Blick zur Uhr, wo bleibt das Kind? Es sollte seit zehn Minuten zu Hause sein. Aber wer weiß, vielleicht ist der Bus verspätet. Schnell die Kartoffeln schon mal auf dem Blech verteilen, damit es dann schnell geht, in einer Stunde ist der Zahnarzttermin. Inzwischen ist das Kind siebzehn Minuten verspätet. Vor dem Fenster sind schon vor einer Ewigkeit zwei Kinder aus der gleichen Klasse vorbeigeschlendert … Langsam hilft tiefes Atmen nicht mehr gegen die Nervosität. Wo zum Geier bleibt das Kind? Anruf bei der besten Freundin, keiner geht ans Telefon. Bis zum Zahnarzttermin wird’s langsam knapp. Macht es Sinn, den Ofen jetzt schon anzuschalten? Anruf bei der Schule, nein, niemand ist länger geblieben, der Schulhof ist leer. Ist es albern, die Polizei anzurufen? Scheiß auf albern. »Machen Sie sich mal keine Sorgen«, sagt der Polizist beruhigend, »rufen Sie in drei Stunden wieder an, in der Regel klären sich diese Dinge.« Machen Sie sich keine Sorgen, ha! Der hat gut reden. Atmen. Atmenatmenatmen. Mit zittrigen Händen beim Krankenhaus anrufen, ob sie ein zehnjähriges Kind …
Es klingelt an der Tür. Davor steht das Kind, nassgeregnet und vergnügt. »Ich hab den Bus verpasst«, sagt das Kind. »Da bin ich gelaufen. Und ich habe so eine süße Katze gesehen! Können wir nicht eine Katze haben?«
Machen wir uns nichts vor: Es ist nicht immer einfach, die Kinder, die wir über Jahre behütet, beschützt und betüddelt haben, auf einmal in diese Wildnis aus fremden Menschen, großen Straßenkreuzungen und engen Zeitplänen zu entlassen. Das liegt nicht daran, dass wir Glucken und Helikopter-Eltern sind. Wir sind einfach … Eltern!
Wenn wir Eltern von Kindern zwischen sechs und zwölf fragen, was sie am meisten stresst, kommt eine Antwort so gut wie immer: Wie kriegen wir Anspruch und Wirklichkeit unter einen Hut?
Bevor wir in diesem Buch erklären, was man alles für tolle Sachen unternehmen kann, um Kinder gut in die Selbstständigkeit zu entlassen, möchten wir wieder sagen: keinen Stress. Stress ist immer schlecht. Wir machen das gut. Ihr macht das gut. Unsere Kinder machen das gut. Man kann sich eine Menge Sorgen machen und manche davon sind auch berechtigt, aber andere sind nicht notwendig. Und perfekt muss sowieso keiner sein.
Lieben heißt loslassen
Hat euch vorher jemand gesagt, dass die ganze Kindheit aus Abschiednehmen besteht?
Aus »Ich lasse dich los«? Aus Kompromissen und möglichen Fehlentscheidungen? Uns nicht. Wir dachten früher wirklich mal: Wenn wir es einfach möglichst gut machen, uns vorher informieren, eine geeignete Umgebung schaffen und viel an uns arbeiten, dann kann doch eigentlich nicht mehr viel schiefgehen bei der perfekten Kindheit. Nun – inzwischen sind wir Meisterinnen im »Gut, das muss so reichen« und »Ups, das war Mist«. Das Leben geht weiter. Wir haben so oft Adieu gesagt, dass wir es kaum noch zählen können – und zwar nicht nur zu Kindheitsphasen (die im Nachhinein immer so schön waren und nie wiederkommen), sondern auch zu unseren eigenen Vorstellungen vom idealen Familienleben. Diese Abschiede waren nicht immer leicht, aber wir haben Wege gefunden, alle daran zu wachsen, und können euch heute davon berichten.
Besonders wichtig war für uns, mit anderen Eltern darüber zu sprechen. Am besten mit Eltern von größeren Kindern! Insofern hatte ich, Nicola, das Glück, dass ich dich, Julia, an meiner Seite hatte, mit deinem größeren Sohn und dem nie enden wollenden Strom von Bestärkung: »Du machst das gut, deine Kinder sind total entzückend, bei uns war das auch schwierig damals, ich hab das so und so gemacht.« Denn niemand ist damit allein, wir alle gehen durch diese Zeiten. Viele Eltern haben uns erzählt, wie aufregend es ist, wenn Kinder die ersten Schritte in die Welt hinaus tun. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese mit drei, fünf oder acht Jahren stattfinden – es gibt eine ganze Menge erste Schritte im Familienleben.
Es beginnt mit den Dreieinhalbjährigen, die bei IKEA plötzlich allein ins Småland wollen. Und das ist erst der Anfang. Ab dem Schulalter wird es dann aufregend: Knut erzählte uns auf Facebook, dass sein Sohn einen Tag nach dem fünften Geburtstag erklärt hat, er würde jetzt allein zum Spielen rausgehen. Knut blieb gelassen, genoss die Stunde Ruhe, hat dann aber doch ganz gelassen alle drei Minuten aus dem Fenster geguckt – es könnte ja regnen. (Das muss man im Auge behalten. Julia nickt verständnisvoll.) Aber es muss gar nicht draußen beim Spielen sein: Wir haben mit den Kindern beim Zahnarzt Termine zum Nachschauen – und während wir freundlich zur Prophylaxe gebeten werden, marschiert das Kind selbstbewusst allein mit der Sprechstundenhilfe in ein eigenes Behandlungszimmer, ohne uns!
Sanny, die sich selbst als »Glucke« bezeichnet, erzählt, dass sie ihren verträumten Jungen bald loslassen muss, damit er mit dem Bus in die Schule fahren kann und an einer Ampel eine Bundesstraße quert. Puh. Atmen! Auch Elisas Sohn will nach drei Monaten Begleitung jetzt endlich seinen Schulweg allein schaffen – mit Straßenbahn und Bus und Umsteigen. Und: Er schafft es! Als er einmal die Haltestelle verpasst, helfen ihm freundliche Passanten. Das Kind ist stolz – die Eltern lernen loslassen.
Anna durchwacht drei Nächte vor Aufregung, weil das Kind auf Klassenfahrt ist – wo das Kind auch nicht schläft, aber nicht etwa vor Angst, sondern weil es Party macht! Und dann sind da die Neunjährigen, die mit dem Rad ins Nachbardorf zu ihren Freunden fahren und fünf Zentimeter größer wiederkommen, wenn sie es geschafft haben.
Wir Eltern haben Herzklopfen. Wir sind gestresst. Wir machen uns einen Kopf. Wir machen uns Sorgen. »Wie wird das sein? Kann ich mein Kind da allein hinlassen? Wie wird es ohne mich, ohne uns, klarkommen? Wie soll das gehen? Wie wird man mit ihm umgehen? Was, wenn etwas passiert?«
Was wir Eltern dabei oft übersehen: Wir haben doch bis hierhin schon super Arbeit geleistet. Das sind doch großartige, starke, toughe Kinder! Die Kinder sind stabil, mutig, sie können Probleme lösen und anderen Menschen vertrauen, sich Hilfe holen und ruhig bleiben. Wenn wir ganz genau hingucken, können wir uns in den meisten Fällen entspannt zurücklehnen. Warum sorgen wir uns? Vielleicht können unsere Kinder etwas, was wir in dem Alter noch nicht konnten? Oder haben wir es nur vergessen?
NICOLA: Meine Tochter war dieses Jahr zum ersten Mal allein im Reitercamp. Ich war es, die vorher hinfahren und alles ansehen wollte. Ich war es, die es wichtig fand, die Betreuer (alle!!!) vorher zu sprechen. Und das, obwohl ich auf dem Sprung in ein artgerecht-Camp war. Ich war es, die bei der Abgabe noch drei Stunden Puffer eingeplant hatte, damit meine Siebenjährige sich »eingewöhnen« konnte. Als ich das meiner Tochter eröffnete, erklärte sie mir: »Mama, keiner fährt da vorher hin!« Als wir am Tag X auf dem Reiterhof ankamen, durfte ich der Reitlehrerin gerade noch die Hand schütteln. Dann drückte und küsste mich mein Kind und flüsterte mir freundlich ins Ohr: »Mama, das hier ist jetzt mein Camp. Du kannst jetzt in dein Camp gehen. Ich erzähle dir alles hinterher. Tschüss!« Ich hatte sieben Nächte lang Herzklopfen. Sie hingegen rief nicht mal an. Eine Woche später hüpfte sie mir freudestrahlend entgegen mit der freundlichen Frage: »Und? War dein Camp so cool wie meins?«
Halten wir fest: Unsere Kinder werden fliegen, ob wir das wollen oder nicht. Sie werden hinausziehen in diese Welt da draußen, und wir können nicht das Geringste daran ändern, dass sie dort ihre Erfahrungen machen. Wir, Nicola und Julia, wissen beide, wie aufregend und vielleicht auch beunruhigend das sein kann – obwohl natürlich alle Eltern mit dem Kopf wissen, dass es der Lauf der Dinge ist, dass es gut und richtig ist und all das. Aber sag das mal einem Mutterherz, das weint, weil der liebevolle kleine Sohn auf einmal zum wilden Kerl wird. Sag es einem Vaterherz, das sorgenvoll dabei zusieht, wie die Zehnjährige auf einmal mit Wimperntusche im Gesicht in die wilde Welt hinauszieht.
JULIA: Wir haben das mit der Schule damals ein wenig anders gelöst als üblich. Dieser andere Weg war nicht immer leicht, aber er war frei, und wir hatten grandiosen Spaß...