2. Der gute Lehrer als Person
2.1 Er ist ein authentischer Mensch
Ein guter Lehrer tritt anderen als Person unbedingt authentisch gegenüber, und zwar in zweierlei Hinsicht: Er spielt vor den Schülern keine Rolle, die fremdgestaltet und nicht durch ihn selbst, d.h. seinen Charakter, seine Persönlichkeit, ausgefüllt wird. Äußere Regeln sind nicht die Maßstäbe seines Auftretens und seiner Autorität, im Gegenteil: Diese verschleiern seine Persönlichkeit, weil sie die kleinkarierten Seiten der Schulerziehung („man darf nicht trinken im Unterricht“) in den Vordergrund stellen. Als guter Lehrer findet er ein eigenes Maß im Umgang mit den Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen der Schule; er modelliert sie und passt sie seinen individuellen Lebensauffassungen an. Wenn er zum Beispiel ein eher lockerer Typ ist, dann darf er getrost über das Trinkverbot im Unterricht hinwegsehen. Dieses ist ja auch völlig sinnlos; nur zwei Prozent Dehydrierung führen dazu, dass ein Schüler dem Unterricht nicht mehr folgen kann.
2.2 Er ist ein Meister der Interaktion und neugierig auf Andere
Der gute Lehrer ist also ein Meister der Interpretation von Regeln in der Interaktion; mit dieser führt er seine Klassen. Wenn er Autorität haben will, sollte er in jeder Unterrichts-und Begegnungssituation ein Original bleiben. Dann hat er begriffen, dass ein Regelwerk des Miteinanders zwar notwendig sein kann, damit es äußere Orientierung für alle gibt. Doch eigentlich könnte er diese äußere Orientierung durch seine Person geben, seinen Humor, seinen Sarkasmus, seine Liebe zum Fach, zum Unterrichten, zur Begegnung mit den Schülern, seinen unverwechselbaren Stil, den Lernprozess zu gestalten. Ein guter Lehrer ist sich bewusst, dass er nicht mit Schülern in deren Rolle, die die Schule, die Gesellschaft oder Lehrer ihnen zuweisen, redet, wenn er vor eine Klasse tritt. Er redet mit Menschen, mit denen er gemeinsam über einen Sachverhalt nachdenken möchte und deren Erfahrungen, Stärken und Schwächen ihn dabei inspirieren. Er denkt nicht, dass es zu viel verlangt wäre, die Meinungen, Sichtweisen und Erfahrungen von Vierzehn-oder sogar Siebzehnjährigen ernst zu nehmen.
2.3 Er fragt immer weiter und gibt sich mit einfachen Antworten nicht zufrieden
Im Gegenteil nimmt er sie dadurch ernst, dass er seine Schüler an den Punkt bringt, mit ihm gemeinsam über Interpretationen, Geschichten, Theorien oder politische Konstellationen und Darlegungen zu streiten und einzusehen, dass der eigene Horizont immer noch erweiterbar sein kann und dass es keine letztgültigen Wahrheiten gibt, auch nicht Verhaltensregeln, die er zwar aussprechen, den entscheidenden Vorgang ihrer Internalisierung in den je eigenen Habitus aber nicht steuern kann. Der gute Lehrer hält es aus, dass dann am Ende keine Ergebnisse oder Lernziele erreicht sein müssen, sondern dass der Wert im Lernvorgang selbst begründet ist. Es wäre vollkommen absurd, auf das Problem der Frage nach einer angemessenen Form des Erinnerns an den Holocaust (Comedy, Romane z.B. der Vorleser, Denkmäler, z.B. das Holocaust-Mahnmal, Wissenschaft) eine einzige Antwort geben zu können. Lachen kann befreien von der Last der Geschichte, sodass man einen Einblick in die Psychopathologie eines kranken Systems, sozusagen in die Seele der Nazis, gewinnen kann. Lachen könnte aber auch das Leiden der Opfer und die Erwartungen der Angehörigen verhöhnen. Der Roman könnte eine einzige Entschuldigungsmetapher für die Verwandlung einer analphabetischen Straßenbahnschaffnerin in das Funktionieren einer KZ-Wärterin sein; das Funktionieren wird somit biographisch zu verstehen versucht. Wird es dadurch auch schon entschuldigt? Oder es zeigt eine Frau, die in ihrem Leben alle Menschen um sie herum emotional, sexuell und gesellschaftlich ausgenutzt und damit eine Disposition für den erwartbaren Typus eines Tätercharakters hat? Das Mahnmal anonymisiert die Seelen der Ermordeten in Betonsteinen. Gleichzeitig bietet es den Besuchern die simulierende Möglichkeit, ihre eigene Einbindung in das verbrecherische System sinnlich nachvollziehbar zu erfahren. Welche dieser Geschichten über das Erinnern bringt am meisten Erkenntnis über das Verhalten der Menschen in dieser Zeit? Und wovon hängt „Erkenntnis“ ab? Narrative Sinnhorizonte besitzen keine Wahrheit; sie sind eine mögliche Perspektive auf die Fragestellung. Ein guter Lehrer hält das aus; er sucht mit seinen Schülern nach Wahrheit und maßt sich nicht an, diese zu besitzen und weiter zu geben. Ein guter Lehrer brennt für die Erkenntnismöglichkeiten, die dieser Suchprozess ihm und seinen Schülern bietet. Zum Beispiel erfordert das Verständnis des Wortes „angemessen“ eine eigene Debatte darüber, von welchem Horizont aus es sich ableiten soll – soll man es ethisch, politisch oder von gesellschaftlichen Gedenkkonventionen aus betrachten? Dadurch macht der gute Lehrer die Relativität des Wissens für seine Schüler erleb- und erfahrbar. Er stellt jede scheinbare Erkenntnis, jedes angebliche Wissen sofort wieder zur Disposition; er moderiert Denkmöglichkeiten und lässt diese verhandeln. Solche Metakognitionen („war unser Denken hilfreich, differenziert, erkenntnisoffen, oder methodenabhängig, vorbelastet, intentional konstruiert?“), in denen man sich während des Suchprozesses permanent fragt, ob das eigene Denken selbst monoperspektivisch verzerrt oder sogar lediglich eine Illusion über Wissen im eigentlichen Sinn ist, bieten den Schülern eine essentielle Bildungserfahrung: Es gibt nämlich kein absolutes Wissen. Wissen ist immer eine Sinnkonstruktion über die Bedeutung von Informationen. Nur absolute Information kann es geben. Diese Erfahrungen sind es, die den Suchprozess für Schüler in einen Bildungsprozess verwandeln; es sind die Erfahrungen dazu, wie unterschiedlich man eine offene fachliche Frage denken kann. Ein guter Lehrer macht den fachlichen Reflexionsprozess also zu einem Erfahrungsfeld für seine Schüler, dadurch, dass er eben nicht Wissen vermittelt, sondern Denkstile verhandelt. Als Moderator von Denkstilen sollte er ein Meister im Denken sein und Freude daran haben, wie Schüler unterschiedlichste Theorien über ein Geschehen entwickeln. Ein guter Lehrer ist ein Philosoph, also ein „Freund der Weisheit“, die aus der Vielfalt des Denkens emergiert. Ein guter Lehrer weiß, wie problemorientierte, dialektische, logische oder hermeneutische Denkprozesse ablaufen und sich manifestieren. Er versteht es, mit unterschiedlichen Denkarten und –stilen zu spielen; er ist versiert darin, deren jeweilige Stärken und Schwächen zu erkennen oder sie so einzusetzen, dass einander widersprechende Erkenntnisse entstehen und als Problem im Raum stehen, über dessen Entstehung wiederum reflektiert werden kann. Als Meister im Denken ist er in der Lage, die Angemessenheit der Denkstile für die Problemfrage zu erkennen und zu bewerten. Es ist z.B. etwas Anderes, ob ich das Handeln eines Zeitzeugen bzw. seine sprachliche Vergangenheitskonstruktion verstehen will, oder ob ich ihr eine andere Darstellung kontrastiere, um durch diese Polarisation der Frage nach dem eigentlichen Ereignis nachzugehen.
2.4 Er kann mit Rollen jonglieren
Der Authentizität seines Auftretens steht es nicht entgegen, dass ein guter Lehrer in unterschiedlichste Rollen schlüpfen und deren Duktus dadurch auch konterkarieren kann: Er kann z.B. den autoritären Typ spielen, um die Sinnlosigkeit von Regeln offen zu legen, oder er mimt den autoritativen, etwas gechillten Typ, um klarzumachen, dass Coolness zu keiner Erkenntnis führt, sondern nur harte Disziplin im Arbeiten und Denken. Ein guter Lehrer ist nämlich sehr diszipliniert, was den Denkprozess angeht. Diszipliniert bedeutet dabei etwas Anderes als strukturiert sein; diszipliniert sein bedeutet, immer weiter zu denken, zum Kern der Sache hervorstoßen zu wollen, das unbedingte Problem der nie erreichbaren Wahrheit als Sinn einer Erkenntnissuche deutlich zu machen. Ein guter Lehrer lebt diese Kreisbewegungen des Erkenntnisprozesses, auch wenn er weiß, dass das erkenntnistheoretisch nicht haltbar ist. Disziplin zu bewahren, während man durch das Spielen mit den Lehrerrollen Schüler in die Ebene der Kritik am schulischen Lernen katapultiert, erfordert eine unbedingte Autonomie gegenüber den Niederrungen des Systems. Darum ist ein guter Lehrer auch unabhängig, im Denken und im Lehren und in seinen Bildungsvorstellungen. Ja, mein Gott, er muss halt den Lehrplan „durchziehen“. Aber das kann er ja so oder anders machen; wichtig ist, dass er einen eigenständigen Begriff von Bildung und von Lernen hat, den er in seinem Unterricht lebt. Nur auf diese Weise ist seine Authentizität auch resonanzfähig, und er läuft keine Gefahr, ein Funktionär zu werden. Das ist in der heutigen Zeit der Verabsolutierung von Methoden fast schon revolutionär. Ich wette, 60-80 Prozent der Lehrer haben keinen Begriff von dem Begriff Bildung, sondern vermitteln Wissen, was ja eigentlich gar nicht möglich ist (s.o.), da es ja nicht vermittelt werden kann, sondern generiert werden muss. Um den Lernprozess als einen...