Prolog
Der Anschluss Österreichs an Deutschland hat eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt mit dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866.[1] Die Niederlage in der Schlacht bei Königgrätz verursachte in Österreich einen gewaltigen Schock. Die Deutschösterreicher sahen sich aus Deutschland hinausgeworfen und dazu verdammt, eines der vielen Völker des Habsburgerreiches zu sein statt Deutsche unter Deutschen. Die österreichischen Deutschnationalen fühlten sich von den anderen Nationalitäten der Monarchie bedrängt und bedroht und warfen sehnsuchtsvolle Blicke hinaus ins mächtige, nach der Weltmacht greifende Reich der Hohenzollern. Im Laufe der Zeit entwickelte sich daraus ein radikal antisemitischer, antislawischer, antimarxistischer Pangermanismus.[2]
Am nachdrücklichsten vertraten die Alldeutschen unter Georg Schönerer diese extreme Position. Hitler war von Schönerer so fasziniert, dass er ihm in »Mein Kampf« Dutzende Seiten widmete. Die Historikerin Brigitte Hamann bezeichnet ihn als Hitlers »Jugendidol«. Hitler habe Schönerers politische Grundsätze nicht nur aufgenommen, sondern geradezu kopiert.[3] Im zersplitterten deutschnationalen Lager der österreichisch-ungarischen Monarchie waren die Schönerianer allerdings nur eine Gruppe von vielen, und zwar keineswegs die dominierende, sondern bestenfalls diejenige, die am meisten Lärm erzeugte. Bei den meisten österreichischen Deutschnationalen verband sich die Liebe zum Deutschtum mit dem grundsätzlichen Bekenntnis zum Habsburgerstaat. Auch die Sozialdemokratie – trotz der Deutschtümelei vieler ihrer führenden Protagonisten – war am Erhalt des Großraums der Monarchie interessiert. Die eigentlich staatstragende, prohabsburgische Partei der Deutsch-Österreicher waren die katholisch-konservativen Christlichsozialen. Der Historiker Ernst Hanisch spricht von einer »doppelten Identität« der Österreicher: »Eine starke deutsche, vermittelt durch Herkunft, Sprache, Erziehungssystem, Literatur, Kommunikationskreise, und eine schwächere österreichische, die sich auf die Donaumonarchie bezog und durch dynastische Symbole gestützt wurde.«[4]
Am Beginn des Ersten Weltkriegs herrschte in beiden Reichen dieselbe überbordende Begeisterung, vor allem in den bildungsbürgerlichen Schichten. Und während des Krieges betonte man nach außen hin bei jeder Gelegenheit unverbrüchliche »Waffenbrüderschaft« und »Nibelungentreue«. Tatsächlich aber war das Verhältnis zwischen den Bündnispartnern gespannt und konfliktbeladen. Mit zunehmender Kriegsdauer geriet Österreich-Ungarn militärisch und ökonomisch immer mehr in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Deutschland.
Trotz aller Konflikte im Krieg entflammte danach, als die Monarchie zerfiel und eine demokratische Republik entstand, die Idee eines Anschlusses an das Deutsche Reich. Die Führungsschichten der neu entstehenden Republik Deutschösterreich waren ganz dem Großraumdenken der Monarchie verhaftet. Wie sollte der neu geschaffene Rumpfstaat eine realistische Lebenschance haben? Die existentiellen Erfahrungen von Not, Hunger und Deklassierung, die Millionen Menschen im Weltkrieg gemacht hatten, weckten in allen politischen Lagern und Bevölkerungsschichten die Überzeugung, ökonomisch nur im Großraum überleben zu können.[5]
Am 12. November 1918 wurde die demokratische Republik Deutschösterreich ausgerufen. Im Artikel 2 des Gesetzes über die Staats- und Regierungsform dieser Republik hieß es: »Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik.«[6] Allein, die Siegermächte dachten nicht daran, einen bedeutenden Zugewinn an Territorium und Bevölkerung für das Deutsche Reich als Ergebnis des Weltkriegs zu akzeptieren. Ein Anschluss, das wäre ja so, als hätte Deutschland nachträglich den Krieg gewonnen, hieß es in Paris. Der Republik Österreich wurde daher im Artikel 88 des Vertrags von Saint-Germain ein Anschlussverbot auferlegt.[7]
Wie die Stimmung in Österreich war, zeigte sich bei zwei Volksabstimmungen, die im Frühjahr 1921 stattfanden: In Tirol votierten 98,8 und in Salzburg 99,1 Prozent der Bürger für einen Anschluss an Deutschland. Weitere Abstimmungen unterblieben auf Betreiben der Siegermächte.[8] Zugleich entstand eine Reihe teils einflussreicher Vereinigungen, die den Anschluss zum Ziel hatten. Der 1925 gegründete »Österreichisch-deutsche Volksbund« etwa war eine Massenorganisation, an der sich Verbände und Körperschaften aller politischen Richtungen beteiligten. In Deutschland existierte ein Pendant, der »Deutsch-österreichische Volksbund«, geführt vom sozialdemokratischen Reichstagspräsidenten Paul Löbe.[9] 1930/31 betrieben die beiden Regierungen das Projekt einer deutsch-österreichischen Zollunion. Frankreich und Italien, die selbst nach Suprematie im Donauraum strebten, traten energisch dagegen auf, ebenso Großbritannien und die Tschechoslowakei. Frankreich konnte, indem es Österreichs Finanznöte ausnutzte, den Plan schließlich 1931 zu Fall bringen.[10]
Im September 1930 stieg die reichsdeutsche NSDAP mit 18,3 Prozent zur zweitstärksten Partei im Deutschen Reich auf. Im Vergleich dazu kam die ebenfalls Hitler unterstehende österreichische Partei bei der Nationalratswahl vom November 1930 auf überaus bescheidene 3 Prozent. Aber 1932 ging es auch in Österreich aufwärts. Bei drei Landtagswahlen im April 1932 kam die NSDAP auf Ergebnisse zwischen 14,1 und 20,8 Prozent. Das war beachtlich, aber nichts gegen die von Hitler zur selben Zeit im Deutschen Reich errungenen Siege.[11]
Am 30. Januar 1933 übernahm Hitler die Macht in Deutschland und zertrümmerte die noch vorhandenen Restbestände des demokratischen Systems der Weimarer Republik binnen weniger Monate. Diese Entwicklung führte indirekt auch in Österreich zur Erschütterung und letztlich Auflösung der Demokratie. Bundeskanzler war seit Mai 1932 der Christlichsoziale Engelbert Dollfuß. Anfang März 1933 nutzte er eine unbedacht herbeigeführte Geschäftsordnungskrise, um das Parlament auszuschalten und auf der Grundlage von Notverordnungen zu regieren. Zur Verbreiterung seiner schmalen Führungsbasis führte Dollfuß Geheimverhandlungen mit den Nationalsozialisten. Zugleich versuchte er, sich Mussolini anzunähern. Als sich die Verhandlungen über die Beteiligung an der Regierung zerschlugen, gingen Österreichs Nationalsozialisten ab Mitte Mai 1933 zu offenem Terror über. Hitler übte mit einer von der notorischen deutschen Devisenknappheit inspirierten Boykottaktion gegen Österreichs Fremdenverkehr (»Tausendmarksperre«) zusätzlichen Druck aus. Am 19. Juni 1933 verhängte die Regierung Dollfuß ein Betätigungsverbot über die NSDAP. Österreichs wichtigste NS-Führer flüchteten nach Deutschland und steuerten von dort aus den mit allen Mitteln von Propaganda, Sabotage und Terror geführten Untergrundkampf gegen den Staat Österreich.
Der organisatorische Zusammenhalt der Nazibewegung in Österreich konnte gewahrt werden, indem die ehemaligen Parteimitglieder vordergründig unpolitischen oder sogar dem herrschenden Regime nahestehenden Organisationen beitraten und diese unterwanderten. Die bereits zuvor von Nationalsozialisten vereinnahmten Vereine des deutschnationalen Lagers wurden zu organisatorischen Plattformen für den illegalen Kampf umfunktioniert. Viele, zumeist junge, arbeitslose, unverheiratete Österreicher trieb eine tatsächliche oder auch nur vermeintliche Verfolgung wegen illegaler Betätigung zur Flucht ins Dritte Reich. Dort wurden sie im Regelfall in die »Österreichische Legion« gesteckt, eine feldmäßig gerüstete, an die zehntausend Mann starke SA-Formation, die im entscheidenden Moment als Bürgerkriegstruppe in Österreich eingreifen sollte.[12]
Die österreichische Regierung antwortete mit oft willkürlichen Verhaftungen und Abstrafungen, mit der Einrichtung von Anhaltelagern und einer ständigen Verschärfung des Strafmaßes für verbotene politische Betätigung. Angesichts des anhaltenden NS-Terrors setzte Kanzler Dollfuß nun stärker noch als vorher auf die Anlehnung an Italien. Mussolini nahm ab Mitte 1933 entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung in Österreich, die ganz in Richtung Diktatur verlief.
Nach dem blutig niedergeschlagenen sozialdemokratischen Aufstand vom 12. Februar 1934 konnte sich das Dollfuß-Regime zunehmend festigen. Die mächtige Sozialdemokratie war zerschlagen, die »Vaterländische Front«, eine künstlich geschaffene Einheitspartei, befand sich scheinbar erfolgreich im Aufbau, das faschistische Italien hielt seine schützende Hand über Österreich. Am 1. Mai 1934 ließ Dollfuß die neue autoritäre Verfassung verkünden. Die Gesellschaft sollte sich nach sozialharmonischen »Ständen« formieren. So nannte sich das betont katholische Gebilde denn auch »Christlicher Ständestaat«.[13]
Als »austrofaschistisch«, etwa im Sinn der...