Wohin man schaut: Wohlfühl-Pädagogik!
Gemeinsames Merkmal progressiver Pädagogik scheint ihre Abräumlaune zu sein. Beispiele gefällig? Gymnasium? Elitär, weg damit! Hauptschule? Restschule, weg damit! Förderschule? Diskriminierend, weg damit! Berufliche Bildung »qualified in Germany«? Gibt’s doch sonst auf der Welt nicht, weg damit! Literaturkanon? Bürgerlich, weg damit! Noten und Zeugnisse? Beleidigend, weg damit! Sitzenbleiben? Zeitverschwendung, weg damit! Hausaufgaben? Stressig, weg damit! Frontalunterricht? Mittelalterlich, weg damit! Auswendiglernen? Überflüssig in Zeiten von Google und Wikipedia, weg damit! Anstrengung? Spaßbremse, weg damit! Rechtschreibung? Herrschaftsinstrument, weg damit!
Ein Wort von Karl Jaspers aus dem Jahr 1931 über die geistige Situation der Zeit liegt hier so nahe, als sei es heute erst geschrieben worden: »Symptom der Unruhe unserer Zeit um die Erziehung ist die Intensität pädagogischen Bemühens ohne Einheit einer Idee, die unabsehbare jährliche Literatur, die Steigerung didaktischer Kunst … Es werden Versuche gemacht und kurzatmig Inhalte, Ziele, Methoden gewechselt. Ein Zeitalter, das sich selbst nicht vertraut, kümmert sich um Erziehung, als ob hier aus dem Nichts wieder etwas werden könnte.«[13]
Wahrscheinlich berühren sich mit ihrer Abräumlaune sogar die Erbfeinde Kapitalismus und Sozialismus. Gemeinsam ist ihnen die Strategie der »schöpferischen Zerstörung«. Im Falle des Kapitalismus geht es um die Zerstörung von alten und die Schaffung von neuen Strukturen, die Marktanteile erobern und mehr Profit abwerfen lassen; im Sozialismus geht es um die Zerstörung von bürgerlichen Strukturen, insbesondere der Familie als Hort des Widerstandes gegen kollektivistische, staatliche Übergriffe.
Und alle mischen dabei mit: eine Kohorte von ständig wechselnden Ministern, Hunderte von »Bildungsforschern«, diverse Stiftungen und Wirtschaftsorganisationen, Journalisten, Interessensvertretungen von Eltern, Schülern und Lehrern, der berühmte Mann und die berühmte Frau von der Straße. Jeder kennt sich aus, weil er selbst einmal in der Schule war oder zumindest jemanden kennt, der … Oder aber man hat mit den eigenen Kindern gewisse Erfahrungen mit der Schule und ihren Lehrern gemacht. Und so meint man zu wissen, was denn in der Schule so alles schiefläuft und was anders oder gar besser laufen sollte. Kommen dann noch die Meinungen von diversen »Experten« hinzu, ist man schnell bereit, die Schule alles über Bord werfen zu lassen, was Schule eigentlich ausmacht. Um das Gesamtergebnis vorwegzunehmen: Wenn man all das abgeschafft hat, was Schule bislang ausmachte, dann kann man Schule gleich ganz abschaffen. Die öffentliche Hand könnte sich damit viel Geld sparen, sie könnte die Steuerbelastung für jeden Bürger senken, es gäbe weniger Ärger in den Familien. Aber: Es gäbe dann niemanden mehr, der eines Tages mit qualifizierter Arbeit die Sozialsysteme garantierte, und es gäbe keine Einrichtung mehr, die den Eltern die Kinder wenigstens halbtags vom Leib hält. Trotzdem wird so ziemlich alles munter in Frage gestellt.
Schluss mit Leistung und Elite?
Die um sich greifende Wohlfühl-, Gute-Laune-, Spaß- und Gefälligkeitspädagogik schadet unseren Kindern. Je niedriger die Hürden in der Schule, desto schwerer fällt es den jungen Leuten, die Hürden im späteren Leben zu überwinden. Statt den Kindern wieder mehr zuzutrauen und auch mehr zuzumuten, greift in Deutschland indes seit einigen Jahrzehnten eine Erleichterungspädagogik um sich.[14] Begründet wird dies mit der Behauptung, dass Deutschlands Schüler doch sehr unter schulischer Belastung leiden würden. Das stimmt aber nicht, wenn man sich allein die Tatsache anschaut, dass viele Heranwachsende mehr Zeit vor irgendeinem Bildschirm als beim Lernen verbringen. Und es stimmt auch im internationalen Vergleich nicht: Unter den 11- bis 15-Jährigen fühlen sich in Deutschland 24 Prozent gestresst, in den USA 40 und in Finnland (!) 44 Prozent.[15]
Progressive Pädagogen und Bildungspolitiker tun trotzdem so, als müsste Bildung und Lernen in Deutschland mit noch weniger Anstrengung gehen. Dass diese pseudopädagogische Erleichterungsattitüde falsch ist, wussten Generationen von Eltern und Lehrern seit der Antike. Einer der großen Schriftsteller der Weltliteratur und gewiss einer der größten Analytiker menschlicher Psyche, Fjodor Michailowitsch Dostojewskij, schrieb dazu: »Es ist bedauerlich, dass man den Kindern heute alles erleichtern will … Die ganze Pädagogik kennt jetzt nur noch die Sorge um die Erleichterung. Erleichterung ist aber keineswegs eine Förderung der Entwicklung, sondern im Gegenteil ein Verleiten zu Oberflächlichkeit.«
Moderne Pädagogik tut genau dies: Sie erzieht zur Oberflächlichkeit. Wenn etwas schwierig erscheint, dann denkt Pädagogik nicht darüber nach, wie man den Kindern das Schwierige erfolgversprechend beibringen könnte. Stattdessen schafft man schwierige Inhalte ab. Selbst ein Sigmund Freud, der bekanntermaßen vieles auf das Luststreben des Menschen zurückführte, war überzeugt: Leistung und Erfolg, ja das Erleben von Glück, setzen Bedürfnis- und Triebaufschub voraus. Trotzdem wurden Leistung und Anstrengung vor allem von einer 68er-geprägten Pädagogik zu Missgunst-Vokabeln. Wer aber das Leistungsprinzip bereits in der Schule untergräbt, setzt eines der revolutionärsten demokratischen Prinzipien außer Kraft. In unfreien Gesellschaften sind Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung, Geschlecht Kriterien zur Positionierung eines Menschen in der Gesellschaft. Freie Gesellschaften haben an deren Stelle das Kriterium Leistung vor Erfolg und Aufstieg gesetzt. Das ist die große Chance zur Emanzipation für jeden Einzelnen. Ganz zu schweigen davon, dass der Sozialstaat nur dann funktioniert, wenn er von der Leistung von Millionen von Menschen getragen wird. Jeder soll seines Glückes Schmied sein können. Mit Ellenbogengesellschaft hat das nichts zu tun. Vielmehr ist auch der Sozialstaat zugunsten Benachteiligter, Kranker und Alter nur realisierbar mit der millionenfachen Leistung und Anstrengung der Leistungsfähigen. Auch Sozialstaatlichkeit ist nur mit dem Leistungsprinzip machbar. Deshalb kann das Sozialprinzip auch nicht über das Leistungsprinzip gestellt werden. Auch im internationalen, im globalen Wettbewerb geht es nicht ohne Leistung. Wir sollten froh sein, wenn wir leistungshungrige Spitzenschüler für zukünftige Eliten haben.
Schluss mit dem gegliederten Schulwesen?
Die Gesamtschule hat in Deutschland Jahrzehnte durchschlagender Erfolglosigkeit hinter sich.[16] Deshalb gibt es keinen Grund, sie im Gewande der Gemeinschaftsschule neu aufzulegen. Seit den 1970/80er Jahren hat diese Schulform in allen Studien schlecht abgeschnitten. Besonders eindrucksvoll ist die Studie »Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter« (BIJU) des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB). Für NRW etwa wird als Hauptergebnis festgehalten: Am Ende der 10. Klasse liegen Gesamtschüler in Mathematik im Vergleich mit Realschülern um zwei, im Vergleich mit Gymnasiasten um mehr als zwei Jahre zurück – und dies trotz einer Schülerklientel, die sich von der Schülerklientel der Realschule weder hinsichtlich sozialer Herkunft noch hinsichtlich intellektueller Fähigkeiten unterscheidet. Zugleich sind es die Länder Bayern und Sachsen, die bei Pisa eben ohne Gesamtschulen ganz nahe an die internationalen Spitzenwerte herankommen. Im internationalen Vergleich möge man außerdem beachten, dass ein Einheitsschulsystem etwa im angloamerikanischen Bereich, in Frankreich oder in Japan sozial in hohem Maße selektiv ist. Dort bekommt für seine Kinder nur der eine anspruchsvolle Bildung, der dafür jährlich umgerechnet 30 000 Euro für den Besuch einer privaten Schule aufbringen kann. Es ist auch keineswegs jede öffentlich hochgejubelte oder gar preisgekrönte Gesamtschule die »beste Schule Deutschlands«. Allein die Tatsache, dass es eine Inflation an Schulpreisen gibt, an denen sich in der Regel jeweils kaum mehr als hundert der 42 000 Schulen in Deutschland beteiligen, macht das deutlich.
Schluss mit »Frontalunterricht«?
Seit bald schon einem halben Jahrhundert kursiert die Kampfvokabel vom »Frontalunterricht«, den es endlich abzuschaffen gelte. Es mag ja Lehrer gegeben haben oder vereinzelt auch noch geben, die in die Klasse kamen und die pro forma ein Buch aufschlagen ließen, um die Schüler dann mit Monologen zuzuschütten. Aber diese Art von Unterricht ist vorbei. Längst öffnete sich der Unterricht, er wurde anschaulicher, er wurde nach und nach diskursiv, Schüler wurden zu aktiven Mitgestaltern, die Lehrer nahmen sich zurück. Von Frontalunterricht im Sinne der polemischen Nutzung dieses Begriffs kann schon lange nicht mehr die Rede sein.
Dann kam die Wende, und das Kind wurde mit dem Bade ausgeschüttet. »Neue Formen« des Lernens wurden angesagt. Der Lehrer sollte zum Edutainer und Animateur werden. Er sollte nur noch dafür da sein, die Lern-»Stationen« oder das Arbeitsmaterial vorzugeben: als »Moderator«, als Lern- und Projekt-»Manager«, als »Lernprozessorganisator«. Die Schüler sollten die Stationen und das Material auswählen, und sie sollten entscheiden, in welcher Sozialform (Einzel-, Partner-, Gruppenarbeit) sie arbeiten...