II. WIRTSCHAFT UND GELD IN DEN LEBENSWELTEN DER NEUTESTAMENTLICHEN TEXTE
6. Wirtschaft in den Lebenswelten der neutestamentlichen Texte
Michael Rydryck
a) Einführung: Theorien, Zeiten, Räume
Die antike Wirtschaftsgeschichte hat Konjunktur. Diese Konjunktur eröffnet nicht nur für die althistorischen Fächer neue Perspektiven, sondern ist auch für die Interpretation der neutestamentlichen Texte in ihrer Lebenswelt von grundlegender Relevanz.
Die Forschung zu diesem Thema hat allerdings eine solche Fülle an theoretischen Entwürfen und materialreichen Detailstudien hervorgebracht, dass es kaum mehr möglich oder sinnvoll erscheint, von der antiken Wirtschaft zu sprechen. Diese Fülle wirft aber zugleich die Frage auf, wie sich die vielfältigen Perspektiven und neu gewonnenen Erkenntnisse aufeinander beziehen lassen, ohne Details systemgetreu zurechtzubiegen oder in der wachsenden Zahl von Einzeluntersuchungen den Zusammenhang zu verlieren. Vor diesem Hintergrund stellt sich die grundlegende Frage: Was meinen wir eigentlich, wenn wir von Wirtschaft in der Lebenswelt der Antike, insbesondere in der Lebenswelt der neutestamentlichen Texte sprechen?
Allein der Blick in einige in jüngster Zeit erschienene Einführungen zeigt die Vielfalt der Zugänge und Bestimmungen der Wirtschaft in der Antike.1 Neben alten Streitfragen um die Modernität oder Primitivität der antiken Wirtschaft und neben der Entwicklung neuer Theoriemodelle wird vor allem eines deutlich: Eine Wirtschaftsgeschichte der Antike muss sich stets im produktiven Spannungsraum zwischen detaillierten Quellenanalysen und erklärenden bzw. vernetzenden Theorieentwürfen halten. Kurz gesagt, die antike Wirtschaft ist uns nicht einfach gegeben, sondern wir entwerfen ein Bild von ihr, das notwendig interpretierend, perspektivisch und wandelbar ist. Nicht zuletzt die wachsende Kenntnis über Detailphänomene und Strukturen der antiken Wirtschaft und ihrer lokalen Ausdifferenzierungen nötigt dazu, zwei Dinge ganz klar festzuhalten: Die antike Wirtschaft ist anders als das, was wir heute unter Wirtschaft verstehen. Und die antike Wirtschaft ist komplexer als es ein oberflächlicher, theoretisch einengender oder einseitig an der Gegenwart orientierter Blick erscheinen lässt.
THEORETISCHE MODELLE UND KONTROVERSEN ZUR ANTIKEN WIRTSCHAFT
Grundlegend und geradezu klassisch ist die Auseinandersetzung zwischen sogenannten Primitivisten und Modernisten im Blick auf die antike Wirtschaftsgeschichte, die als Bücher-Meyer-Kontroverse in die Forschungsgeschichte eingegangen ist und die u.a. von Moses I. Finley dokumentiert wurde.
Dabei vertraten die Primitivisten, angefangen mit dem Nationalökonomen Karl Bücher (1847-1930), die Position, dass die antike Wirtschaft als eine auf Subsistenz zielende Agrarwirtschaft nach modernen, marktwirtschaftlichen Maßstäben als primitiv, d.h. unterentwickelt gelten müsse. In diese forschungsgeschichtliche Tradition reihen sich auch die bedeutenden Arbeiten von Moses I. Finley und Karl Polanyi ein, die man entsprechend als Neo-Primitivisten bezeichnet hat.
Die Modernisten, deren früher Protagonist der Althistoriker Eduard Meyer (1855-1930) war, hielten dem entgegen, dass bereits die antike Wirtschaft moderne Charakteristika wie Marktorientierung, ökonomische Rationalität und Wirtschaftswachstum aufweist und demgemäß zu beschreiben sei. Der vielleicht wichtigste und mit Sicherheit bekannteste Vertreter dieser Position war Michael Rostovtzeff (1870-1952).
Die Debatte zwischen diesen beiden Positionen blieb letztlich ebenso unentschieden wie unentscheidbar. Die Forschung konzentrierte sich daher in der Folgezeit auf wirtschaftsgeschichtliche Detailfragen anhand einer immer besser erschlossenen Quellenbasis. Dennoch blieb die Primitivismus-Modernismus-Debatte zumindest im Hintergrund prägend und gab in der Gegenwart den Impuls zu neuen Ansätzen theoretischer Beschreibung jenseits der verhärteten Fronten. Exemplarisch zu nennen wären hier die Neue Institutionenökonomik, die primär nach den strukturellen Bedingungen und Regeln wirtschaftlicher Prozesse fragt, sowie die Kapitaltheorie Pierre Bourdieus, die eine differenziertere Wahrnehmung der kulturellen Bedeutung von ökonomischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Kapitalformen ermöglicht.2
Eine vergleichbare Konjunktur wie die Beschäftigung mit der antiken Wirtschaft hat die Frage nach Lebenswelten und nicht zuletzt nach den Lebenswelten biblischer Texte. Wer von der Lebenswelt3 der neutestamentlichen Texte spricht, stellt zugleich zahlreiche Weichen für die Untersuchung und Darstellung der antiken Wirtschaftsgeschichte:
Das Konzept einer Lebenswelt ersetzt zum einen veraltete Konzepte, die implizit oder explizit von einer deutlichen Trennung zwischen einer christlich-jüdischen Welt, die sich in den biblischen Texten spiegelt, und einer römisch-hellenistischen Umwelt ausgingen. Aber die frühen Christen und ihre Texte, ebenso wie die Juden in der Antike, waren ein vielfach verwobener Teil der römisch-hellenistischen Welt, auch wirtschaftlich. Die Lebenswelt der neutestamentlichen Texte ist in zeitlicher, räumlicher und eben auch wirtschaftlicher Hinsicht das Imperium Romanum, näherhin das Römische Reich in der frühen Kaiserzeit. Allerdings stellt das Imperium Romanum keine einheitliche Lebenswelt im modernen Sinn dar. Vielmehr ist es notwendig, nach Zeiten und Räumen zu differenzieren und angesichts der vorhandenen Pluralität von Lebenswelten der neutestamentlichen Texte zu sprechen.
In räumlicher Perspektive ist das Mittelmeer das entscheidende Verbindungsmedium in kultureller, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht. Doch hat sich gezeigt, dass das Mittelmeer auch zur Zeit des Imperium Romanum keineswegs einen einheitlichen Kultur- und Wirtschaftsraum konstituierte. Lokale Besonderheiten in Verwaltung, Sprache, Kult, und Wirtschaftsweise bleiben bestehen und Entwicklungstrends wie Urbanisierung und Romanisierung bzw. Romanisation4 kommen zeitlich und lokal sehr unterschiedlich zum Tragen. Gute Beispiele für diese fortbestehende Pluralität sind die wirtschaftliche Bedeutung der Sklaverei oder die Anlage und Bewirtschaftung von Großgütern (lateinisch: latifundia), die sich in Italien, Kleinasien und Palästina jeweils sehr unterschiedlich zeigen.
Gleichwohl erzeugte der wirtschaftliche, kulturelle und politische Austausch über das Mittelmeer einen konnektiven, d.h. einen vernetzten Raum,5 der sich durch die Verbindung vieler in Regionen, Lokalherrschaften und Städte ausdifferenzierter Wirtschafts- und Kulturräume auszeichnet. Die frühen Christusanhänger und ihre Textwelten waren Teile dieses Netzes und müssen daher sowohl in ihrer lokalen Gebundenheit als auch in ihrer übergreifenden Vernetzung wahrgenommen werden.
Nimmt man zum anderen das Konzept der wirtschaftlichen Lebenswelten der neutestamentlichen Texte ernst, kann man sich in der Erforschung und Darstellung nicht mehr auf die Zeit Jesu oder den Raum Palästinas beschränken, wie es in der biblischen Archäologie oft noch heute der Fall ist. Zeitlich kommt für die Untersuchung der Lebenswelten der frühchristlichen Texte die gesamte frühe Kaiserzeit von der Mitte des 1. Jh.s v. Chr. bis zur Mitte des 2. Jh.s n.Chr. in Betracht. Diese Zeit ist im Imperium Romanum alles in allem durch ein wahrnehmbares Wirtschaftswachstum und eine überregionale Verbesserung der Lebensqualität gekennzeichnet. Die Vorstellung von einer stetigen imperialen Bedrückung, einer wirtschaftlichen Ausbeutung der Provinzen und einer nahezu allgegenwärtigen Prekarisierung, wie sie noch als Grundtenor in manchen sozialgeschichtlichen Darstellungen erscheint,6 weicht zunehmend dem Bild einer zwar regional und zeitlich differenzierten, aber dennoch weiträumigen Stabilität und Prosperität in der frühen Kaiserzeit.
In welchen Wirtschaftsräumen arbeiten und leben die Christusanhängerinnen und Christusanhänger? Ein zu eng gefasster Fokus auf Judäa und Palästina ist auch hier wenig fruchtbar, so wichtig dieser zwischen Ägypten und Syrien gelegene Wirtschaftsraum und sein besonderes Gepräge für die Lebenswelt der alttestamentlichen Texte und die Lebensgeschichte Jesu in der Darstellung der Evangelien auch sein mag. Es sind die Traditionen über das Leben und Wirken Jesu, die auch den wirtschaftsgeschichtlichen Blick immer wieder auf die Lebenswelten in Judäa, Galiläa sowie auf die Städte und Dörfer Palästinas lenken.
Die Mehrzahl der neutestamentlichen Texte wird jedoch zunächst und soweit wir wissen in den Städten Syriens, Kleinasiens, Griechenlands und Makedoniens sowie in Rom geschrieben und gelesen. Die Lebenswelten dieser Städte und Regionen prägen entsprechend die Darstellungshorizonte der Texte und auch ihre Perspektiven auf die Jesustraditionen. Obwohl in diesen Traditionen kleinstädtische und ländliche Räume stark präsent sind, spielt das ländliche Hinterland der römisch-hellenistischen Städte für die Verbreitung des frühen Christentums dagegen nur eine untergeordnete Rolle.
Wirtschaftsgeschichtlich ist das städtische Umland indes von einiger Bedeutung, da es die Basis für die Lebensmittel- und Rohstoffversorgung der Städte bildete. Nicht unmittelbar prägend für die wirtschaftlichen Lebenswelten der...