mit erstaunlich geringem Gewalteinsatz zu führen. Eine minimale militärische Präsenz in den Grenzgebieten als Abschreckung und als »Feuerwehr« für kleine Krisen, unterfüttert von der Möglichkeit, sie durch größere Expeditionsheere entscheidend zu verstärken, hält andere von inneren Aufständen und externen Aggressionen ab. Die Provinzen führen dem Zentrum neue Ressourcen zu und öffnen neue Rekrutierungsmöglichkeiten für die Streitkräfte (man denke etwa an die keltischen und germanischen Bestandteile der römischen Reiterei). Das Gift, das die Imperien zersetzte, war ihre Überdehnung. Je weiter die Front vom Zentrum entfernt ist, umso mehr nimmt seine Macht ab, desto heftiger ist infolgedessen die Anforderung an den Machteinsatz, wenn das Imperium angegriffen wird. Je vielfältiger die beherrschten Völkerschaften, umso wahrscheinlicher der Widerstand an mehreren Stellen, der das nötig macht, was das Imperium am meisten vermeiden möchte: den gleichzeitigen Gewalteinsatz in mehreren Krisen. Je weiter die Entfernungen, desto länger dauert die Kommunikation und desto schwieriger ist sie; infolgedessen fällt es dem Zentrum umso schwerer, seine Beauftragten in der Peripherie zu kontrollieren; diese können ihre eigenen Spiele spielen, von der hemmungslosen Bereicherung auf Kosten der Einheimischen (mit der fast unvermeidlichen Folge von Aufständen und deren kostspieliger Unterdrückung) bis hin zur Herausforderung der Zentralgewalt. Sowohl die römische Republik wie das römische Kaiserreich zerfielen nicht in erster Linie durch externe Herausforderungen, sondern durch die Kumulation von Macht an der Peripherie, die genutzt wurde, um Machtstellungen im Zentrum zu erobern. Im mongolischen Imperium waren die Kommunikationslinien zuletzt so lang, dass das Reich schier unter seiner eigenen Ausdehnung zerbrach.
Die Welt ist heute räumlich geschrumpft. Das Ausdehnungsdilemma, das Zentralproblem der Imperien, scheint damit entfallen zu sein. Dieser Umstand ermutigt die Theoretiker des amerikanischen Imperiums, etwa die Neokonservativen im American Enterprise Institute in Washington, aber auch europäische Autoren, im systematischen Ausbau der Macht der USA und in deren Einsatz für den Zweck eines vernünftigen Weltregierens die beste – weil realistischste – aller Optionen zu sehen. Heute ist globale Kommunikation in Echtzeit möglich, und zwar über mehrere Medien. Weltweite Netzwerke von Satellitenbeobachtung und Fernsehstationen erlauben das optische Überwachen der eigenen Operationen in der Peripherie und der Bewegungen möglicher oder tatsächlicher Gegner. Die Geschwindigkeit des militärischen Eingriffs über ein luftgestütztes Expeditionsheer (in Stunden bis Tagen), ein mit schwerem Gerät ausgerüstetes seegestütztes Kontingent (in Wochenfrist) oder, wenn Gefahr im Verzug ist, ein gänzlich maschinelles, schnelles Zuschlagen mit Marschflugkörpern oder weitreichenden Raketen (in Minuten), in Zukunft möglicherweise weltraumgestützte Laserwaffen (in Minuten- oder gar Sekundenfristen) erlauben Reaktionsgeschwindigkeiten in einer ganz anderen Dimension, als dies früheren Imperien möglich war. Die Vereinigten Staaten sind daher in der Lage, ihren übrigen Machtmitteln – ihrer wirtschaftlichen Stärke, ihrer kulturellen Ausstrahlungskraft – eine jederzeit weltweit einsetzbare Fähigkeit zum militärischen Eingreifen zur Seite zu stellen. Deren Abschreckungswirkung, so die Vertreter eines neuen Imperiums, wird die Notwendigkeit, sie einzusetzen, auf ein kostenverträgliches Minimum beschränken; die Reaktionsgeschwindigkeit erlaubt es, Risiken frühzeitig, das heißt präventiv, zu behandeln, ehe sie sich zu handfesten Gefahren ausweiten, deren Bekämpfung dann mit größerem Aufwand verbunden wäre.
Die Befürworter einer amerikanischen Weltherrschaft führen bedenkenswerte normative Argumente für ihre Präferenz an: Die USA sind ein demokratisches Land mit liberal-universalistischen Werten. Sie werden (relativ) gut und vernünftig regiert und verfügen über enorme wirtschaftliche und technische Ressourcen. Ihr Umgang mit anderen ist vergleichsweise gütig, ihr Interesse, fremdes Territorium zu kolonisieren (im Unterschied zu kontrollieren), ist relativ gering ausgeprägt. Im historischen Vergleich ebenso wie im Querschnittsvergleich mit anderen möglichen Aspiranten (Russland? China?) scheinen die USA die bessere Alternative darzustellen. Aus dieser Prämisse erwächst die Erwartung, dass die USA verhältnismäßig wirksam und relativ annehmbar für die Betroffenen Sicherheit stiften, was ihnen eine ausreichende Gefolgschaft verschafft, um den Problemen historischer Imperien zu entgehen. Noch dazu ist in Washington der Wille vorhanden, die Verhältnisse in der Welt möglichst stabil zu gestalten. Die amerikanische Elite empfindet durchaus das Verantwortungsgefühl als einzige Supermacht. Dieses Selbstbewusstsein ist die Voraussetzung dafür, dass die Kosten und Opfer aufgebracht werden, die eine imperiale Macht auf sich nehmen muss, um weltweit das kollektive Gut »Sicherheit« herzustellen, auf dessen Grundlage erst andere Güter wie Wohlfahrt, ökologisches Gleichgewicht usw. erwachsen können. Durch die historischen Umstände sind die USA in die Rolle der Imperialmacht hineingewachsen. Es kommt nun darauf an, diese Rolle bewusst mit dem hinreichenden Maß an Gemeinnützigkeit auszufüllen.
Wie sähe eine solche imperiale Weltregierung aus? Den Vereinigten Staaten fiele die Aufgabe zu, als Weltpolizist alle sicherheitspolitischen Schwelbrände zu löschen, bevor sie sich zu Großfeuern entwickeln könnten – das entspricht ziemlich genau der Idee der militärischen Konfliktprävention, wie sie die Regierung Bush in ihrer »Nationalen Sicherheitsstrategie« von 2002 beschrieben hat. Wenn ein Staat den von den USA gesetzten globalen Regeln feindselig gegenübersteht, wäre es die Sache der USA, diese feindliche Macht einzuhegen. Washington würde sich bei beiden Aufgaben auf ein weltweites Netzwerk von Bündnissen stützen können, die ihm einen Teil seiner Aufgaben abnehmen würden. Solche Bündnisse erlauben eine umfassende militärische Präsenz und erleichtern dadurch, dass sie Flughäfen, Logistikzentren, Vorratslager und Häfen zur Verfügung stellen, auch das Nachführen schlagkräftiger Expeditionsstreitkräfte. Die Bündnispartner bilden gleichfalls die Masse einer freiwilligen Gefolgschaft, deren Einverständnis den US-gesetzten Regeln, mit denen die Globalisierungsprobleme bearbeitet werden sollen, ihre globale Gültigkeit verleiht; im Gegenzug schenkt Amerika seinen Alliierten in ständigen Konsultationen Gehör. Mit ihrer Hilfe kann es auch gelingen, mit nichtmilitärischen Mitteln über ein System von Anreizen und Sanktionen widerstrebende Dritte zum Einlenken zu veranlassen.
Hegemonie ist die sanftere Alternative zum Imperium, mit dem sie die Führungsrolle eines Zentralstaats teilt, der für das gesamte Gefüge Sicherheitsleistungen erbringt. Die Hegemonie funktioniert mit einem geringeren Aufwand an militärischer Gewalt und globaler Präsenz und mehr mit Mitteln sanfter Macht, also wirtschaftlichen Beziehungen, institutioneller Steuerung, kultureller Überzeugungskraft, diplomatischer Geschicktheit und medialer Präsenz. Die größeren Bündnispartner spielen – ständig im Zusammenspiel mit dem hegemonialen Zentrum – eine eigenständigere Rolle, die Lasten sind etwas gleichmäßiger auf etwas mehr Schultern verteilt; dafür obliegt es dem Hegemon, mehr zuzuhören und auf die Interessen und Auffassungen dieser Partner Rücksicht zu nehmen. Dennoch bleiben im Kern Ähnlichkeiten mit dem imperialen Modell: Die Hegemonialmacht gibt die Regeln weitgehend vor, und ihre eigene militärische Stärke ist der Garant der Regeldurchsetzung, auch wenn sie seltener und weniger sichtbar in Erscheinung tritt. Unter heutigen Bedingungen erscheinen die Chancen einer nachhaltig wirksamen Hegemonie auf den ersten Blick gegeben. Denn die Instrumente »weicher Macht«, die den USA zur Verfügung stehen, übertreffen die aller Vorgänger. Amerikas wirtschaftliche Dominanz hat nachgelassen, aber immer noch bringen die USA mit cirka 20 % des Weltbruttosozialprodukts mehr auf als jeder andere Nationalstaat (zwar hat die EU als ganze die Nase vorn, aber ihr mangelt es, anders als Washington, an der Fähigkeit, diese Ressourcen mit einem nationalen Willen zu füllen und für politische Ziele einzusetzen). Amerikanische Populär-Kultur penetriert die (jugendlichen) Gesellschaften der schärfsten ideologischen Gegner der USA, die diplomatische Präsenz Washingtons ist allumfassend, internationale Institutionen sind nach amerikanischen Modellen geformt, und amerikanische Staatsangehörige, Günstlinge oder Führungskräfte, die auf die Duldung der USA angewiesen sind, nehmen dort...