Bevor wir zu den individuellen Lern- und Lebenserfahrungen der Pferde kommen, möchte ich einen Überblick über die Natur des Pferdes und die Methoden der Verhaltensbiologen geben. Pferde verhalten sich auch heute noch im Großen und Ganzen so, wie es ihre Vorfahren schon immer getan haben und wie es sich in der Natur als sinnvoll erwiesen hat. Daran konnte auch die Domestikation durch den Menschen nichts ändern. Die Ethologie als die Lehre vom Verhalten kann helfen, die Bedürfnisse des Pferdes besser zu verstehen und an seiner Erlebniswelt teilzuhaben. Dazu müssen wir sowohl unsere Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Pferd als auch sein naturgegebenes Potenzial bedenken: Jedes Pferd ist als ein einzigartiges Individuum ein Produkt sowohl seiner genetischen Ausstattung als auch seiner Umwelt. Ein gewisser Anteil des Pferdeverhaltens ist angeboren, ein anderer durch Lebenserfahrung erworben. Dieses Konstrukt wird in der Verhaltensforschung unter dem Begriff „nature und nurture“ (in etwa mit „Natur und Erfahrung“ zu übersetzen) zusammengefasst, um deutlich zu machen, dass beide Bereiche die Persönlichkeit des Pferdes entscheidend beeinflussen.
Was ist eigentlich Verhalten?
Zunächst erscheint diese Frage banal – doch „Verhalten„ ist ein zentraler und letztlich schwer zu erfassender Begriff mit vielen Deutungsebenen. Ein grasendes Pferd zeigt ein ebenso vielschichtiges Verhaltensmuster wie ein galoppierendes, spielendes oder piaffierendes Tier. Immer setzen sich die Tätigkeiten aus einem Zusammenspiel verschiedener Mechanismen zusammen, und zur Beurteilung des Verhaltens müssen möglichst alle zu beobachtenden körperlichen Aktivitäten betrachtet werden. Je nach Komplexität der Verhaltensweise ergibt sich eine unglaubliche Vielzahl an körperlichen Merkmalen und Veränderungen. Versuchen Sie es einmal am Beispiel Schritt: Wie bewegen sich ganz genau die einzelnen Gliedmaßen? Was macht der Rest des Körpers? Haben Sie wirklich jeden Körperteil bedacht, sämtliche Muskeln und die Hautoberfläche? Welche Atemfrequenz ist zu beobachten? Wie ist der Augenausdruck? Daneben können wir auch noch das vermutliche Ziel der Handlungen des Pferdes beschreiben. Wohin geht es? Was drückt sein Gesicht aus? Hier kommen interpretierende Elemente ins Spiel. Doch gerade die Frage nach dem Warum ist eine der zentralen Fragen in der Verhaltensforschung, und sie lässt sich auf ganz verschiedenen Ebenen beantworten.
Wenn wir Pferde auf der Weide beobachten, können wir die Vielfalt ihrer Verhaltensmöglichkeiten kennen lernen – wir müssen nur genau hinschauen.
Tinbergens Fragen nach dem Warum
Nikolaas Tinbergen gilt als einer der wichtigsten Verhaltensforscher des 20. Jahrhunderts und wurde 1973 zusammen mit Konrad Lorenz und Karl von Frisch mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Tinbergen entwickelte die maßgebliche Theorie der modernen Verhaltensbiologie, die unter der Bezeichnung „Tinbergens Fragen„ bekannt wurde und bei der es um die Fragen nach der Verursachung, der Funktion, der individuellen Entwicklung sowie der stammesgeschichtlichen Entwicklung eines bestimmten Verhaltens geht. Gemäß dieser elementaren Theorie gibt es für jede Frage, die wir an das Verhalten eines Pferdes stellen, vier grundsätzlich gleichwertige Antwortebenen.
Nehmen wir als Beispiel ein schreckhaftes Pferd und beantworten Tinbergens Fragen:
• Die Frage nach der Verursachung: Zunächst kann man diese Frage auf der Ebene der direkten, aktuellen Ursache beantworten. Ein Pferd erschreckt sich, weil es über sensible Sinnesorgane verfügt, die sehr schnell Nervenimpulse zum Gehirn schicken können und zu einer direkten Reaktion führen.
• Die Frage nach der Funktion: Das Erschrecken bringt unserem Pferd aktuell einen Überlebensvorteil. Es ist in der Lage, auf mögliche Gefahren sofort zu reagieren und durch Flucht das eigene Leben zu schützen. Das Erschrecken erfüllt somit eine überlebenswichtige Funktion in der ursprünglichen Umwelt des Pferdes.
• Die Frage nach der individuellen Entwicklung: Jedes Pferd hat die wichtige Fähigkeit des Erschreckens in seiner individuellen Entwicklungsgeschichte, also seiner Lebensgeschichte, bei der Mutter und anderen Herdenmitgliedern beobachtet und diese Verhaltensweise im sehr individuellen Umfang ausgeprägt.
• Die Frage nach der stammesgeschichtlichen Entwicklung: Darüber hinaus hat sich in der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Pferde das Erschrecken als elementare Verhaltensweise herausgestellt. In Millionen von Jahren haben sich die Vorfahren unserer heutigen Pferde durch dieses Verhaltensmuster erfolgreich gegen gefährliche Raubtiere behauptet. Unsere heutigen Pferde sind also die direkten Nachkommen von äußerst schreckhaften Vierbeinern, die aufgrund genau dieser Verhaltensstruktur ihren Fortbestand sichern konnten. Das sollten wir immer im Hinterkopf behalten, wenn wir uns über das übertriebene Scheuen unserer Pferde ärgern oder lustig machen.
Instinkte bei Pferden?
Wörtlich übersetzen kann man den Begriff „Instinkt„ mit „Naturtrieb“. Ein Instinkt bezeichnet die inneren, unbekannten Antriebe des vom Beobachter wahrnehmbaren Verhaltens eines Tieres. Umgangssprachlich bezeichnen wir ein Verhalten als „instinktiv“, wenn wir spontan aus dem Bauch heraus, ohne bewusste Überlegungen, gehandelt haben. Viele Jahre gingen die Verhaltensforscher von der sogenannten Instinkttheorie aus: Eine Instinktbewegung sollte das Ergebnis einer spontan ansteigenden inneren Handlungsbereitschaft eines Tieres sein, die durch einen Schlüsselreiz ausgelöst wird, wenn sie eine spezifische Reizschwelle überwunden hat. Im weitesten Sinne versteht man unter Instinktverhalten das angeborene, pferdetypische Verhalten eines Pferdes. Nach heutigem Wissensstand gilt diese Sichtweise als überholt, da diese einfachen Grundannahmen den neuen neurobiologischen Erklärungsmodellen nicht mehr standhalten können. Ein Pferd handelt also wesentlich komplexer und kann nicht als „Instinktmaschine“, sondern muss als eine Persönlichkeit angesehen werden. Die Annahme, dass Pferde stets nach einem simplen Reiz-Reaktion-Prinzip handeln, vernachlässigt die Tatsache, dass sich jedes Verhalten aus dem Zusammenspiel von emotionalen Zuständen, individuellen Vorerfahrungen, bewussten Denkprozessen und der jeweiligen sehr spezifischen Situation zusammensetzt.
Pferde sind keine „Instinktmaschinen“ – ihren Handlungen liegt ein komplexes Zusammenspiel aus Emotionen, Erfahrungen und Denkprozessen zugrunde.
Ethologie und Psychologie Hand in Hand
Für die klassischen Pferdeforscher war bis in die 1960er-Jahre hinein nur der „nature“-Aspekt aus dem oben erläuterten Verhaltensforschungsbegriff „nature und nurture“ von Bedeutung. Daher beschäftigten sie sich hauptsächlich mit den Pferden in ihrer natürlichen Umwelt und begründeten ihre Aussagen vornehmlich anhand der Evolutionsgeschichte. Erst durch den Einbezug des innovativen Ansatzes der Psychologie, die sich mehr mit der Entwicklung individuellen Verhaltens und den Lernprozessen beschäftigte, also den „nurture“-Aspekt in den Fokus rückte, kam eine neue Dynamik in die Ethologie des Pferdes.
In der modernen Verhaltensbiologie sind diese beiden Erklärungsmodelle mittlerweile untrennbar miteinander verbunden, um das Verhaltensrepertoire des Pferdes in seiner Ganzheit erfassen zu können. Jedes höhere Lebewesen entwickelt seine Persönlichkeit aus der Summe angeborener und erlernter Anteile, wobei diese Komponenten sich permanent gegenseitig beeinflussen. So ist zum Beispiel auf das angeborene Verhalten des Fohlens eine bestimmte Verhaltensantwort der Mutter abgestimmt, aus dem wiederum das Fohlen etwas lernt und sein zukünftiges Verhalten danach ausrichtet. Moderne Equidenforscher sprechen daher von dem Modell „nature via nurture“ („Die Natur mithilfe der Umwelt“). Es gibt Erbanlagen, die erst nach geeigneten Erfahrungen in Aktion treten. So ist uns Menschen und auch den Pferden die Fähigkeit zum Sehen mit der Anlage von Augen und dem dazu gehörigen Nervensystem angeboren. Fehlen jedoch die Außenreize, also würden wir beispielsweise in völliger Dunkelheit aufwachsen, würde sich die Sehfähigkeit nicht entwickeln. Wir würden funktionell blind bleiben, obwohl wir alle körperlichen Voraussetzungen für das Sehen mitbekommen haben.
Die moderne Equidenforschung untersucht die Interaktion der angeborenen und erlernten Verhaltensweisen. Dazu müssen möglichst viele, vergleichbare Daten zur statistischen Auswertung ermittelt werden. Die Einzelbeobachtung eines Pferdebesitzers kann, so interessant und ungewöhnlich sie auch sein mag, keine allgemeine Aussage über das Pferdeverhalten liefern. In der heutigen Ethologie...