EINLEITUNG
Straßenschilder
Wenn die Leute mich fragen, warum ich auch nach so vielen Jahren noch voller Energie und Hoffnung bin, antworte ich: Weil ich reise. Seit über vier Jahrzehnten bin ich mindestens die Hälfte meiner Zeit unterwegs.
Ich habe nie versucht, über meinen Lebensstil zu schreiben, obwohl ich regelmäßig über die Menschen berichtet habe, die mir unterwegs begegnet sind, über die Dinge, die ich erlebt habe. Meine Reisen schienen einfach in keine Kategorie zu passen, waren kein Road Trip à la Kerouac und auch keine Flucht vor dem geregelten Leben. Ich bin aus den unterschiedlichsten Anlässen gereist. Anfangs unternahm ich als Journalistin meine Recherchetouren, später war ich als Wahlkämpferin und politische Aktivistin unterwegs, als ruhelose Wanderarbeiterin in Sachen Feminismus. Ich schloss neue Freundschaften und stieß neue Projekte an, und bald fand mein Leben überall im Land statt. Und das verbindende Element war immer das Reisen.
Wenn Freundinnen oder Kollegen mich fragten, ob das Leben in wechselnden Hotelzimmern sehr belastend sei, bot ich ihnen an, mich auf Reisen zu begleiten – in der Hoffnung, sie könnten mich verstehen und ebenfalls auf den Geschmack kommen. Aber in all den Jahren hat nur eine Einzige von ihnen mein Angebot angenommen, für gerade einmal drei Tage.1
Als die Jahrzehnte verstrichen, schlich sich der Ausdruck »immer noch« ein: »Oh, du bist immer noch so viel unterwegs?« Da dämmerte mir, dass ich über das, was ich am meisten tat, am wenigsten geschrieben hatte.
In der Folge machte ich mich daran, Notizen zu meinen vielen Reisen anzulegen, zu den vergangenen und den geplanten. Ich beschrieb mein Staunen über das, was möglich ist, und meine Wut über alles, was unmöglich sein sollte. Ich schrieb über meine Faszination für das, was sein könnte. Ich durchforstete alte Terminkalender und Reisepläne, Briefe und Tagebücher, und auf einmal wurde ich von der Erinnerung an meinen Vater überwältigt, wie er seine zerfledderten Straßenkarten aufklappte und seine Adresskartei überprüfte und auszurechnen versuchte, wie viel Benzingeld er für die Fahrt von hier nach dort brauchen würde; wo sich ein Trailerpark finden ließe, der seine Frau und die beiden Töchter aufnahm; welche Händler und welche Geschäfte auf unserer Route als Abnehmer der Antiquitäten infrage kämen, mit deren Handel und Tausch er unseren Lebensunterhalt verdiente. Die Erinnerung war so lebendig, dass ich meinte, ein verschwörerisches Flüstern zu hören; für den größten Teil des Jahres war ein enger Wohnwagen unser Zuhause, und wenn meine Schwester und ich spätabends tuschelten, durften wir unsere Mutter nicht wecken.
Bis zu diesem Augenblick hätte ich geschworen, den Lebensstil meines Vaters strikt abzulehnen. Ich hatte mir ein Zuhause eingerichtet, an dem ich hänge und das mein Rückzugsort ist, er hingegen hätte nicht zwangsläufig ein Heim gebraucht. Ich hatte mir nie auch nur einen Cent geliehen, er war immerzu verschuldet. Wenn ich zu meinen Veranstaltungen reise, nehme ich das Flugzeug oder den Zug, wohingegen mein Vater tagelange, einsame Überlandfahrten in Kauf nahm, nur um nicht fliegen zu müssen. Aber so, wie junge Menschen aufbegehren, um sich letztendlich auf Bekanntes zu besinnen, wurde mir plötzlich klar, warum ich mich auf Reisen wie zu Hause fühlte. Weil eben das Reisen während meines ersten, prägenden Lebensjahrzehnts genau das gewesen war: mein Zuhause. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal über das Leben meines Vaters schreiben würde, aber nun wurde mir klar, dass es nur folgerichtig wäre.
Weitere Entdeckungen folgten. Beispielsweise hatte ich das Reisen immer als Ausnahmezustand betrachtet und angenommen, dass ich eines Tages erwachsen werden und mich niederlassen würde. Inzwischen muss ich einsehen, dass in meinem Fall das Reisen der Dauerzustand ist und das Leben an einem einzigen Ort die Ausnahme. Meine Reisen sind die Voraussetzung für ein häusliches Leben, nicht umgekehrt.
Ein anderes Beispiel sind meine öffentlichen Reden. Zwischen meinem zwanzigsten und vierzigsten Lebensjahr habe ich alles getan, um nicht vor anderen Leuten sprechen zu müssen. Einmal fragte ich eine Sprachtherapeutin nach dem Grund, und sie erklärte mir, besonders Tänzerinnen und Schriftstellerinnen falle es schwer, vor anderen zu sprechen, denn sie haben sich für einen Beruf entschieden, in dem genau das nicht erforderlich ist. Ich war beides, Tänzerin und Schriftstellerin.
Später dann, gegen Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre, breitete sich der Feminismus im ganzen Land aus; dennoch stieß ich mit dem Thema in allen Redaktionen, für die ich als freie Mitarbeiterin schrieb, auf überwältigendes Desinteresse. Irgendwann war ich empört und verzweifelt genug, mich mit einer Frau zusammenzutun, die viel mutiger war als ich, und gemeinsam klapperten wir Universitäten und Bürgerinitiativen ab. Im Laufe der Zeit und fern von zu Hause erkannte ich, was ich andernfalls vielleicht übersehen hätte: Wenn Menschen sich im selben Raum aufhalten, können sie sich in einem Maße in ihr Gegenüber einfühlen und Verständnis entwickeln, wie es über den Austausch von Texten oder via Bildschirm niemals zu erreichen wäre.
Und so musste ich immer öfter tun, was ich nie für möglich gehalten hätte: Ich trat als öffentliche Rednerin auf und brachte große Menschenmengen zusammen. Ich wurde mit dem größten Geschenk überhaupt belohnt: einem Publikum, das von sich selbst erzählte. Allein durch das Zuhören erfuhr ich, dass ein feministisches Magazin in den USA eine Leserschaft finden würde, egal, wie lautstark die Experten aus der Verlagsbranche das Gegenteil behaupteten.
Bis dahin war ich eine freischaffende Publizistin gewesen, die niemals in einer Redaktion arbeiten oder für mehr verantwortlich sein wollte, als das Geld für die nächste Miete heranzuschaffen. Aber nachdem ich auf Reisen so viele Erfahrungen hatte sammeln können, schlug ich befreundeten Journalistinnen und Herausgeberinnen vor, ein feministisches Magazin zu gründen und uns, um es mit der großartigen Florynce Kennedy zu sagen, »um die Revolution zu kümmern, nicht bloß ums Abendessen«. Weil die betreffenden Journalistinnen ausgerechnet jene Themen nirgendwo unterbringen konnten, die ihnen am meisten am Herzen lagen, wurde Ms. aus der Taufe gehoben.
Von nun an wurde eine Redaktion mit Journalistinnen und Redakteurinnen zu meinem Lebensmittelpunkt. Ms. gab mir nicht nur Anlass zu weiteren Reisen, sondern ich bekam auch eine frei gewählte Familie, in deren Arme ich nach jedem Ausflug mit meinem prall gefüllten Notizblock zurückkehren konnte.
Unterm Strich muss ich sagen, dass ich ohne die Möglichkeit, draußen in der Welt unterwegs zu sein, niemals den Willen oder die Mittel aufgebracht hätte, mich in dieser Form für meine Anliegen einzusetzen.
Zu neuen Reisen aufzubrechen – was immer auch bedeutet, sich selbst von einer Reise aufbrechen zu lassen – hat mich menschlich verändert. Unterwegs sein ist so chaotisch wie das Leben selbst. Es führt uns aus der Verblendung in die Wirklichkeit, aus der Theorie in die Praxis, aus dem Zaudern ins Handeln, aus der Statistik in die Story – kurz gesagt, aus dem Kopf ins Herz. Auf Reisen zu gehen ist neben lebensbedrohlichen Situationen und einvernehmlichem Sex die beste Möglichkeit, sich im Hier und Jetzt lebendig zu fühlen.
Mein Hauptanliegen ist also, den wichtigsten, ältesten und doch am wenigsten sichtbaren Teil meines Lebens zu beleuchten. Normalerweise beschränkt sich der Austausch darauf, dass ich nach einer langen Reise nach Hause komme und zu Freunden sage: »Ich habe einen bewundernswerten Menschen kennengelernt, der …«, oder: »Ich habe eine tolle Idee, wie wäre es mit …«, oder, auch ein Klassiker: »Wir müssen endlich aufhören, über die Amerikaner zu reden, als wären wir ein homogener Haufen.« Ich bin inzwischen immun gegen Politiker, die sagen: »Ich habe dieses großartige Land bis in den letzten Winkel bereist, und daher weiß ich …« Ich bin weiter gereist als die meisten Politiker, und ich weiß nichts.
Was man sich über unser Land erzählt, beschränkt sich zumeist auf Klischees, Tonschnipsel und die scheinbar fortschrittliche Vorstellung, jede Medaille habe zwei Seiten. In Wahrheit haben die meisten Medaillen drei oder sieben oder ein Dutzend Seiten. Manchmal glaube ich, dass es nur in einem einzigen Fall zwei Kategorien gibt: Es gibt Menschen, die alles in zwei Kategorien einteilen, und Menschen, die das lassen.
Wenn ich mich in all den Jahren auf die Medien und ihre Sicht der Dinge verlassen hätte, wäre mir mein Mut irgendwann abhandengekommen, denn als Nachricht zählt nur das, was zum Konflikt taugt, und Objektivität bedeutet in den meisten Fällen nicht viel mehr, als dass man das Negative sieht.
Auf meinen Reisen habe ich gelernt, dass die Medien nicht mit der Wirklichkeit gleichzusetzen sind. Nur die Wirklichkeit ist mit der Wirklichkeit gleichzusetzen. Beispielsweise bilden wir Amerikaner uns ein, die Freiheit zu schätzen, gleichzeitig sperren wir einen größeren Prozentsatz unserer Bevölkerung hinter Gitter als jedes andere Land der Welt. Ich kenne junge Menschen, die im Laufe ihres Studiums einen erdrückenden Schuldenberg anhäufen, und noch immer bringt niemand diesen Umstand mit einer Gesetzgebung in Verbindung, in deren Folge wir überflüssige Gefängnisse bauen und pro Strafgefangenem jährlich fünfzigtausend Dollar ausgeben – statt das Geld in die so dringend benötigten Schulen und unsere Studenten zu...