In Kapitel 2.1 wurde bereits festgehalten, dass es sich bei einer Entscheidung um einen Prozess handelt, der von verschiedenen Variablen abhängig ist und sich auf ein Ereignis in der Zukunft bezieht. Nach Betsch et al. (2010) ist „die Wahl ein Teil dieses Prozesses, der sich auf den Akt der Selektion einer Option und der Bildung einer Intention zur Ausführung oder Aneignung dieser Option bezieht“ (Betsch, T./Funke, J. & Plessner, H., 2010: S. 75)[58].
Die nachfolgende Abbildung zeigt ein exemplarisches Rahmenmodell für den Prozess des Entscheidens, das die strukturelle Grundlage für die nachfolgenden Kapitel und deren Einteilung in die jeweiligen Entscheidungsphasen (präselektionale, selektionale und postselektionale Phase) darstellt. Entgegen der inhaltlichen Struktur dieses Kapitels ist die präselektionale Phase der selektionalen Phase vorgelagert.
Abb. 2: Rahmenmodell für den Prozess des Entscheidens
(Quelle: Betsch et al.: 2010: S. 75; Darstellung angepasst)
Wie in Abb. 2 gezeigt, lässt sich der Prozess des Entscheidens in einem Rahmenmodell definieren, das die verschiedenen „Teilprozesse des Entscheidens, die Gegenstand der Entscheidungsforschung sind“, veranschaulichend darstellt (Betsch, T./Funke, J. & Plessner, H., 2010: S. 75)[59].
Die selektionale Phase, die im Rahmen der Entscheidungsforschung lange Zeit als einzige Phase erforscht wurde, stellt den Kern des Entscheidungsprozesses dar. In dieser bewertet der Entscheidungsträger die mit verschiedenen Optionen einhergehenden Konsequenzen und trifft letztendlich eine Entscheidung. Dass sich die Wissenschaft lange Zeit ausschließlich mit der selektionalen Phase befasste, hatte nach Betsch et al. (2010) zwei Gründe, deren Ursprung zum einen in der Wert-Erwartungs-Theorie und zum anderen im sog. Lotterieparadigma liegt.
Im Rahmen der Wert-Erwartungs-Theorie wird nach Meulemann (2012) zwischen Handlungsalternativen und Handlungskonsequenzen differenziert. Diese Unterscheidung lässt sich am Beispiel des Aviation-Decision-Making veranschaulichen: Bei schlechten Witterungsverhältnissen ergeben sich für den Piloten zwei Handlungsalternativen, um das Flugzeug sicher zu landen: Entweder er führt den Landevorgang manuell durch oder er schaltet den Autopiloten ein. Beide Alternativen können für den Piloten und seine Besatzung mit folgenden Konsequenzen verbunden sein: einer reibungslosen Landung, dem Verlust der Kontrolle über das Flugzeug oder dem Eintreten anderer, zum Zeitpunkt der Entscheidung unbekannter Probleme. Der Entscheidungsträger schätzt für jede einzelne Konsequenz zweierlei ein: „den Saldo der guten und schlechten Seiten für ihn persönlich, d. h. den subjektiven Nettonutzen, und die Wahrscheinlichkeiten des Auftretens der Konsequenz unter der einen und der anderen Alternative“ (Meulemann, H., 2013: S. 90)[60]. Anschließend werden die Ergebnisse der Überlegungen in Bezug auf den Nutzen und die Wahrscheinlichkeit jeder Konsequenz summiert und zu einem Gesamtnutzen jeder einzelnen Handlungsalternative zusammengefasst. Nun kann sich der Pilot auf Basis verschieden bewerteter Handlungsalternativen für die mit dem höchsten Nutzen entscheiden.
In der Praxis würde dieses Modell jedoch nicht zum Einsatz kommen, da es zum einen die Fähigkeit der menschlichen Nutzenabwägung überschätzt und zum anderen, da die Informationsverarbeitung eine zu große Zeitspanne in Anspruch nehmen würde. In den o. a. Situationen mit begrenzten zeitlichen Ressourcen können nicht alle Handlungsalternativen einzeln bewertet werden. Dort greifen die Prozesse des Aviation-Decision-Making, auf die im vierten Kapitel dieser Ausarbeitung detailliert eingegangen wird. Zu guter Letzt überschätzt die Wert-Erwartungs-Theorie die Logik, nach der Entscheidungsträger handeln. Wie bereits in Kapitel 2.1 erwähnt, werden Entscheidungen vielfach nach dem Bauchgefühl des Entscheiders getroffen (Meulemann, H., 2013: S. 91)[61].
Während es sich bei der Wert-Erwartungs-Theorie um ein mathematisch geprägtes Modell handelt, ist das sog. Lotterieparadigma aus einer Untersuchungsmethode entstanden, die in der empirischen Entscheidungsforschung am häufigsten verwendet wird. Die Teilnehmer erhalten vollständige Informationen, also eine Übersicht über alle Optionen inklusive ihrer Werte und Wahrscheinlichkeiten, um anschließend zu einer fundierten Entscheidung kommen zu können. Dieser Vorgang beschreibt den Kern der selektionalen Phase des Entscheidungsprozesses. Die verschiedenen Varianten der zu Beginn dieses Kapitels beschriebenen Nutzentheorie setzen sich mit der Erklärung und Vorhersage der Ergebnisse von Bewertung und Entscheidung auseinander. Im Hinblick auf die Prinzipien rationalen Entscheidens, die aus der Axiomatisierung der Nutzentheorie hervorgegangen sind, zeigt die Forschung auch, dass Menschen oftmals gegen diese Prinzipien verstoßen (Betsch, T./Funke, J. & Plessner, H., 2010: S. 80)[62].
Eine Weiterentwicklung des deskriptiven Ansatzes liefert die von Kahneman und Tversky im Jahr 1979 veröffentlichte prospect theory, die sich in erster Linie mit der Bewertungsphase im Rahmen einer Entscheidung befasst. „Die Prospect Theory versucht, Verletzungen der Prinzipien rationalen Entscheidens zu erklären“ (Betsch, T./Funke, J. & Plessner, H., 2010: S. 80)[63]. Kahneman und Tversky zweifeln zwar die normative Gültigkeit der bisherigen Nutzentheorien nicht an, sie gehen aber davon aus, dass ein rationaler Entscheider nicht existiert. Die beiden Wissenschaftler konzentrierten ihre Forschungen auf Entscheidungssituationen, in denen die Axiome der gängigen Nutzentheorie systematisch verletzt wurden (Kahneman, D. & Tversky, A., 1992: S. 297)[64]. Je nachdem ob sich die Aufmerksamkeit des Entscheiders auf Gewinne oder Verluste konzentriert, wird unterschiedlich selektiv nach Informationen gesucht. Nach Fischer et al. (2008) scheint die Suche nach Informationen immer dann selektiver zu verlaufen, je höher die Aussicht auf Gewinn ist. Der Entscheider sucht in diesem Moment eher nach konsistenten Informationen als im Verlustfall. Demzufolge werden
Gewinnentscheidungen in der Regel mit einer höheren subjektiven Entscheidungssicherheit (Fischer, P./Frey, D./Jonas, E. & Kastenmüller, A., 2008: S. 273-300)[65]. Analog zur subjektiven Erwartungsnutzentheorie vermuten auch Kahneman und Tversky, dass der Mensch stets nach einer Nutzenmaximierung strebt.
Im Rahmen der prospect theory wird angenommen, dass der Nutzen aller verfügbaren Alternativen und die damit verbundene Wahrscheinlichkeit des Eintretens dezidierter Konsequenzen Entscheidungen prädisponieren. In komplexen Entscheidungssituationen führte dies zu der Erkenntnis, dass Menschen dazu neigen, eine Vereinfachung des Problems vorzunehmen, um abschließend die zur Verfügung stehenden Aussichten (die sog. prospects), die die unterschiedlichen Optionen bieten, leichter bewerten zu können (Kirchler, E., 2011: S. 84)[66].
Die prospect theory geht davon aus, dass der Prozess einer Entscheidung in zwei verschiedenen Phasen abläuft: der Editier- und der Evaluationsphase. Während der Editierphase wählt der Entscheider einen Referenzpunkt aus, um zu identifizieren, worauf sich ein Ereignis sowie eine Option und ihre Konsequenzen beziehen könnten. Kahneman und Tversky (1992) stellten im Rahmen ihrer Forschungen fest, dass viele Menschen dazu neigen, „manchmal voneinander unabhängige Ereignisse als miteinander verbunden wahrzunehmen.“ Im Gegensatz dazu werden Ergebnisse voneinander getrennt wahrgenommen, wenn die daraus resultierenden Konsequenzen als vorhersehbar und riskant gelten. Je komplexer sich der Sachverhalt präsentiert, umso stärker wird dieser vereinfacht und ähnlichen Ereignissen wird eine besondere Gewichtung zuteil. In der Evaluationsphase überlegt der Entscheider, ob die Konsequenzen, die aus einer Option resultieren, in Relation zum vorgenannten Referenzpunkt einen Gewinn oder einen Verlust darstellen. Entscheidungsträger schätzen den subjektiven Wert
eines Gewinns geringer ein als einen objektiv gleich großen Verlust. Kühberger (1994) attestiert der Nutzentheorie und ihren deskriptiven Varianten, zu denen auch die prospect theory gehört, einen eingeschränkten Geltungsbereich. Dies hängt mit der Voraussetzung zusammen, dass stets vollständige Informationen vorliegen und alle Optionen und Konsequenzen bekannt sein müssen, um zu einer Entscheidung kommen zu können (Kühberger, A., 1994: S. 3 ff.)[67].
Die präselektionale Phase zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr der Prozess des Entscheidens erstmals angestoßen wird. Der Entscheidungsträger generiert Optionen und eruiert die für seine Entscheidung relevanten Informationen sowohl im eigenen...