„Culadas“
In Albia, einem kleinen Dorf unweit von Bilbao, findet am 15. Mai 1801 ein Fest zu Ehren der Heiligen Isidora statt. Nicht nur aus Albia, auch aus Bilbao strömen die Menschen herbei. Die Kirche ist mit Fahnen geschmückt, auf dem Dorfplatz gibt es Spiele, Garküchen und Erfrischungen. Das Fest gipfelt in einem Tanz, der zunächst gemächlich beginnt und dann immer ausgelassener wird, bis sich Männer und Frauen schließlich wahllos gegenseitig „Culadas“, Stöße mit dem Hintern, geben. Mitten im Gedränge befindet sich ein Reisender aus Preußen, der regen Anteil an dem Treiben nimmt. Er beobachtet den Ablauf des Festes genau und macht sich Notizen, zum Beispiel über den „Fiel“ (er übersetzt dieses Wort mit „Richter“ bzw. „Schöppe“), der in einer Ecke des Tanzplatzes auf einem rotsamtenen Kanapee sitzt und von dort aus mit einem Stock für Ordnung unter Tänzern und Zuschauern sorgt. Insbesondere interessiert ihn der Tanz, bei dem es so lebhaft zugeht, dass auch er die „Culadas“ zu spüren bekommt. Er notiert:
„Der Tanz ist der natürlichste Ausbruch der Lustigkeit, den ich je gesehen habe, er hat nur im Anfang hierin etwas Feierliches. Eine Reihe von Tänzern gehen nach dem Takt angefaßt im Kreise herum, und nur der Vortänzer macht eine Art mit vielen Kapriolen untermischte Pas. Darauf holt er mit gleicher Langsamkeit und Feierlichkeit zwei Mädchen, eine für den ersten, die andre für den letzten Tänzer. Dann geht jeder und holt sich sein Mädchen nach Gefallen (denn nur jene beiden sind Ehrenplätze) und läuft damit in ausgelassener Lustigkeit zur Reihe zurück. Nun geht es geschwinder, die ganze Reihe zerrt und reißt sich herum, und jeder Tänzer und jede Tänzerin geben sich von Zeit zu Zeit Stöße mit dem Hintern. Diese sind so gewaltsam, daß die Tänzerinnen von ihren beiden Nachbarn manchmal so gestoßen werden, daß sie einen Schritt weit aus der Reihe herausfliegen. Darauf löst sich auf einmal die Reihe, und jeder Tänzer tanzt mit seiner Tänzerin gegeneinander, aber mit allen Possen vermischt, die nur die wildeste Lustigkeit eingeben kann. Die Hauptsache aber sind immer beim ganzen Tanz die Culadas, die Stöße mit dem Hintern. Wenn die Lustigkeit lebhafter wird, so verbreitet sich dieser Geschmack auch unter die Zuschauer, und niemand ist mehr dieser Partie seines Leibes sicher. Mich haben ganz unbekannte Damen im Vorbeigehn mit solchen Stößen beehrt, und es ist eine Art allgemeine Begeisterung, und noch den Abend in der Tertulia, wo ich war, machten die ausgeteilten Culadas einen Teil des Gesprächs aus. […] Wo ich nur hinsehen mochte, unter das Gedränge oder auf den großen mit Bäumen bepflanzten Platz herum, sah ich überall tanzen, springen, lachen, schreien, und vor allen Dingen Culadas austeilen“ (CW 2, S. 102 f.).
Bei dem Reisenden handelt es sich um Wilhelm von Humboldt (1767–1835). Das überrascht. Denn Humboldt ist bekannt als Staats- und Bildungstheoretiker, Reformer des preußischen Bildungswesens, Freund des Altertums, Diplomat im Dienste Preußens, Privatgelehrter und Sprachforscher. Er gilt zudem als einer der bedeutendsten Begründer des ‚neuhumanistischen Bildungsideals‘, der Idee, dass die freie Entfaltung der individuellen Anlagen des Menschen der Zweck aller Bildung sei. Mitunter wird er auch als ein weltfremder Idealist angesehen, der sich nur für ‚hohe Kultur‘ – die alten Griechen, Goethe, Schiller etc. – interessiert. Manche sehen in ihm gar einen „Geistesaristokraten“ (Roth 1971, S. 293), der für die Belange des ‚schlichten Volks‘ keinen Sinn habe. Was macht ein so gelehrter und kulturbeflissener, gar staatstragender Mann im Getümmel eines baskischen Dorffestes, was gibt er sich so ‚niederen Vergnügungen‘ wie den Culadas hin? Weshalb notiert er so eifrig seine Beobachtungen über die Basken – ein Volk, das zu seiner Zeit keine Literatur in der eigenen Sprache hervorgebracht hat, das von seinen Zeitgenossen sogar als ‚roh‘ und ‚unkultiviert‘ angesehen wird?
Humboldt reist auch in andere Länder – insbesondere Frankreich und Spanien – und beobachtet auch dort das tägliche Leben. Seine Beobachtungen hält er in Tagebucheinträgen, Briefen und auch Berichten fest. In der Humboldt-Forschung haben diese mitunter sehr ausführlichen Texte bislang allerdings kaum Aufmerksamkeit erhalten. Die wenigen hierzu vorliegenden Untersuchungen bleiben zudem punktuell. In der Sprachwissenschaft wird zum Beispiel herausgestellt, dass Humboldt im Baskenland von den Besonderheiten der baskischen Sprache beeindruckt ist und in der Folge sein Interesse für die Vielfalt der Sprachen entwickelt, die dann das bestimmende Thema seines Alterswerkes wird (vgl. Zabaleta-Gorrotxategi 2006, S. 193 ff.). In der Sprachwissenschaft geht es also vor allem um Humboldts Baskentexte, seine Arbeiten über Frankreich und Spanien bleiben außen vor; außerdem wird der Fokus eben auf Humboldts Erforschung der Sprache gelegt – die Frage, weshalb Humboldt sich beispielsweise für Culadas interessiert, bleibt dabei offen. Auch zu seinen Texten über Frankreich und Spanien gibt es einzelne Studien, die beispielsweise seine Reflexionen über das französische Theater interpretieren oder auf die Landschaftsbeschreibungen eingehen, die er in Spanien verfasst (vgl. Oesterle 1991; Benz 1972, S. 45 f.). In vielen Humboldt-Biographien schließlich werden seine Reisen nach Frankreich, Spanien und ins Baskenland zwar erwähnt, teilweise auch analysiert, aber nicht in ihrem Zusammenhang gesehen (vgl. z. B. Konrad 2010; Gall 2011; Maurer 2016; Nolte 2017). So konnte die Bedeutung von Humboldts Reisetexten im Rahmen seines Gesamtwerkes noch nicht ausreichend erhellt werden, weshalb auch die Szene mit den Culadas auf den ersten Blick so rätselhaft erscheint.
Anders als die bereits vorliegenden Studien nimmt dieses Buch die verschiedenen Reisetexte Humboldts gemeinsam in den Blick und fragt dabei nach ihrem inneren Zusammenhang. Dabei wird die These entwickelt, dass Humboldt auf seinen Reisen Forschungen durchführt, die nach heutigem Sprachgebrauch mit dem Begriff der empirischen Sozialforschung oder, genauer, der Ethnographie bezeichnet werden können. Als Ethnographien gelten Forschungen, bei denen die Forscherinnen oder Forscher eine spezifische Lebenswelt oder Kultur teilnehmend beobachten und ihre Erkenntnisse dann in entsprechenden Texten niederlegen. Als grundlegende Darstellung der ethnographischen Methode gilt die Einleitung des 1922 veröffentlichten Buches „Argonauten des westlichen Pazifiks“ von Bronislaw Malinowski. Malinowski postuliert darin, dass es in der Ethnographie darum gehe, die Perspektiven der „Eingeborenen“ zu erfassen und die fremde Kultur – also die Riten und Gebräuche, die sozialen Strukturen, die Sprache etc. – systematisch zu erforschen (vgl. Malinowski 1922/1984, S. 1–25; zur Ethnographie vgl. z. B. Geertz 1973/2000; Wulf 2009, S. 118 ff.; Breidenstein et al. 2013; zur empirischen Sozialforschung vgl. z. B. Diekmann 2014).
Humboldt geht, wie es für ethnographische Studien charakteristisch ist, in fremde Länder und untersucht Sitten, Lebensart und Sprachen der dort lebenden Menschen. Er selbst bezeichnet seine Forschungen zwar nicht als Ethnographien, ihm geht es eigentlich in einem weiteren Sinne um „Anthropologie“. Die teilnehmende Beobachtung, das zentrale methodische Instrument der Ethnographie, spielt in seiner Anthropologie aber eine wichtige Rolle. Er bezeichnet sie allerdings als „Statistik“ – ein Wort, das heute (und eigentlich auch schon zu Humboldts Zeit) irreführend ist, weshalb hier der Begriff der Ethnographie vorgezogen wird.1 Humboldt betreibt in der Tat Feldforschung, er führt teilnehmende Beobachtungen durch und macht dabei Entdeckungen in sozialer Hinsicht: Beim Tanz auf dem Dorffest in Albia beeindruckt ihn beispielsweise besonders, dass alle Anwesenden – sowohl die Tänzer als auch die Zuschauer, vor allem aber die „Vornehmen“ genauso wie die „Geringen“ („zwischen denen so hier, zumal bei Tanz und Ballspiel, aller Unterschied wegfällt“) – so enthusiastisch an dem Fest teilhaben und sich bei den Culadas „aus Grund der Seele amüsieren“ (CW 2, S. 103). Derartige Festivitäten kennt er aus seiner deutschen Heimat, wo die „Vornehmen“ und die „Geringen“ eine viel ...