3 In Luthers Fußstapfen
Zum ersten Republikgeburtstag am 7. Oktober 1950 schreibt Johannes R. Becher: »Vor einem Jahr war ihr Geburtstag. Aber sie ist kein Schwächling und sie war keine Frühgeburt. Ihr Keim war im Mutterschoß der Geschichte seit langem herangereift. Ein kräftiges rotwangiges Kind ist sie, mit klaren Augen und starken, fleißigen, zupackenden Händen!«1 Nicht alle konnten diesem Wiegenfest, um im Bild zu bleiben, so viel Freude abgewinnen. Gerade für Pädagogen war die junge DDR ein Ort, an dem freiheitliche Erziehungsansätze, wie sie nach den dunklen Jahren der Nazizeit gerade erst wieder möglich geworden waren, nun erneut unterbunden wurden.
Auch Kreuzschüler Volker Zeppernick erinnert sich an eine Zeit, die geprägt ist von gezielter kommunistischer Unterwanderung: »Es begann die programmierte Sowjetisierung durch geschulte, linientreue Neulehrer, die ein möglicherweise christlich geprägtes Leitbild im Auftrag des Schulamtes auszulöschen hatten.«2 Dazu passt auch die Entlassung Dr. Hoffmanns aus dem Amt des Schulleiters. In zwei Sitzungen des Pädagogischen Rates, vergleichbar mit der heutigen Gesamtlehrerkonferenz, am 29. und 31. August wird er im Beisein von Stadt- und Kreisschulrat offiziell abgelöst. Fortan soll er, neben seiner Lehrtätigkeit, die Schulbibliothek betreuen.3 Hoffmann hat sich der Kreuzschule verschrieben und wird, trotz der offensichtlichen Degradierung, weiterhin dort tätig bleiben, ebenso wie an der kurzzeitig ausgegründeten Internatsschule des Kreuzchores.
Der erste Bericht an das Schulamt des Schuljahres 1950/51 stammt vom 30. September:
»In das Kollegium traten ein: OSDir Satlow von der Oberschule Reick, stellv. Schulleiter Weber (von der Lessingschule Bautzen). Im September war der Unterricht durch Lehrererkrankung erst in den letzten Tagen gestört, nur Herr Hartmann musste dem Unterricht wegen Sturz mit dem Rad vom 19.–27.9. fernbleiben.
Zur Eröffnung des Aufklärungslokals waren Vertreter der Nationalen Front, FDJ und die Presse zugegen. Ein Kollektiv der Lehrerschaft arbeitet im örtlichen Aufklärungslokal der Nationalen Front mit. Der Patenbetrieb der Schule hat sich bereit erklärt, für die Schule die höchst notwendige Trennung von Schulleiterzimmer und Kanzlei durchzuführen.«4
Nur zwei kurze Absätze läuten eine neue Ära ein. Der an die Kreuzschule berufene Paul Benjamin Satlow fungiert ab 1. September als neuer Direktor. Satlow, der aus einer angesehenen sächsischen Pfarrersfamilie stammt, gibt an, seine Ahnentafel ließe sich auf Luther zurückführen. Ein Reformator als neuer Mann der SED? Keineswegs. Satlow selbst ist, wie Mauersberger, Mitglied der CDU. Vielleicht auch um dieses Übergewicht auszugleichen, wird Satlow Schulrat Weber als Konrektor zur Seite gestellt. Der SED-Genosse soll den Direktor bei seinen Aufgaben unterstützen und, das wird schnell deutlich, auch die staatlichen Vorgaben umsetzen.
Neue Ausdrücke bereichern den Alltag der Kreuzschüler, aber auch ihrer Lehrer. Das im Monatsbericht erwähnte »Aufklärungslokal«, ein Ort für die politische Agitation insbesondere vor Wahlen, ist ihnen ebenso neu wie die Nationale Front, in der sich nun die Massenorganisationen der DDR vereinen. Und schließlich Stalin. Er scheint allgegenwärtig, wie sich auch Volker Zeppernick erinnert: »Auf dem mittleren Treppenpodest des Wettinums stand eine große Stalinbüste, wo Verneigungen durch die Politideologen sehr positiv bewertet wurden. Ihnen war die Ironie der Sachlage glücklicherweise überhaupt nicht deutlich.« Als jedoch ein Klassenkamerad Zeppernicks auf Knien die Treppe hochrutscht, reicht ein Direktionsverweis nicht aus. Er muss die Schule sofort verlassen. »In jedem Klassenzimmer hing ebenfalls ein großes Stalinbild, oft völlig unpassend im Goldrahmen. Wir hatten den Rahmen so präpariert, dass das Bild bei Erschütterungen herausfiel. Die uns nicht genehmen Lehrer testeten wir nun mit der Bemerkung, ›dass der Stalin doch immer aus dem Rahmen fallen muss‹.« Die Reaktionen erfreuen die Schüler über die Maßen: Von lockerem Darüberhinweggehen bis zum wütenden Ausbruch des Lehrers, was sie sich mit so einem Staatsmann und Führer einer neuen Zeit überhaupt erlauben würden, ist alles dabei. Linientreue äußern stets, dass ein solches Verhalten bei »diesen Elternhäusern« ja nicht weiter verwunderlich sei.
Darüber hinaus sieht sich Satlow wie schon Hoffmann über die Politik hinaus mit zahlreichen Alltagsproblemen konfrontiert. Schüler und Lehrer werden regelmäßig für Arbeitseinsätze zur Trümmerberäumung in Dresden angefordert, Klassenräume und Schulgebäude müssen immer noch instand gesetzt werden, erhalten ganz langsam eine bessere Ausstattung. Schwierig ist es auch, die zwei Standorte im Stadtzentrum und in der Eisenacher Straße gleichzeitig mit Lehrkräften zu bespielen, einige Lehrer müssen häufig »wandern«.5
Während der Chor in Blasewitz in einem für die Schüler fakultativen Religionsunterricht von Oberkirchenrat Michael von Brück betreut wird, ist dies den Kreuzschülern am Wettinum untersagt. Die Landeskirche hat großes Interesse am Erhalt der Einheit von Kreuzchor und Kreuzschülern, kann diesen Kurs aber keineswegs offen verfolgen. Von Brück ist das Dilemma nur zu deutlich. Aus der zweiten Reihe versucht er, so gut es eben geht, den Einfluss der Kirche zu erhalten. Satlow hingegen hat als Schulleiter politische Vorgaben umzusetzen, die nun als unumstößlich gelten, so etwa die strikte Trennung von Kirche und Staat. Private Andachten ohne Lehrer haben zu unterbleiben. Während man in der Außenstelle des Kreuzchores mit den Vorgaben eher locker umgeht, muss Satlow im Hauptgebäude am Wettiner Platz strenger handeln. Wiederholt kommen Schüler zu privaten Andachten am Unterrichtsende zusammen, so dass Satlow den initiierenden Schüler nach mehrmaliger Ermahnung mit einem Verweis bestrafen muss. Dies teilt er sowohl dem zuständigen Jugendpfarrer als auch den entsprechenden staatlichen Stellen mit, was ihm ein Lob des Stadtschulrates einbringt.6
Auch dem Chor wird das Leben zusehends schwergemacht. Im September soll es eigentlich auf Konzertreise nach Westdeutschland und in die Schweiz gehen. Heinrich Magirius notiert am 12. September in seinem Tagebuch: »Heute erfahren wir, dass die Westreise ausfällt wegen gespannter politischer Lage. Schweizreise ist noch möglich. Probe, Kantor ganz außer sich.« Und nur einen Tag später: »Aus der Schweizreise wird auch nichts, es war nur eine billige Tröstung. Wir wären zu westlich orientiert, sagt man. Wir sollten nur hier zur Wahl singen!«7 Es ist nicht nur die Enttäuschung eines jungen Sängers, die in diesen Worten anklingt. Für den Chor geht es um seine Existenz: Kirchliche Chormusik oder proletarisches Liedgut – wie soll es weitergehen?
Im Vergleich zu anderen Schulen ist die Mitgliedschaft der Schüler in der FDJ an der Kreuzschule verschwindend gering. Nach der glühenden Antrittsrede Satlows ist nicht viel vom angeblich neuen Wind übrig. Der Schulalltag ist weitgehend von neuer Bürokratie bestimmt, Satlow selbst tritt kaum in Erscheinung.
Der Kreuzkantor hingegen spürt mehr und mehr Gegenwind. Bis auf wenige Gottesdienste fällt alles »Geistliche« aus, notiert Heinrich Magirius Anfang Oktober in seinem Tagebuch. Kurz vor der Verleihung des Nationalpreises an Mauersberger gibt der Chor ein Konzert für die Nationale Front in Pillnitz. Heinrich schreibt: »Kantor ist ganz verzweifelt, denn die Routine ist ganz verschwunden.«8
Am 7. Oktober erhält Mauersberger in Berlin von Präsident Wilhelm Pieck den Deutschen Nationalpreis II. Klasse für Kunst und Literatur »in Anerkennung seiner hervorragenden Mitwirkung an der Entwicklung der deutschen Kultur«.9 Doch erschwerte Probenbedingungen, die eingeschränkten Auftrittsmöglichkeiten des Chores und nicht zuletzt die abgesagte Konzertreise belasten den inzwischen Einundsechzigjährigen. Ende Oktober 1950 verfasst er ein Memorandum, das Auswirkungen auf Chor und Schule haben wird. Darin heißt es: »Es möchte einem tragisch erscheinen, dass mit der höchsten Auszeichnung, die die DDR mir und damit auch dem Kreuzchor durch die Verleihung des Nationalpreises hat zukommen lassen, gleichzeitig von mir, da ich ehrlich bleiben will, der künstlerische Bankrott des Kreuzchores angemeldet werden muss.«
Das Ringen um den Erhalt von Chor und Schule beginnt sicher nicht erst zu diesem Zeitpunkt, aber in seinem Aufruf macht der Kreuzkantor deutlich, dass er nach Jahren der kriegsbedingten Entbehrungen so nicht weitermachen kann. Mit seiner Bankrotterklärung mögen sich manche Ideologen bereits am Ziel ihrer Träume, der Zerschlagung des letzten Restes christlich-bürgerlicher Kultur in Dresden, wähnen, doch der Nationalpreis schützt Mauersberger und die Institutionen schließlich auf wundersame Weise.
Im November darf der Chor doch noch auf Konzertreise in den Westen fahren. Es ist eine denkbar schlechte Jahreszeit, die mit nasskaltem Wetter auch immer wieder die Stimmen der Jungen bedroht. Doch viel schwerer wiegt das steigende Bewusstsein für die materiellen Unterschiede zwischen Ost und West. Heinrich Magirius erinnert sich: »Wir bekommen zwar noch kein Tagegeld, aber der ›im Westen‹ bereits sehr viel höhere Lebensstandard legt es nahe, in den Quartieren eindrücklich auf den Unterschied aufmerksam zu machen, was intern ›schnörbeln‹ genannt wird. Manche entwickeln großes Geschick dabei. Jeder muss, wenn es irgend geht, so viel...