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Wild

oder Der letzte Trip auf Erden

AutorReinhold Messner
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl312 Seiten
ISBN9783104905136
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Die berühmte Shackleton-Expedition in die Antarktis - erzählt wie nie zuvor: Im Jahr 1914 bricht der englische Abenteurer Frank Wild zusammen mit dem bedeutenden Polforscher Ernest Shackleton und 26 Männern zum »letzten Trip auf Erden« auf - sie wollen die Antarktis durchqueren. Ihr Schiff, die Endurance, aber wird vom Packeis zerstört, drei Monate driften sie auf einer Eisscholle nordwärts und retten sich schließlich auf eine Insel, auf der sie nie jemand finden würde. Während Shackleton aufbricht, um Hilfe zu holen, bleiben 22 Männer unter der Führung von Frank Wild zurück, in dauernder Dunkelheit und eisiger Kälte. Allein durch seine Persönlichkeit erhält Wild in seinen Männern das Vertrauen auf Rettung aufrecht - einen ganzen antarktischen Winter lang, dem schlimmsten Gefängnis der Welt. Es ist die wahre Geschichte über die Wildnis und das, was uns darin überleben lässt.

Reinhold Messner, geboren 1944, ist der berühmteste Bergsteiger und Abenteurer unserer Zeit. Als Kletterer, Höhenbergsteiger, Grenzgänger und ?Philosoph in Aktion? hat er immer wieder neue Maßstäbe gesetzt. Messner bestieg als erster Mensch alle vierzehn Achttausender, darunter erstmals den Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff und allein (?Everest Solo?). 1989/90 gelang ihm zusammen mit Arved Fuchs die Durchquerung der Antarktis zu Fuß. Heute kämpft Reinhold Messner als Autor und Filmemacher für einen ökologisch nachhaltigen Umgang mit der Natur, bewirtschaftet Bergbauernhöfe und gestaltet sein Bergmuseum, das Messner Mountain Museum, mit seinen sechs Standorten.

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Leseprobe

Discovery


»Wild«, stellt sich der kleingewachsene Mann – wenig Haare, marineblaue Augen – einem großgewachsenen Mann vor, der allein an der Reling der Discovery steht. Dieser sieht ihn fragend an.

»Frank Wild.«

»Ernest Shackleton«, sagt der andere mit irischem Akzent.

»Wie kommen Sie zu dieser Antarktisexpedition?«, fragt der Ire.

»Als Freiwilliger.«

»Und vorher?«

»Handelsmarine. Vor einem Jahr habe ich bei der Royal Navy angeheuert.«

»Und haben sich gleich für die British-National-Arctic-Expedition auf der Discovery beworben?«

»Ja, und bin angenommen worden, ausgewählt unter dreitausend Anwärtern.«

»Viertausend, sagt man«, weiß Shackleton.

»Ich wollte mich gar nicht bewerben, ein Kamerad von mir – großgewachsen, stark, sportlich – hat mich überredet, unsere beiden Namen an den Expeditionsleiter Robert Falcon Scott zu schicken.«

»Ist auch Ihr Kamerad dabei?«

»Nein, er ist nicht genommen worden.«

Frank Wild, 1873 in Skelton, Yorkshire, geboren, ist das zweite von dreizehn Kindern einer tiefreligiösen Lehrerfamilie. Seine blauen Augen und seine kleine Statur lassen ihn zurückhaltend erscheinen, obwohl er kräftig ist und geschickt. Im ersten Eindruck aber zeigt er wenig von einem Leader.

Frank Wild

Mit elf geht er von zu Hause fort, mit sechzehn hat er einen Job als Seemann und kreuzt auf allen möglichen Segelschiffen durch die Ozeane. Elf Jahre lang. Als er zur Royal Navy wechselt, hat er die Welt schätzungsweise neunmal umschifft. Obwohl ausgestattet mit Geduld, Loyalität und einer großen Portion Leidensfähigkeit, steht er lieber in der zweiten Reihe als ganz vorne. Auch in schwierigsten Situationen gilt er als überlegt und standhaft. Ist er es, weil ihm seine Mutter immer vertraut hat? Macht euch keine Sorgen um Frank, pflegte sie zu sagen. Er wird immer seinen Heimweg finden.

»Auch ich war bei der Handelsmarine, seit meinem sechzehnten Lebensjahr«, erzählt Shackleton, »es war mein Beruf, nicht aber mein Traum.«

Sein ausdrucksstarkes Gesicht und seine Statur beeindrucken Wild.

»Mir geht es ähnlich: Neunmal um die Welt ist genug«, sagt Wild.

Der hünenhafte Mann vor ihm nickt.

»Ich bin Offizier hier«, sagt er und reicht Wild die Hand. »Ernest.«

»Frank«, sagt Wild und betrachtet Shackleton, der über ihn hinwegzusehen scheint. Shackletons blaue Pupillen heben sich dabei deutlich im Weiß der Augen ab, seine Stirn ist glatt, das Haar in der Mitte gescheitelt, die kräftige Nase gibt dem Gesicht etwas herrisch Entschlossenes. Noch passen die beiden nicht zueinander. Bruchstücke von dem, was man ihnen über die Antarktis erzählt hat, stehen zwischen ihnen. Wie Eisberge im Polarmeer.

Am Heiligabend 1901 verlässt die Discovery Neuseeland, am 2. Januar 1902 passiert sie den Polarkreis, jetzt stößt sie durch einen Packeis-Gürtel zum Südpolarmeer vor. Immer größere Eisberge tauchen darin auf, glänzende Ungeheuer – zehn Kilometer lang, einen breit, Dutzende Meter hoch.

Shackleton, offen und immer gut gelaunt, sieht aus wie ein Held. Zum Siegen geboren! Dabei wirkt er nicht überheblich, es ist sein Charme, der ihm im Umgang mit Autoritäten hilft, seinen Teil zu bekommen und seinesgleichen für sich einzunehmen. Er strahlt die Selbstverständlichkeit eines Leaders aus, obwohl er mit allen auf Augenhöhe umgeht. Das macht ihn vertrauenswürdig. Die Gelassenheit, die von ihm ausgeht, lässt ihn überlegen und stark erscheinen, erkennt Wild. Unauffällig nimmt sich Shackleton so das Beste der anderen: ihr Vertrauen. Nur Scott, der die Privilegien des berufenen Leaders vor sich herträgt wie einen Schutzschild, lässt sich von Shackleton nicht beeindrucken. Shackleton aber, mit einer guten Portion Selbstmächtigkeit gepanzert, muss seine Überlegenheit nicht zeigen, und Verantwortung empfindet er nicht als Pflicht, sie gehört zu ihm wie sein Gewissen.

Ernest Shackleton

Anfang Januar 1902 kommen wieder Eisberge in Sicht: mehrere Kilometer lang und haushoch, die Formen von großer Vielfalt. Diese Monster, vom Schelfeis abgebrochen, von Wasser und Wind umgeformt, glänzen im schwarzen Ozean von Grün bis Silber.

Im McMurdo Sound können sich solche Eisberge über Jahre halten. Es gibt dort große offene Wasserstellen, wo das Meereis entsteht, wächst und sofort wieder verschwindet. Bei Kap Crozier zum Beispiel, wo die Kaiserpinguine nisten: ein windiger Platz, den Orkane regelmäßig leerfegen. Im Winter ist die Luft dort so kalt, dass die Meeresoberfläche an windstillen Tagen im Nu zufriert. Der Ozean ist dann mit einer dünnen Eiskruste überzogen. Der nächste Sturm aber treibt dieses Eis wieder fort, staucht es zu Eisbarrieren und schiebt dieses Packeis dann mehrere hundert Kilometer weiter nach Norden. Als wirkten in den Naturkräften Zauberei.

Das Schiff, die Discovery, läuft nicht gut. Es hat achtern zu viel Segelfläche und ist schwer zu mamövrieren, vor allem im Packeis. Das Meereis, das sich während des Winters über dem Rossmeer gebildet hat, ist von Schneestürmen nordwärts getrieben worden und staut sich jetzt in Barrieren vor Kap Adare. Diese Eisschichten verschwinden erst, wenn die Temperatur im Sommer ansteigt. Jetzt müssen sie durchbrochen werden!

»Diese Antarktisexpedition scheint die richtige Abwechslung für uns zwei zu sein«, sagt Wild zu Shackleton, als sie sich ein paar Tage später wieder begegnen.

»Ja«, sagt Shackleton, »in meinem Job bei der Handelsmarine war alles vorbestimmt: Du fährst ein paarmal um den Globus, wirst befördert, alles nur eine Frage der Zeit.«

»Auch mir hat diese Art von Routine nie gefallen.«

Ein halbes Jahr ist es nun her, dass Shackleton und Wild mit der Discovery England verlassen haben. Dass vier weitere Expeditionen – aus Schweden, Deutschland, Frankreich und Schottland – auf dem Weg in die Antarktis sind, interessiert die beiden nicht.

»Mich hat dieser Norweger begeistert«, sagt Wild nach einer langen Pause. »Fridtjof Nansen. 1888 hat er Grönland und 1895 mit der Fram die Arktis erforscht. Er ist weiter nördlich als alle anderen gewesen.«

»Ein Rekord«, weiß Shackleton.

»Vom Italiener Cogni inzwischen gebrochen«, korrigiert Wild, »ein Sieg des italienischen Königreichs.«

»Jetzt scheint die Erforschung der Antarktis Mode zu werden«, sagt Shackleton, während die Discovery durch loses Packeis segelt.

»Mich aber treibt nicht Patriotismus, mich lockt das Abenteuer.« Wild ist jeder Heroismus suspekt.

»König Edward ist doch an Bord gekommen, um uns ins Heldentum zu verabschieden.«

»Soll heißen, auch wir reisen zur Ehre des Königreichs?«

»Auch. Aber vor allem soll die Antarktis erforscht werden.«

»Was Nansen im Norden getan hat, gilt es jetzt im Süden zu tun.«

»Es geht mir dabei nicht um den schnellen Erfolg, Ruhm oder Reichtum«, sagt Shackleton. »Es geht mir um eine Abkürzung ins Abenteuer.«

»Mit der Handelsmarine ist auch bei mir Schluss«, sagt Wild.

»Ich fahre zur See, seit ich die Schule geschmissen hab und von zu Hause abgehauen bin.«

»Und die Eltern?«

»Mein Vater war Arzt und hatte nichts dagegen, die Mutter und meine Schwestern konnten mich nicht zurückhalten. Ich habe nur einen Bruder. Er heißt Frank, so wie du.«

»Ich habe mehr Brüder als Schwestern, mein Vater ist Lehrer. Von zu Hause weggerannt aber bin ich nicht, die Familie bedeutet mir viel.«

»Mir auch, ein bürgerliches Leben aber ist meine Sache nicht.«

»Wären wir sonst hier?«

Wild ahnt, dass Shackleton flunkert, wenn er den Ausreißer gibt. Dass er von zu Hause weggelaufen sei, ist eine Legende, die Shackleton selbst lanciert, seit er zur See fährt. Aber wahr ist, dass Vater Shackleton nur widerwillig seine Einwilligung gab, als der Sohn von der Schule ging.

»Als ich erstmals draußen war«, erinnert sich Shackleton, »hatte ich Heimweh. Plötzlich war ich von allem abgeschnitten, wusste aber, dass es anzukommen gilt: in meinem Leben.«

»Hast du auch darunter gelitten? Für dich allein auf hoher See, in der Einsamkeit und kein Weg zurück?«

»Ich kenne das: weit, weit von sich selbst weg zu sein – die Freiheit nur noch eine Illusion. Hier in der Antarktis aber fühle ich mich wie zu Hause.«

»Die Wichtigtuerei der Navy und von Scott aber nerven, sie stehen gegen die Natur des Menschen«, sagt Wild.

»Weil sie Mythen wie historische Tatsachen feiern?«

»Im Gegensatz zu mir. Ich bin nur neugierig.«

»Mich haben immer Bücher über Geschichte angezogen – ich meine eine bestimmte Art von Geschichte. Ich interessierte mich nie für Dynastien, Schlachten und Belagerungen, sondern für unternehmungslustige Männer, für Nationen, die Seeleute in unbekannte Meere sandten, für die Geschichte der Kolonialisierung und Erforschung anderer Kontinente. Von meiner frühesten Jugend an kannte ich mich aus mit all den Problemen von Forschungsreisen, ob in Zentralafrika, in Tibet, am Nord- oder Südpol. Ich las viel und erinnere mich bis heute an das Gelesene. Lange bevor ich in die Antarktis fuhr, wusste ich alles über Pack-, Treib- und Schelfeis. Und ich kannte jene, die vor mir auf dem Weg zu einem der beiden Pole gewesen sind. Das kann ich wirklich behaupten. Sie waren meine Helden, meine Propheten.«

»Sie alle haben gemacht, was sie sich vorgenommen hatten, ohne...

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