1. Kapitel
Mythos Pubertät: Eine neue Sichtweise der jugendlichen Entwicklung
Elternrunde am Institut für Kind, Jugend und Familie. Seit Jahren gibt es dieses Angebot an Österreichs wohl größtem ambulanten Therapiezentrum für Kinder, Jugend und Eltern. Jeden zweiten Dienstag kommen Eltern, Psychologinnen und Psychologen des Instituts zusammen, um sich über Fragen der Erziehung und den bestmöglichen Umgang sowohl mit Kindern als auch mit Jugendlichen auszutauschen. Der Ablauf am Institut unterscheidet sich aber von anderen ähnlichen Einrichtungen. Statt Fragen zu beantworten und Ratschläge zu geben, sind die Psychologinnen und Psychologen des Instituts zu allererst einmal geduldige Zuhörer. Die Geschichten der Eltern sollen Platz haben.
Heute ist in der Elternrunde das Thema Pubertät an der Reihe. Wolfgang und Gloria, beide sehr erfahrene Fachleute, beginnen den Abend mit der Frage: »Was fällt Ihnen zum Wort Pubertät ein?«
»Geschlechtsreife und erste Liebe, Schmetterlinge im Bauch«, beginnt Sarah, eine junge Mutter.
Alexandra, eine junge Lehrerin, fährt fort: »Das ist die Zeit, in der Unordnung im Zimmer und im Kopf herrscht. Da weißt du nicht mehr, wo vorne und hinten ist.«
Fred, ein Techniker und Baumaschinenhändler, ergänzt: »Ja, das ist die Zeit der ersten Alkohol- und Zigarettenexperimente.«
»Und hoffentlich wohl nicht die Zeit der ersten Drogenerfahrungen«, sagt Michaela, eine junge Beamtin.
Aber eines ist für Josef, den Rechtsanwalt unumstößlich: »Sie verlieren plötzlich die Orientierung und das, was sie zu tun haben, aus den Augen. Die Schule und wichtige Aufgaben werden vernachlässigt, am Abend und in der Nacht werden sie dann aktiv.«
»Weggehen wollen sie, und uns nicht sagen, wo sie sind. Oder endlos auf Facebook hin und her schreiben. Am Morgen sind sie dann natürlich unausgeschlafen und haben keine Lust, in die Schule zu gehen«, so Astrid.
Jetzt kommt auch wieder Sarah in Fahrt. »Wenn du sie fragst, ob sie jetzt was zu tun hätten, geben sie dir keine Antwort. Wenn du sie bittest, etwas zu tun, verweigern sie.«
»Ja, sie verwenden deftige Ausdrücke. Ich weiß nicht, woher sie das haben, bei uns haben sie das nicht gelernt«, ergänzt Fred. »Ja, und oft kommen diese Schimpfwörter ganz ordinär, wie zum Beispiel ›Was willst du, Alter‹ oder sogar ›Fick dich‹. Das ist ganz schön stressig und kaum auszuhalten. Dazu kommt noch, dass nichts mehr heilig ist. Kein gemeinsames Essen mehr, stattdessen Essen vor dem Fernseher oder dem Computer. Böse Worte den jüngeren Geschwistern gegenüber gehören ebenfalls zum Programm«, sagt Astrid, eine erfahrene Physiotherapeutin. »Und was die dann alles wollen, blaue Haare, ein Piercing, eine Tätowierung, aussehen wie ein verrückter DJ, davor fürchte ich mich«, ergänzt Annette.
Gloria und Wolfgang haben alle Hände voll zu tun. Eigentlich wollten sie mit ihrer Frage eine sachliche, eher positive Diskussion über Pubertät initiieren, aber die Problemlawine rollt. Statt dagegen zu reden, hören Gloria und Wolfgang aber weiter aufmerksam zu und stellen die nächste Frage: »Was glauben Sie, wird in der Pubertät auf Sie zukommen?« »Schwere Zeiten«, beginnt wieder Astrid, »nichts wird mehr so sein wie früher. Die Beziehung wird schwieriger, im schlimmsten Fall geht sie ganz verloren.«
»Sie wenden sich von den Eltern ab hin zu ihren Gleichaltrigen, ich glaub den sogenannten Peers, dann reden sie nur mehr mit denen und geraten in falsche Kreise«, ergänzt wieder Fred.
»Rauchen, Trinken, Herumstreunen. Sie wollen nichts tun, ich habe das erlebt bei der Tochter meiner Bekannten. Hoffentlich wird das bei uns nicht so, ich war ja auch nicht ganz einfach in meiner Jugendzeit, aber bei uns war das noch anders.« »Man kann dagegen eh nichts tun«, sagt Astrid, »da müssen wir wohl durch. Einen anderen Weg durch die Pubertät gibt es nicht, habe ich gehört, aber es wird wohl ein gutes Ende nehmen, hoffe ich zumindest.«
»Ich weiß nicht«, entgegnet Fred, »ich weiß manchmal schon nicht mehr, was ich tun soll, und zudem habe ich schon bei meinen Verwandten erlebt, dass sie rat- und hilflos waren, aufgrund des Verhaltens ihrer Tochter. Die sagen, die Pubertät sei die reinste Hölle.«
»Aber wenn nichts mehr weiter geht«, so Michaela, »dann haben wir wenigstens noch Sie. Sie werden schon wissen, was richtig ist.« Michaela fragt weiter: »Was glauben Sie denn, was sinnvoll wäre? Haben Sie Tipps und Tricks mit denen wir verhindern können, dass dies alles passiert? Damit unsere Teenager sicher und unbeschadet durch die Pubertät kommen? Dass sie trotz aller Widrigkeiten ihre Schule fertig machen oder einen Beruf lernen und glückliche Menschen werden? Wir brauchen Tipps und Tricks, wie die Pubertätsprobleme möglichst klein gehalten werden. Vorschläge für den richtigen Umgang und die richtigen Konsequenzen, damit wir sie wieder in gute Bahnen lenken können. Ein paar Flausen und Probleme dürfen ja sein, aber dann sollen sie schnell wieder zur Ruhe kommen und ihren Aufgaben nachkommen. Dass es Probleme geben muss verstehen wir ja, aber zu viel, das wäre schon sehr anstrengend.«
Gloria und Wolfgang sind gar nicht verwundert über die Aussagen der Eltern. Es ist nicht ihre erste Diskussion über dieses Thema. Dies sind verständliche Haltungen und Sorgen von Eltern.
Aber warum wird die Pubertät so negativ gesehen? In den am Institut geführten Jugendgruppen oder bei den Jugendtreffen der Stadt Graz, wo Institutspsychologinnen und –Psychologen mit dabei sind, hören sie von Jugendlichen oft ganz anderes als Stress und Probleme.
Was erwarten Jugendliche, Mädchen und Jungen von ihrer Jugend bis hin zum Erwachsenenalter?
»Interessant ist zunächst, dass die meisten etwas wollen«, stellt Gloria fest. »Sie wollen gut in ihrem Sport sein, sei es Fußball, Volleyball oder bei Mädchen auch oft Tanzen. Sie wollen hübsch und schick aussehen. Nur haben sie davon eigene Vorstellungen, die nicht immer deckungsgleich mit denen ihrer Eltern sind. Sie wollen Entdeckungen und Erfahrungen machen, sie wollen etwas erreichen. Überraschend viele Jugendliche haben eigentlich ganz klare Vorstellungen von ihren Ausbildungs- und Berufszielen. Jugendliche wollen jemanden kennenlernen, sei es beim Fortgehen oder in einem Klub. Jugendliche sehnen sich nach Zusammenschluss, nach Anerkennung. Sie wollen Freunde haben und dazu gehören. Facebook und die neuen Medien würden ihnen dabei helfen, berichten sie in zahllosen Gesprächen, ganz entgegen unseren erwachsenen Negativismen und Befürchtungen. Jugendliche wollen etwas erreichen, das außergewöhnlich ist. Sie wollen, dass ihre eigene Leistung anerkannt wird. Jungs sind oft stolz darauf, in einem Computeronlinespiel ein exorbitant hohes Level erreicht zu haben oder mit außerirdischen und futuristischen Wörtern um sich werfen zu können, von denen ihre Eltern nicht die leiseste Ahnung haben. Mädchen, aber auch Jungs freuen sich über die steigende Anzahl von Freundschaften in den sozialen Medien wie Facebook, dabei zu sein bei einer Party, und sie wollen oft länger weg bleiben. Auch das hören wir immer wieder, sie wollen auch ihre Eltern und deren Rückhalt. Unsere jungen Menschen – das können wir aus zahlreichen Gesprächen bestätigen – wollen eine gute Beziehung zu ihren Eltern, aber sie wollen auch etwas ausprobieren, etwas erleben und sich die Welt ansehen. Sie wollen, dass ihre Eltern ihnen etwas zutrauen.«
»Gewiss, aber manche wollen wirklich gar nichts. Sie ziehen sich zurück oder sie schlagen in sinnloser Wut und Aggression um sich«, entgegnen einige Eltern. »Wie ist es mit denen«?
Gloria und Wolfgang können eine erfreuliche Antwort geben. »Eigentlich haben wir in unserer langjährigen Arbeit noch kein Kind, noch keinen Jugendlichen kennengelernt, der nichts wollte. Auch solche Jugendliche, die eindeutig psychische Probleme haben, wollen etwas. Solche, die sich zurückziehen, wollen entdeckt werden, solche, die wütend rumschreien oder mit Gegenständen werfen, wollen gehört werden, solche, die sich selbst etwas antun oder sich gar selbst verletzen, wollen beruhigt und umarmt werden. Gewiss, die Zusammenhänge sind manchmal schwierig, aber grundsätzlich geht es immer um tiefe, emotionale oder gefühlsmäßige Wünsche von Jugendlichen, und diese wollen sie erfüllt haben.«
Woher kommt der Negativismus und die Defizitorientierung, die der Pubertät und der Adoleszenz angelastet werden? Lassen Sie uns einen Blick auf die Geschichte der Jugend und auch der Entwicklungspsychologie in Bezug auf die Adoleszenz machen.
Wie ich schon in meinem Buch »Jugendkult, Gewalt« ausgeführt habe, ist der Begriff Jugend seit jeher mit einem negativen Vorzeichen behaftet. Schon Sokrates betrachtete diese Entwicklungsphase als sehr kritisch. »Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität, sie widerspricht ihren Eltern, legt die Beine übereinander und tyrannisiert ihre Lehrer.«
Auch der große Shakespeare empfand die Zeit zwischen dem 10. und 23. Lebensjahr als eine entbehrliche Zeit und er wünschte sich, sie würde den jungen Menschen erspart bleiben. »Ich wollte es gäbe kein Alter zwischen 10 und 23, oder die jungen Leute verschliefen die ganze Zeit, denn dazwischen ist nichts als den Dirnen Kinder schaffen, die Alten ärgern, stehlen und balgen.«
Sie können in der Jugend-Kulturgeschichte blicken, wohin Sie wollen. Sturm und Drang bezeichnen immer die Phase der Jugend oder der Adoleszenz.
Wissenschaftlich scheinbar zementiert hat das sogenannte Defizitmodell der Adoleszenz der...