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Paulownien im Stadtpark.
Der Frühling 1948 in Wien
Das Wien des Frühjahrs 1948 war ein Film in Schwarz-Weiß. Unruhig suchten die Scheinwerfer die Straßenzeilen ab. Es gab vier Besatzungsmächte, die Stadt lag direkt an der Nahtstelle verschiedener Welten – ein Wien der Agenten, der Polit- und Wirtschaftskriminellen, der großen Dealer und kleinen Schieber. Vieles war undurchsichtig. Schwer einzuschätzende Menschen aus allen Himmelsrichtungen kamen hier zusammen, sicher schien nur, dass sie alle ihre Interessen verfolgten. Wien war eine Stadt aus Trümmern und Ruinen, zwischen denen sich die Menschen wie Schemen bewegten. Eine Besonderheit bildete die sogenannte Internationale Zone, der zentrale Erste Bezirk, denn die Besatzungsmächte übernahmen hier abwechselnd die Verwaltung und Regierung. Wenn man um die Ecke bog, stand da sicher jemand mit einem grauen Mantel. Es war das Wien von Orson Welles’ Film Der dritte Mann.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, den Massenmorden und Vertreibungen waren viele Menschen hier gestrandet, oft waren es Juden. Man nannte sie »displaced persons«. Der aus Czernowitz, vom äußersten östlichen Ende des ehemaligen Habsburgerreichs, gekommene Paul Celan zählte zu ihnen. Und in Wien traf er Ingeborg Bachmann, die eine ganz andere Art von Heimatlosigkeit hergetrieben hatte. Im Mai 1948 war sie knapp zweiundzwanzig und Paul Celan siebenundzwanzig Jahre alt, und sie hatten wenig mit den beiden mythischen Figuren gleichen Namens zu tun, die in den siebziger und achtziger Jahren die deutschsprachigen Lesebücher und Universitätsseminare beherrschen sollten. Ingeborg Bachmann und Paul Celan waren in der literarischen Öffentlichkeit noch völlig unbekannt. Sie verbrachten nur sechs Wochen gemeinsam in Wien, Celan begab sich bereits Ende Juni auf die Weiterreise nach Paris, das sein künftiger Wohnort werden sollte. Aber diese sechs Wochen sind der rätselhafte Kern ihrer Beziehung, ihr privater Mythos und der Quell unzähliger späterer Zuschreibungen.
Eine graue Vorzeit der Literaturgeschichte: das Filmplakat zu Der dritte Mann
© Gettyimages: Imagno
Über die Gemeinsamkeit dieser sechs Wochen wissen wir nichts. Es handelt sich um eine graue Vorzeit der Literaturgeschichte, um ein Verhältnis, das nicht genau umrissen werden kann. Im Briefwechsel der beiden, der später beginnt und von einem spannungsvollen, manchmal auch dramatischen Auf und Ab der Gefühle gezeichnet ist, tauchen diese sechs frühen Wochen andeutungsweise im Rückblick auf, wie ein Geheimnis. Einmal schreibt Bachmann, in Erinnerung an die gemeinsamen Treffen im Wiener Stadtpark, der in der Nähe ihrer Wohnung in der Beatrixgasse liegt: »Ich werd gewiss nie mehr durch den Stadtpark gehen, ohne zu wissen, dass er die ganze Welt sein kann, und ohne wieder der kleine Fisch von damals zu werden.« Und noch fast zehn Jahre danach taucht für Bachmann immer noch als Inbild die Brücke im Wiener Stadtpark auf, »auf der wir gestanden sind, verzaubert«.
Es existierte in diesem Stadtpark etwas, das nicht nur ein flüchtiger Augenblicksreiz war: Paulownien, Bäume, die Paul Celan ob seines Vornamens wie von selbst zu sich in Beziehung setzte. In Bachmanns Roman Malina, geschrieben nach Celans Tod, heißt es in einem Traum, der nach einer bewegten Geschichte die Vergangenheit wieder einholt: »Sei ganz ruhig, denk an den Stadtpark, denk an das Blatt, denk an den Garten in Wien, an unseren Baum, die Paulownia blüht. Sofort bin ich ruhig, denn uns beiden ist es gleich ergangen.«
In welcher Weise der Stadtpark schon damals, im Mai und Juni 1948, für sie »die ganze Welt« war? Später konnten sie alles besser deuten als am Ort des Geschehens selbst, da war vieles offener, widersprüchlicher, spielerischer. Es gibt einen Brief Ingeborg Bachmanns an ihre Eltern vom 17. Mai 1948, der in seinem lockeren, durchaus auch koketten Ton überrascht: »Gestern noch unruhige Besuche bei Dr. Löcker, Ilse Aichinger, Edgar Jené (surrealistischer Maler), wo es sehr nett war und ich den bekannten Lyriker Paul Celan etwas ins Auge fasste.« Und drei Tage später schrieb sie, wieder an die Eltern: »Heute hat sich noch etwas ereignet. Der surrealistische Lyriker Paul Celan, den ich bei dem Maler Jené am vorletzten Abend mit Weigel noch kennenlernte und der sehr faszinierend ist, hat sich herrlicherweise in mich verliebt, und das gibt mir bei meiner öden Arbeiterei doch etwas Würze. Leider muss er in einem Monat nach Paris. Mein Zimmer ist momentan ein Mohnfeld, da er mich mit dieser Blumensorte zu überschütten beliebt.«
Dieses Mohnfeld war mehr als ein bloßes Ornament. Der Mohn steht für alle möglichen Spielarten des Vergessens und ist für Celan ein zentrales Motiv. Er findet sich gleich im Titel seines offiziell ersten Gedichtbands Mohn und Gedächtnis aus dem Jahr 1952, und die Zeile »Wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis« stammt aus dem Gedicht »Corona«, das 1948 in Wien geschrieben worden ist. Es hat erkennbar etwas mit der Beziehung zu Ingeborg Bachmann zu tun, lässt aber einigen Raum für Interpretationen. Mohn und Gedächtnis – das ist eine Einheit von Gegensätzen, und es schwingen darin auf jeden Fall auch die Gegensätze mit, die es zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan gab.
Ingeborg Bachmann war es im Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit gelungen, von ihrem provinziellen Umfeld in Klagenfurt über Innsbruck und Graz für ihr Studium in die Metropole Wien vorzudringen. Die österreichische Hauptstadt war von Anfang an ihr Ziel und versprach eine geistige Weite, nach der sie sich schon früh gesehnt hatte: Ihre frühen Schreibversuche, von denen einige erhalten sind, künden allesamt davon. In der Literatur verhieß Wien eine Öffnung – gerade für eine Maturantin, deren Schulabschluss fast genau mit dem Kriegsende zusammenfiel. Germanistik belegte Ingeborg Bachmann allerdings, zusammen mit Psychologie, nur als Nebenfach, das Gedichteschreiben begriff sie früh als eine äußerst intime Angelegenheit. Ihr Hauptfach war ab dem Wiener Wintersemester 1946 / 47 Philosophie. Hier stürzte sie sich in die verschiedensten Fragestellungen. Ihr wichtigster Professor war zunächst Alois Dempf, der von der Theologie her kam, und auch die Existenzphilosophie Martin Heideggers interessierte sie. Zudem versuchte sie, sich in der literarischen Szene Wiens umzutun. Dass sie im Mai 1948 dann bei dem arrivierten »surrealistischen Maler« Edgar Jené verkehrte, zeigt, dass ihr das ziemlich schnell gelungen war. Auf den Fotos dieser Zeit sieht sie recht selbstbewusst aus, nicht unbedingt wie ein ängstliches Mädchen aus der Provinz, sondern wie eine, die weiß, was sie will. Sie war zwar auf den ersten Blick nicht von landläufiger Schönheit, keine, die durch ihr Äußeres sofort auffiel. Aber sie war stolz auf ihre Zähne: Sie waren immer strahlend weiß. Dass etwas Besonderes an Ingeborg Bachmann war, sah man vor allem an ihren Augen. Und ihr war das bewusst – viele, die sie kannten, erinnern sich daran. Sie verzichtete auch in späteren Jahren oft darauf, ihre Brille mit der hohen Dioptrienzahl aufzusetzen.
Paul Celans Weg nach Wien war ein gänzlich anderer als der Bachmanns, die Verwandte in der Stadt hatte. Celans Eltern waren in einem ukrainischen Straflager umgebracht worden. Als seine Heimatstadt Czernowitz auf unabsehbare Zeit sowjetisch geworden war, schlug er sich in die rumänische Hauptstadt Bukarest durch. Und als auch dort der Stalinismus übermächtig wurde, versuchte er, sich auf den Weg nach Wien zu machen. Der wochenlange Fußmarsch in die österreichische Hauptstadt war lebensgefährlich, viele rumänische Juden, die wie er zu diesem Zeitpunkt fliehen wollten, wurden an der Grenze zu Ungarn festgenommen oder erschossen. Celan suchte den Kontakt zu ungarischen Fluchthelfern, die ihn gegen Geld Richtung Budapest lotsten. Am 17. Dezember 1947 erreichte er schließlich Wien, als einer der unzähligen Versprengten, die in Europa unterwegs waren. Celan verbrachte einige Tage in einem Lager in der Arzbergerstraße, bevor er in der Pension Pohl in der Rathausgasse unterschlüpfte.
Der Celan jener Wochen kommt in einem Kriminalroman vor, den seine Freunde Milo Dor und Reinhard Federmann 1954 geschrieben haben. Trotz des fiktiven Charakters des Buches, das Internationale Zone heißt, ist es ein atmosphärisch wichtiges Zeugnis. Die Autoren gehen sehr realistisch vor, sie trauen vor allem ihrem Augenschein. Und zwischen all den Freddies, Kubarews und Kostoffs, Schmugglern und Kriminellen, taucht eine Figur auf, die Petre Margul heißt und ein unverkennbares Vorbild hat: »Petre Margul, Flüchtling, Journalist und Dichter, strolchte verloren über die abendliche Ringstraße. Um diese Stunden verließen Tausende Angestellte, kleine Verkäuferinnen und Stenotypistinnen ihre Büros und Läden, die Straße war voll eilig wehender Sommerkleider, Geschwätz, Gelächter und klappernder Schuhe. Ein Hauch von der kindlichen Freude des Schulschlusses flog über die Gehsteige. Es war das wiedergewonnene Leben nach einem heißen Tag; ein Leben, das Petre Margul nichts anging. Er war hungrig und verzweifelt. Die letzte Dollarreserve, die er unter Lebensgefahr auf der Flucht aus Rumänien herübergeschmuggelt hatte, war vor drei Tagen zu Ende gegangen. Seitdem hatte er in der Pension, in der er wohnte, nur mehr gefrühstückt. Aber morgen musste er zahlen.«
»Der Wirklichkeit eine...