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Ist Integration möglich?
»Ich wünschte, ich wäre tot«
Was haben Jesus und der Dalai Lama, ein Flüchtlingsmädchen aus dem Iran, die prominente US-amerikanische Computerlegende Steve Jobs, Theresia aus Ungarn, Helene Fischer und Peter Maffay, was haben gerettete Boat People aus Vietnam und Gastarbeiter in Deutschland, der badische Revolutionär Carl Schurz und Papst Franziskus gemeinsam? Sie alle sind (oder waren) Flüchtlinge oder Kinder von Heimatvertriebenen oder Auswanderern. Hier sind ihre besonderen Schicksale und Lebensgeschichten. Wichtig ist auch das Schicksal ganzer Gruppen: Die 11.340 Boat People, die wir vor 35 Jahren in Deutschland aufgenommen haben, leisten in diesen Monaten besonders engagiert Willkommensarbeit für die jetzt ankommenden Flüchtlinge. Aus Hilfe suchenden Vietnamesen sind gute Deutsche geworden.
Täglich verdursten in der Sahara Flüchtlinge, viele ertrinken im Mittelmeer oder ersticken in einem mit 71 Menschen vollgestopften LKW in Österreich. Sie erleben seit Jahren Bombenhagel in Syrien oder im Irak. Frauen werden vergewaltigt. Kinder kommen ohne Eltern nach Deutschland. Familien werden auseinandergerissen. Babies weinen neben ihren verzweifelten Eltern, die vor geschlossenen Grenzen nicht weiterkommen und zusammenbrechen. Mitten in Europa. 2015 und 2016. Viele Menschen haben es einfach satt, immer hungrig ins Bett zu gehen. Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, haben ein Trauma, aber auch einen Traum vom Leben. Bisweilen einen Traum vom Paradies in Europa. Und was tun wir Europäer für die Schmuddelkinder unserer Zeit?
Was haben sie erlebt, diese Schmuddelkinder, bevor sie zu uns kommen? Dem Nahostkorrespondenten Karim El-Gawhary erzählt die Syrerin Soha von ihrer Flucht mit vier Kindern über das Mittelmeer: Ihr Boot war mit 160 Flüchtlingen an Bord gesunken. Soha trug als einzige eine Schwimmweste. »Ihre vier Töchter im Alter zwischen drei und elf Jahren klammerten sich panisch an die Mutter. Die Gruppe drohte unterzugehen, weil die Schwimmweste das Gewicht von fünf Menschen nicht über Wasser halten konnte. Soha war in einer Lage, die sich keine Mutter der Welt vorstellen will. Damit sie nicht alle ertranken, musste sie entscheiden, welches ihrer Kinder sie loslässt. Doch Soha wollte und konnte sich nicht entscheiden, strampelte, um über Wasser zu bleiben, und wartete ab, was als Nächstes geschehen würde. Als erstes ließ die dreijährige Haya sie los, die für immer in den Fluten abtauchte. Dann folgten Sama und Julia in die Tiefe des nächtlichen Meeres. Sechs Stunden später wurde Soha mit ihrer ältesten Tochter Sarah von der ägyptischen Küstenwache aus dem Wasser geborgen. So kam es, dass sie diese Geschichte überhaupt noch erzählen konnte.« Der Journalist Karim El-Gawhary fügt diesem erschütternden Schicksal noch diesen Satz an: »Es gibt viele Sohas, von denen wir nie hören werden.«
Man hört als Journalist solche Geschichten, und ertappt sich beim Gedanken, dass das für ein menschliches Herz und für einen menschlichen Verstand alles zu viel ist. Als ich nach dem zweiten Weihnachtstag 2004 am Indischen Ozean für die ARD über die 230.000 Opfer des Tsunami berichtete, ging es mir genauso. Ich interviewte einen Bischof, der während unseres Gesprächs erfuhr, dass kein einziger aus seiner großen Verwandtschaft den Tsunami überlebt hatte. Es war die Hölle. So auch jetzt.
Viele Flüchtlingsfrauen, die zu uns kommen, wurden zuvor verschleppt, verkauft und vergewaltigt. Dem Reporter El-Gawhary erzählt eine jesidische Frau, die von IS-Schergen traktiert und traumatisiert wurde: »Ich wünschte, ich wäre tot.« Amscha war eine der wenigen Jesidinnen im Irak, die den IS-Terror wenigstens überlebt hatte. Aber wie?
»Mein Kind, und die Tatsache, dass ich ein weiteres im Bauch habe, sind der einzige Grund, warum ich mich noch nicht aufgehängt habe, denn ohne mich könnten die Kinder nicht weiterleben.« Total traumatisiert und nahezu gefühllos erzählt die Mutter über die Islamisten: »Sie haben die Männer, die über 14 Jahre alt waren, vom Rest der Gruppe getrennt und haben ihnen einem nach dem anderen vor unseren Augen in den Kopf geschossen, darunter auch meinem Mann, meinem Bruder, unserem Vater und dem Onkel. Ich weiß nicht mehr, wie viele es waren, aber ich erinnere mich an das Bild, als sie alle in ihrer Blutlache auf dem Boden lagen.«
Amscha, ihre Tochter, ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerin galten anschließend als legitime Beute der Dschihadisten in ihrem »Kampf gegen die Ungläubigen«. Sie wurden wie Vieh auf dem Markt feilgeboten und je nach Alter und Schönheit für sechs bis zwölf Euro verkauft. Auf abenteuerliche Weise und mit Hilfe eines mutigen alten Mannes gelang Amscha die Flucht aus der IS-Gefangenschaft. Und wieder frage ich mich, ob sich neonazistische Ausländerfeinde in Deutschland für solche Schicksale überhaupt interessieren.
Erster November 2015: Allerheiligentag. In Berlin treffen sich die Spitzenpolitiker der Großen Koalition, Angela Merkel, Sigmar Gabriel, Horst Seehofer, und ihre engsten Mitarbeiter zum Flüchtlingsgipfel. Selbst wenn in dieser Runde alle Heilige wären, würde es ihnen an diesem Allerheiligenfest schwerfallen, eine befriedigende Einigung zu finden.
Jeden Tag kommen im Herbst 2015 10.000 neue Flüchtlinge über die deutschen Grenzen. Wie viele kommen noch? Wie lange geht das so weiter? Wie sollen wir sie unterbringen oder gar integrieren? Setzen wir weiterhin auf Willkommenskultur? Aufnahme oder Abwehr? Wie viel Abwehr? Wie viel Aufnahme? Obergrenzen oder Kontingente? Transitzonen an den Grenzen, wie die Union es fordert, oder doch Einreisezentren innerhalb des Landes, wie sie die SPD vorschlägt, und was ist der tatsächliche Unterschied? Vier Tage später einigen sich die Koalitionäre in einem typisch politischen Kompromiss und nennen die Sammelstellen für die Registrierung von Flüchtlingen mit geringen Bleibechancen jetzt »Registrierzentren«.
© Aggeliki Koronaiou/Demotix/Corbis
Die größte Herausforderung
Die Flüchtlingskrise, so schreibt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung, »ist eine Herausforderung, wie sie Deutschland seit der Wiedervereinigung nicht mehr zu bestehen hatte. Vielleicht ist die Herausforderung noch größer, weil sie noch mehr Ungewissheiten in sich birgt; es gibt kein Vorbild dafür, wie man es machen könnte, und es gibt, anders als damals, nicht nur einen Streit über den richtigen Weg, sondern einen über das richtige Ziel. Es gibt aber immerhin eine Kanzlerin, die bisher in der Flüchtlingskrise fast so fest steht wie Helmut Kohl im Jahr 1989.«
Vor diesem Gipfel hatte SPD-Chef Sigmar Gabriel gesagt, Deutschland nähere sich »mit rasanter Geschwindigkeit den Grenzen seiner Möglichkeiten«. Die radikalste Abwehrsprache innerhalb der Großen Koalition spricht seit Wochen der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer. Er propagiert «Grenzzäune«, »Notmaßnahmen« und »Obergrenzen« – obwohl all diese Vorschläge dem Buchstaben und erst recht dem Geist unseres Grundgesetzes widersprechen. Wieder einmal übersetzt der CSU-Chef das C im Namen seiner Partei mit »konservativ« anstatt mit »christlich«. Aber er erhält bei Umfragen mehr Zuspruch als die Kanzlerin mit ihrem Leitspruch: »Wir schaffen das.«
In entscheidenden Krisen hatte Deutschland nach 1945 Glück mit seinem politischen Spitzenpersonal: mit Konrad Adenauer und seiner Westpolitik in den Fünfzigern, mit Ludwig Erhardt als Wirtschaftsminister beim Neubeginn, mit Willy Brandt und seiner Ostpolitik in den Siebzigern, mit Helmut Kohl und seiner Wiedervereinigungs- und Europapolitik in den Neunzigern und nun mit Angela Merkel und ihrer humanen Flüchtlingspolitik 2015.
Klartext spricht an diesem Allerheiligentag ein namhafter Ökonom: Marcel Fratzscher als Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin: »Wenn man die letzten 70 Jahre zurückschaut, könnte es eigentlich keinen besseren Zeitpunkt geben, um mit der Herausforderung der Flüchtlingskrise umzugehen.«
Die öffentlichen Haushalte haben riesige Reserven wie noch nie. Fratzscher: »Wir rechnen mit 15 Milliarden Euro Überschüssen für 2016, obwohl dort schon knapp 15 Milliarden für Flüchtlinge berücksichtigt sind. Finanzminister Wolfgang Schäuble wird sowohl 2015 wie auch 2016 die schwarze Null schaffen.« Schäuble hatte schon zuvor voll menschlicher Empathie erklärt: »Was soll das Ziel einer schwarzen Null, wenn gleichzeitig Flüchtlingskinder verhungern?«
DIW-Chef Marcel Fratzscher wirft Teilen der Politik vor, mit den Ängsten der Menschen um einen Verteilungskampf zu spielen. So zum Beispiel, wenn behauptet werde, wegen der Ausgaben für Flüchtlinge müssten die Renten oder andere Sozialleistungen gekürzt werden. Richtig sei das Gegenteil: 2016 werden die Renten um circa fünf Prozent steigen, so stark wie schon lange nicht mehr. Mitte November 2015 prognostiziert die Bundesregierung eine Steigerung der Renten bis 2029 um 39 Prozent. Dabei steigen die Ost-Renten höher als die West-Renten.
Die Ausgaben für Flüchtlinge seien »Investitionen in eine gute Zukunft für uns alle«, sagt Marcel Fratzscher – ähnlich wie zum Beispiel Investitionen in frühkindliche Bildung. Das Geld komme Jahre später wieder zurück, wenn die Kinder berufstätig sind und über die Steuern mehr als die Summe der früheren Aufwendungen zurückbezahlten.
Auch das Argument, dass Flüchtlinge den Deutschen Jobs wegnehmen, sei falsch: »Der Arbeitsmarkt in Deutschland läuft hervorragend.« Die Arbeitslosenquote ist so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht mehr. »Wir haben 600.000 offene...