VORWORT
Das Vaterunser gehört – zusammen mit der buddhistischen Zufluchtsformel oder der ersten Sure des Korans – zu den unausgeschöpften Quellen innerer Zuversicht. Was erschließt sich mir, wenn ich es im Horizont nichtchristlichen Betens und Meditierens bedenke? Vermag es auch Menschen zu inspirieren, die allem Religiösen gegenüber skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen? Man kann es ästhetisch und historisch, intellektuell und existenziell würdigen. Da es sich um einen religiösen Text handelt, wird die Frage nach der existenziellen Bedeutung im Vordergrund stehen. Unter welchen Voraussetzungen kann ich das Vaterunser für wertvoll halten, für mich nutzen? Muss ich Christ / Christin sein, um in irgendeiner Weise von ihm Gebrauch machen zu können? Ist die Annahme, es existiere tatsächlich ein »Vater im Himmel«, dafür eine unerlässliche Voraussetzung?
Veränderte Verstehens-Voraussetzungen
Zusammen mit vielen Christen und Christinnen heute glaube ich nicht im traditionellen oder gar fundamentalistischen Sinn an die »Existenz« eines göttlichen »Vaters im Himmel«. Ich glaube nicht an eine für sich bestehende »übermenschliche«, »jenseitige« Welt. Ich kann mir nur eine Wirklichkeit vorstellen, in der Diesseits und dem Diesseits Jenseitiges, Menschliches und dem Menschlichen Entzogenes zusammengehören. Wie kann ich unter diesen Voraussetzungen beten? Was tue ich da? Ich spreche, denke, fühle in Worten von Menschen, die vor mir gebetet haben, ohne dass sie an der »Existenz« des Adressaten ihrer Gebete gezweifelt haben. Ich lasse mich in das Vertrauen hineinziehen, das sich in ihren Formulierungen ausspricht. Auch das Vaterunser ist mir dabei eine Hilfe. Ist das ein unlauteres Vorgehen? Warum wähle ich das Vaterunser und nicht die erste Sure des Korans oder die buddhistische Zufluchtsformel? Unter anderem darüber will ich mir Rechenschaft geben.
Ich habe das Vaterunser erst spät entdeckt. Manche Choral-Zeile lag mir von meiner Kindheit her zunächst näher. »Wer nur den lieben Gott lässt walten ...« Oder auch: »So nimm denn meine Hände und führe mich.« Oder schlicht das »pietistische« freie Beten. In meinem Elternhaus spielte das Vaterunser keine besondere Rolle. Meine Mutter lebte mit ihrem Gesangbuch. Für meinen Vater, einen frommen fränkischen Pfarrer, war das Vaterunser wohl in erster Linie ein Element der Liturgie, die er freilich sehr ernst nahm.
Vielleicht hatte ich sogar eine Zeitlang eine Aversion gegen das Vaterunser. Schon früh störte mich der Anfang: Vater! Mit meinem leiblichen Vater verstand ich mich in der Regel sehr gut. Später wurde ich selbst Vater. Aber Gott als Vater? Als eine Art Person? Gar als »abba«, als »Papa«? Das kam und kommt für mich so schon seit langem nicht mehr infrage. »Gott will uns damit locken, dass wir glauben sollen, er sei unser rechter Vater und wir seine rechten Kinder.« So hatte Martin Luther im Kleinen Katechismus die Vaterunser-Anrede erläutert, für seine Zeit gut nachvollziehbar. Für heutige Ohren aber eine durchaus problematische Formulierung. Ich will Gott gegenüber kein Kind sein. Damit kann man mich nicht »locken«. Es stößt mich eher ab. »Kinder« Gottes werden nach dem griechischen Sprachgebrauch des Paulus als »Söhne« (ergänze: und »Töchter«) Gottes bezeichnet. Nur Johannes spricht sanft von »Kindern«, in Luthers ursprünglicher Übersetzung von »Kindlein«. Sich das »innere Kind« bewahren und insofern dann »wie die Kinder werden«, das sollte auch dem Erwachsenen möglich sein. Aber damit kann nicht gemeint sein, dass Christen ihr Leben lang in den Glaubensvorstellungen ihrer Kindheit stecken bleiben dürfen.
Irgendwie stört mich auch der Schluss des Vaterunsers, der, wenn man ihn nicht sehr mit Bedacht betet, eher übertrieben und schwülstig klingt. Ursprünglich gab es ihn so gar nicht. Er wurde erst später angefügt. Beginnt sich hier nicht bereits die vollmundige religiöse Rede zu entwickeln, wie sie dann rasch zum leeren, nichtssagenden Geplapper wird? Das Vaterunser im Gottesdienst als Zusammenfassung vorausgegangener Gebete in wenigen Atemzügen herunterzubeten, ist ohnehin eine Unsitte. Hat uns das »unser Herr Jesus Christus selbst gelehrt«? Man kann ja in der Eile wirklich nicht erfassen, was das alles heißen soll: Gottes Name, sein Reich, sein Wille ... So ist das Vaterunser noch immer ein »Märtyrer«, wie einst schon Luther kritisiert hat, ein gemarterter, malträtierter Text.
Neuer Verstehenshorizont
Doch in meiner ökumenischen Arbeit habe ich auch eine andere Seite dieses Gebets wahrgenommen. Ökumenische Kommissionen haben sich jahrzehntelang bemüht, zu einem gemeinsamen Verständnis des Glaubensbekenntnisses zu finden. Das Bekenntnis von Nizäa-Konstantinopel wurde weltweit ausgelegt und kommentiert; vielerlei wurde formuliert und dokumentiert. Auch ich habe mich daran beteiligt. Bis mir auffiel, dass es gar nicht ein Glaubensbekenntnis ist, was die Christenheit verbindet, sondern das Vaterunser. Manche Denominationen haben überhaupt kein Glaubensbekenntnis; die Ostkirchen verwenden das eben genannte Bekenntnis von Nizäa-Konstantinopel, die Westkirchen im Wesentlichen das Apostolikum. Aber überall in der Christenheit wird das Vaterunser gebetet. Weder das Herzensgebet der Ostkirche noch Ave Maria oder Rosenkranz im Katholizismus haben eine ähnliche ökumenische Bedeutung erlangt. Es ist das Gebet, das »die Welt umspannt«, wie Helmut Thielicke einst formuliert hat1, und die Weltchristenheit umspannt es ja tatsächlich. Auch die Geschichte der Christenheit hat es von Anfang an begleitet. Eine Zeitlang hat man in der Ökumene – nach einem Vorschlag von Karl Rahner – nach »Kurzformeln des Glaubens« gesucht – hier ist die »Kurzformel«. Ist sie allzu kurz? Fehlt in ihr etwas Wesentliches? Ich lasse das zunächst offen.
Doch mich interessiert noch eine andere Frage: Umspannt das Vaterunser am Ende nicht nur die Christenheit? Ist es so allgemein gehalten, dass es letztlich sogar die gesamte Menschheit umgreift?
Interreligiöser Kontext
In Zeiten von Migration und universaler Kommunikation gerät das Vaterunser in Konkurrenz mit religionsgeschichtlich ähnlich relevanten Gebetstexten. Ist es überhaupt ein christliches Gebet? Überall in den Religionen wird gebetet oder, wenn nicht gebetet, so doch meditiert. Die Nähe des christlichen Vaterunsers zum jüdischen Qaddisch und zum Achtzehngebet ist unübersehbar. Auch andere Religionen haben »ihr« Vaterunser. Man hat nicht selten die 1. Sure des Korans mit dem Vaterunser verglichen: »Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers. Lob sei Gott, dem Herrn der Welten, dem Erbarmer, dem Barmherzigen (...).« In den hinduistischen Traditionen kennt man so genannte Mantras, die sich mit dem Vaterunser vergleichen lassen; sie werden formelhaft-liturgisch auch von den einzelnen Gläubigen wiederholt. Der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler verweist auf einen klassischen buddhistischen Text, der als »buddhistisches Vaterunser« bezeichnet wurde: »Was immer es für Lebewesen gibt, alle ohne Ausnahme, seien sie beweglich oder unbeweglich, lang oder kurz, groß oder klein, fein oder grob, sichtbar oder unsichtbar, fern oder nah, schon geboren oder erst nach der Geburt strebend – alle Wesen seien beglückten Herzens.«2 Sollte sich am Vaterunser Neues erschließen, wenn man es im Kontext nichtchristlichen Betens versteht? Wie liest ein Hindu das Vaterunser? Wie ergeht es damit einem Buddhisten? Der Dalai Lama hat immerhin zu einzelnen Gedanken des Vaterunsers Stellung genommen. Stimmen zur Reaktion von Muslimen auf den Vaterunser-Text finden sich z.B. im Internet. Welche Entdeckungen sind hier zu machen? Stört das Vaterunser die Ökumene der Religionen oder trägt es zur Einheit der Menschheit bei?
Areligiöse Rahmenbedingungen
Doch weitaus nicht alle Menschen beten. Zunehmend mehr Menschen auf unserem Globus halten das Gebet für eine menschheitsgeschichtlich überholte Angelegenheit, die, wenn man an ihr festhielte, vom eigentlichen Leben abhalten würde. Beten ist für sie kein Thema mehr. Was die in einem religiösen Text vorkommenden Begriffe bedeuten könnten, interessiert sie nicht. Humorvolle Paraphrasen ziehen das Vaterunser ins Lächerliche. Mitunter ist in solchen Umformulierungen auch bittere Enttäuschung zu spüren. Bei Ernest Hemingway findet sich als eine ferne Erinnerung an das Vaterunser das »Gebet«: »Nada unser, der du bist im nada, nada sei dein Name, dein Reich nada (...).«3 Kann das Vaterunser einem Agnostiker oder Atheisten, einem Verlassenen oder Verzweifelten (wie dem von Hemingway beschriebenen »Gast« in einem »sauberen, gutbeleuchteten Café«) etwas bedeuten, obwohl er nicht an »Gott« glaubt? Ich habe an anderer Stelle den Versuch unternommen, einen Vaterunser-Text zu formulieren, der Sinn machen könnte auch ohne einen expliziten Glauben an Gott. Die Zahl derjenigen Menschen scheint zu wachsen, die unter dem Eindruck von Technisierung und Säkularisation jedenfalls im traditionellen Sinn nicht (mehr) beten, obwohl sich ihnen vielleicht ein stummer, unadressierter Hilfeschrei in Herz und Mund drängen mag. Auf den Wortlaut des Herrengebets hin sind sie zunächst kaum noch ansprechbar. Ist das Vaterunser ein Text, der ihnen vielleicht auch unter areligiöser oder mindestens agnostischer Perspektive etwas zu sagen hätte? Sollte dies der Fall sein, was hätte es für ein erweitertes christliches Verständnis zu bedeuten?
Chor der Kommentare
Beim Blick in mein Bücherregal bin ich überrascht davon, wie viele Auslegungen des Vaterunsers sich da bereits angesammelt...